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# taz.de -- Goldener Ehrenbär der Berlinale: Perfekter Kamerawirbel
> Michael Ballhaus wird für sein Lebenswerk geehrt. Er war Kameramann bei
> Rainer Werner Fassbinder, Martin Scorsese und Wolfgang Petersen.
Bild: Der Ehrenbär für sein Lebenswerk geht an den Kameramann Michael Ballhau…
Eine Frau, ein Mann, dazwischen: Der mit Schotter bedeckte Boden des
Innenhofs der deutschen Botschaft in Rom. Kaum laufen die beiden
aufeinander zu, kommt Bewegung ins bis dahin ruhige Bild. In perfekter
Kreisfahrt umwirbelt die Kamera die beiden, die sich im Mittelpunkt des
Zirkels zusätzlich umkreisen und sich überdies noch um die eigene Achse
drehen: Ein perfekt choreografiertes, Schwindel erregendes Bild.
Man solle wissen, sagt der Kameramann später einmal, dass mit den beiden in
diesem Moment etwas geschehen ist. Sie verlieben sich, könnte man meinen.
Rainer Werner Fassbinders „Martha” (1974) aber schildert mit kalter Akribie
im umkreisenden Bannblick der Kamera die Mechanismen einer missbräuchlichen
Beziehung.
Auch der Arrangeur des komplexen Tanzes unterliegt dem Kairos: Die mit
einem Circle Dolly bewerkstelligte 360-Grad-Fahrt bildet fortan eine Art
Signatur des Kameramanns Michael Ballhaus, der spätestens mit dieser
Einstellung Auteur eigenen Rechts ist. Wie namhaft die Regisseure immer
auch sind, mit denen er im folgenden arbeiten wird – ein von Ballhaus
geschossener Film ist eben immer auch ein Ballhaus-Film.
Auch aus diesem Grund zog es Ballhaus im großen Talente-Exodus um 1980 aus
der alten, unbeweglichen BRD in die USA: Im Gegensatz zum deutschen
Kameramann, der im wesentlichen Anweisungen folgt, stehen dem „Director of
Photography” in den USA ein höheres Maß an Arbeitsautonomie und größere
Gestaltungsspielräume zur Verfügung, unterstreicht Ballhaus.
## Die mobilisierte Kamera
Die mobilisierte Kamera bildet ein zentrales Merkmal der typischen
Ballhaus-Ästhetik: Unter Ballhaus’ Einfluss löste sich Fassbinder von
seiner starren, am Theater orientierten Form und ließ sich zusehends von
dezidiert filmischen Gestaltungsweisen mitreißen.
Statischere Filmkonzeptionen siedeln für Ballhaus in der Nähe zum
„Foto-Vortrag”. Folgerichtig lautet der Titel seines schönen
Gesprächsbandes mit Tom Tykwer aus dem Jahr 2002 denn auch „Das Fliegende
Auge”.
Die bewegte Kamera ist eine selbstbewusste Kamera. Während statische
Einstellungen vor allem gut montierbares Auswahlmaterial für den
Schneideraum darstellen, leistet der Flow bewegter Kameraeinstellungen
erheblich mehr Widerstand gegenüber solchen Verfügungen. Trifft dann noch
Virtuose auf Virtuose, entsteht dann mitunter schier Atemberaubendes.
Bestes Beispiel: Die rund erste Viertelstunde von „The Color of Money”
(1986), ein Billard-Drama mit Paul Newman und Tom Cruise, die zweite
Zusammenarbeit zwischen Ballhaus und Martin Scorsese, neben Fassbinder der
zweite große Fixstern in Ballhaus’ Schaffen.
Man achte darauf, wie hochkonzentriert und sogartig die anschmiegsame,
wendige, das Geschehen immer wieder neu strukturierende Kamera sucht,
findet, dramatisiert und kontextualisiert und welches Bündnis sie dabei mit
Regie und Montage eingeht. Den üblichen Regeln folgt in dieser Inszenierung
nichts - jede Einstellung, jede Bewegung ist eine vorab bewusst getroffene,
ästhetische Entscheidung.
## Die Zusammenarbeit zwischen Ballhaus und Scorsese
Geradezu barocke Züge nahm sich die Zusammenarbeit zwischen Ballhaus und
Scorsese im Mafiadrama „Goodfellas” an, das inszenatorisch vor allem wegen
einer absolut umwerfenden Plansequenz und einer langgedehnten, am
Hitchcock’schen „Vertigo”-Effekt angelehnten Einstellung in den Grundkanon
für jeden angehenden Kameramann mit Aspirationen eingegangen ist.
