# taz.de -- Nach den Schüssen auf Zeugen Jehovas: Die Waffen nieder? | |
> Nach den tödlichen Schüssen auf Zeugen Jehovas in Hamburg wird übers | |
> Waffenrecht diskutiert. Die Fronten sind verhärtet – mal wieder. | |
Bild: Auch am Tatort in Hamburg fordern Trauernde eine Verschärfung des Waffen… | |
HAMBURG taz | Die Werbung prangt gleich auf der Startseite des Hanseatic | |
Gun Club. „Der Weg zur eigenen Waffe ist nicht so dornenreich, wie es | |
anfänglich scheinen mag“, wirbt der Schützenverein, der unweit der | |
Hamburger Binnenalster liegt. Natürlich sei auch „ein hohes Maß an | |
persönlicher Integrität“ nötig. Im Club aber könne man „in seriösestem | |
Umfeld diskret den Umgang mit Großkaliber-Kurzwaffen erlernen oder | |
professionalisieren“. | |
Die Werbung klingt heute schal. Denn bis vor gut einer Woche war im | |
Hanseatic Gun Club auch ein 35-jähriger Hamburger aktiv, der vorgab, nur | |
drei Gehminuten entfernt als Unternehmensberater zu arbeiten: Philipp F. | |
Der Mann, der [1][in einer lokalen Gemeinde der Zeugen Jehovas sieben | |
Menschen erschoss und danach sich selbst]. Der bis vor anderthalb Jahren | |
selbst zur Gemeinde gehörte – und seit Dezember als Sportschütze legaler | |
Waffenbesitzer einer Pistole war, einer halbautomatischen Heckler&Koch P30. | |
Nun wird wieder über das Waffenrecht gestritten. Bundesinnenministerin | |
Nancy Faeser (SPD) [2][pocht auf einen Gesetzentwurf für eine | |
Verschärfung], den sie schon im Januar vorlegte – und den die FDP bis heute | |
blockiert. Auch SPD und Grüne sind dafür, Hamburgs Innensenator Andy Grote | |
(SPD) ebenso. Schützenverbände dagegen laufen Sturm. | |
## In seinem Buch sinnierte Philipp F. über Gott und Hitler | |
Tatsächlich müssen sich der Hanseatic Gun Club und Hamburgs Waffenbehörde | |
einige Fragen stellen lassen. 2021 hatte sich Philipp F. in dem | |
Schießverein registriert, im Dezember 2022 dann hatte ihm die Hamburger | |
Waffenbehörde [3][seine Pistole genehmigt]. Schon im Januar warnte indes | |
ein anonymer Hinweisgeber die Waffenbehörde, F. sei wohl psychisch krank | |
und habe eine „besondere Wut“ auf die Zeugen Jehovas und seinen früheren | |
Arbeitgeber. Die Waffenbehörde schickte darauf zwei Beamte zu einer | |
unangemeldeten Kontrolle – die außer einer herumliegenden Patrone aber | |
nichts beanstandeten. | |
Da jedoch hatte Philipp F. bereits ein wirres Buch auf Amazon | |
veröffentlicht, knapp 300 Seiten, wo er über „Gott, Jesus und Satan“ | |
sinnierte, über Hitler und Putin oder Massenmord im Auftrag Gottes. Laut | |
Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer fand die Waffenbehörde das Buch | |
aber trotz Hinweis des Tippgebers und Google-Suche nicht – [4][was der | |
Behörde heftige Kritik einbrachte]. | |
Beim Hanseatic Gun Club taucht man derweil ab. Nach Philipp F. gefragt sagt | |
Geschäftsführer Alfred Reinecke, Anwalt für Waffenrecht und selbst Jäger | |
und Sportschütze, immer wieder nur „kein Kommentar“ und am Schluss „Danke | |
für Ihre Fragen!“. Dabei wäre es durchaus relevant, ob F. nicht auch in dem | |
Club Auffälligkeiten zeigte und ob er dort Kontakte pflegte wie in einem | |
herkömmlichen Schützenverein, wodurch ein Mindestmaß an sozialer Kontrolle | |
entsteht. Der kommerzielle Hanseatic Gun Club, eine Mischform aus Verein | |
und GmbH, ermöglicht indes gegen Gebühr auch anonymes Schießen, auch für | |