Das dafür nötige Handwerk wurde mühsam gelernt, wie der Meister in
Interviews gern mit einer Anekdote illustriert: So kamen die Schauspieler
des in den 60er Jahren noch live übertragenen Fernsehspiels, bei dem der
junge Ballhaus einst in Lehre ging, seiner suchenden Kamera gerne mal
abhanden. Lakonischer Funk-Kommentar der Bildregie: „Mach Dir nichts draus,
die kommen wieder.”
Vielleicht rührt Ballhaus’ Ehrgeiz, die Darsteller mit seiner kreisenden
Kamera geradezu zu umzingeln und zu fixieren, ja auch von solchen
Erlebnissen her: Abhanden kommen soll ihm keiner einziger mehr. Auch in der
diffizilen Kunst des timing-sensiblen Dialogschwenks erreichte Ballhaus bei
Fassbinder wahre Meisterschaft.
Die Kamera müsse dem Publikum etwas über die dargestellten Figuren
vermitteln, was die Schauspieler im Dialog allein noch nicht
transportieren, lautet Ballhaus’ Selbstverständnis, dem eine anschmiegsame
Beobachtungsgabe für die Facetten der Physiognomien der von ihm gefilmten
Darsteller folgt: Stets aufs Neue verliebt sich seine Kamera in sie und
damit auch der Blick des Publikums.
## Beneidenswert geglückter Lebenslauf
Diese Sensibilität kommt nicht von ungefähr: Aufgewachsen im Theater seiner
Eltern im Unterfränkischen, lernte Ballhaus die Grundlagen seines Handwerks
als Still-Fotograf für den elterlichen Betrieb. Wie das Kino selbst über
Theater und Fotografie zu sich kam, landete somit auch Ballhaus in einem
beinahe schon beneidenswert geglückten Lebenslauf beim Film.
Ausschlaggebend war allerdings ein Besuch am Set von Max Ophüls’ „Lola
Montez” (1955), wo die hektische Betriebksamkeit, die Professionalität der
Arbeitsabläufe und ein Schuss künstlerischer Exzentrik des Regisseurs dem
Achtzehnjährigen schwer imponierte. Das Abitur schmiss der Heranwachsende,
er wollte, über den Umweg des Fernsehens, nur noch zum Film.
Neben seiner Tätigkeit als Dozent im legendären Gründungsjahrgang 1966 der
Berliner Filmhochschule dffb, wo ihn unter anderem die Studenten Holger
Meins, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky und Wolfgang Petersen durch
hartnäckiges Nachfragen lehrten, als unumstößlich erachtete Regeln des
Inszenierens in Frage zu stellen, bildeten die zwar produktiven, aber
auszehrenden Jahre bei Fassbinder ab 1971 Ballhaus’ wertvollste Lehrzeit.
Als Scorsese ihn aus einem Karrieretief heraus darum bat, bei der niedrig
budgetierten Komödie „After Hours” (1985) einzusteigen, war vor allem
Ballhaus’ arbeitsökonomisches Geschick gefragt: Budget und Drehplan
erforderten ein Pensum von täglich 16 Einstellungen - fünf pro Drehtag
wären üblich. Ballhaus, durch die strapaziöse Fassbinder-Schule gegangen,
lieferte. Und rettete damit nicht nur Scorseses Karriere, sondern
begründete auch seinen eigenen Ruf in der US-Branche als ästhetisch
anspruchsvoller, aber haushaltender Kameramann.
## Nur der Oscar blieb ihm verwehrt
Nur der Oscar blieb ihm verwehrt. Die letzte von insgesamt drei
Nominierungen blieb 2003 erfolglos, als Ballhaus mit Scorseses wuchtigem
Historienepos „Gangs of New York” ins Rennen zog. Der Preis ging an Conrad
L. Hall für „Road to Perdition”. Wohl eine bloße Tributgeste: Hall war ku…
vor der Verleihung verstorben.
Für Ballhaus bleibt damit allenfalls noch die schmale Hoffnung auf einen
Ehrenoscar: Nicht zuletzt wegen der schleichenden Erblindung in Folge eines
Grauen Stars hat sich der mittlerweile wieder in Berlin-Zehlendorf lebende
Kamerameister, der im vergangenen Jahr seinen 80. Geburtstag feiern konnte,
aus dem Arbeitsleben zurückgezogen.
Der Goldene Ehrenbär der Berlinale samt einer zehn Filme umfassenden
Hommage mag keinen adäquaten Ersatz bieten. Eine schöne und verdiente
Würdigung eines die interessanteren Facetten des westlichen Kinos der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägenden Werks stellt diese Geste
indes ohne Zweifel dar.
13 Feb 2016
## AUTOREN
Thomas Groh
## TAGS
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