Nicht-Mitglieder ohne Waffenschein. | |
Dabei galt zumindest die Hamburger Waffenbehörde mal als Vorreiter. In den | |
Nullerjahren hatte der Stadtstaat die waffenrechtlichen Aufgaben aus 19 | |
Polizeidienststellen zu einer Behörde fusioniert. Deren | |
Mitarbeiter:innen – auf derzeit 26 Stellen – haben Waffenkunde in der | |
Polizeiausbildung gelernt und machen nichts anderes, als sich von früh bis | |
spät mit Waffen zu befassen. | |
„Damals waren die bundesweit Spitze“, sagt der Hamburger | |
Waffensachverständige und Journalist Lars Winkelsdorf, der 2009 einen | |
Vergleich der damals bundesweit 570 Waffenbehörden anstellte. | |
Vize-Behördenchef Niels Heinrich habe etwa die Waffennachweisdatei WANDA | |
geschaffen und schon im Regelbetrieb mehr Waffen aus dem Verkehr gezogen, | |
als das Amnestien später konnten. Doch Heinrich wechselte 2012 ins | |
Bundesinnenministerium, um das Nationale Waffenregister aufzubauen. | |
„Seitdem bröckelt es“, sagt Winkelsdorf. Die Behörde mache heute Fehler, | |
die sie früher nicht gemacht hätte. Vor allem digital sei sie | |
unterbelichtet. „Für die ist dies Internet so ein neues Ding.“ Auch | |
Winkelsdorf hat kein Verständnis dafür, dass die Beamten das Buch von | |
Philipp F. bei ihren Recherchen nicht fanden. | |
Bei vielen der anderen 537 Waffenbehörden in Deutschland sieht es nicht | |
besser aus. Oft sind sie bei Kreisverwaltungen angesiedelt, die eine | |
Vielzahl weiterer Aufgaben haben. Sie müssen sich um die bundesweit 946.495 | |
Privatleute kümmern, die derzeit gut 5 Millionen registrierte Waffen | |
besitzen – zumeist Jäger oder Sportschützen. Das sind auch viele der | |
Kontrolleure: In ländlichen Regionen muss im Landratsamt meist der Kollege | |
ran, der überhaupt etwas von Waffen versteht. Der kennt seine Kundschaft | |
dann häufig gut, manchmal auch zu gut, um ihr streng auf die Finger zu | |
schauen. Von polizeilichen Gefahreneinschätzungen hat er nicht zwingend | |
Ahnung. | |
## Nur 216 Waffenkontrollen im Jahr 2022 in Hamburg | |
Wie löchrig die Kontrollen ausfallen, zeigen schon die Zahlen. So zählt | |
Hamburg 8.145 Waffenbesitzende mit 37.830 Waffen – bei denen im vergangenen | |
Jahr gerade mal 216 Kontrollen durchgeführt wurden. 2020 waren es noch 665, | |
dazwischen kamen die Kontrollen wegen der Coronapandemie ganz zum Erliegen. | |
Dass eine Kontrolle im Fall Philipp F. erfolgte, ist also schon | |
bemerkenswert. | |
Kay Ruge, Vizegeschäftsführer des Deutschen Landkreistags, beklagt, dass | |
auch bundesweit nach seinen Rückmeldungen die Waffenbehörden „derzeit sehr | |
belastet“ seien. Die Folgen sind fatal: So besaßen Ende 2021 selbst 1.561 | |
Rechtsextremisten und rund 500 Reichsbürger laut Bundesinnenministerium | |
noch waffenrechtliche Erlaubnisse. Hamburgs Polizeipräsident Meyer wird | |
dieser Tage nicht müde zu betonen, dass Waffenentzüge rechtlich enge | |
Grenzen haben und konkreter Hinweise auf eine Unzuverlässigkeit bedürfen. | |
Auch deshalb will Faeser nun ihre Gesetzesverschärfung, die selbst | |
CSU-Innenminister Horst Seehofer schon anstrebte, der letztlich an der | |
eigenen Fraktion scheiterte. Faeser pocht nun auf eine generelle Pflicht, | |
bei Anträgen auf Waffenerlaubnisse ein ärztliches oder psychologisches | |
Zeugnis vorzulegen – bisher gilt dies nur für Unter-25-Jährige. Zudem | |
sollen sich die Waffenbehörden nun auch mit Gesundheitsämtern austauschen | |
und „kriegswaffenähnliche“ halbautomatische Feuerwaffen verboten werden. | |
Es wäre nicht die erste Verschärfung. Seit dem Amoklauf in Erfurt 2002 | |
wurden das Mindestalter für den Schusswaffenerwerb auf 18 Jahre angehoben, | |
Auflagen für Aufbewahrungen erteilt, unangemeldete Kontrollen eingeführt | |
oder Abfragen beim Verfassungsschutz. Heute gilt das deutsche Waffenrecht | |
europaweit als eines der strengsten. | |
## Schützenverbände vehement gegen schärferes Gesetz | |
Jede Verschärfung war begleitet vom Protest von Schützen- und | |
Jagdverbänden. Wie auch jetzt. „Es ist nicht angemessen, rechtstreue | |
Besitzer legaler Waffen für die Untaten von Verrückten und Verbrechern in | |
Mithaftung zu nehmen“, beklagt sich Friedrich Gepperth, Präsident des Bund | |
Deutscher Sportschützen. Die Tat in Hamburg wäre auch mit der geltenden | |
Gesetzeslage zu verhindern gewesen – wenn die Waffenbehörde nach dem | |
Hinweis sofort den Schießclub und einen Psychologen eingeschaltet hätte. | |
Und mit seinem Hass auf die Zeugen Jehovas hätte Philipp F. seine Tat wohl | |
auch mit anderen Mitteln begangen, glaubt Gepperth. Nicht viel anders | |
klingt das dieser Tage bei der FDP: Auch dort sieht man ein | |
„Vollzugsproblem“, keines im Gesetz. | |
In Hamburg hätte Faesers Plan aber zumindest in einem Punkt helfen können: | |
Wenn Philipp F. für seinen Waffenantrag ein psychologisches Gutachten hätte | |
einholen müssen. Hier zeigt sich auch die Gewerkschaft der Polizei offen. | |
„Was spricht dagegen, im Waffenrecht die Prüfung der psychischen Gesundheit | |
künftiger und jetziger Waffenbesitzer intensiver unter die Lupe zu | |
nehmen?“, fragt deren Vorsitzender Jochen Kopelke. Auch sei ein | |
Behördenaustausch sinnvoll – ebenso wie die Idee, Waffen nicht mehr privat, | |
sondern in den Vereinen zu lagern. Hier wiederum wendet die FDP ein, dass | |
das zentrale Waffenlager schaffen würden, die auch ein Risiko seien. | |
Auch Kay Ruge vom Landkreistag zeigt sich indes offen für ein schärferes | |
Waffenrecht. Verbote besonders gefährlicher Waffen etwa seien richtig, sagt | |
er der taz. Standardmäßige psychologische Gutachten dagegen sehe er | |
kritisch. Diese seien nur eine „Momentaufnahme“ und schon heute würden | |
Waffenbesitzende eingehend geprüft. Es gelte bei allen Plänen „stärker auf | |
die tatsächliche Umsetzbarkeit für die Waffenbehörden vor Ort“ zu achten, | |
fordert Ruge. „Jedem muss klar sein, dass erneut verstärkte Prüfungen | |
natürlich auch mehr Personal erfordern.“ Das Problem: Auch die FDP und ihr | |
Bundesfinanzminister haben hier bisher keine Gelder für die Waffenbehörden | |
versprochen. | |
Die Grünen wollen dagegen laut jüngsten Wahlprogramm sogar die | |
Verfügbarkeit von tödlichen Schusswaffen gänzlich „schrittweise beenden“, | |
außer für Jäger:innen. Im Sport solle auf „nichttödliche Schusswaffen“ | |
umgestellt werden. Auch das lehnen die Schützenvereine vehement ab. „Das | |
wäre das Endes des Schießsports“, empört sich Lobbyist Gepperth. Und so tut | |
sich vorerst absehbar nichts. | |
Bliebe, dass im Fall Hamburg die Waffenbehörde auch so womöglich acht Tote | |
hätte verhindern können: mit einer ordentlichen Internetrecherche. Hätte | |
man das Buch von Philipp F. gefunden, räumt Polizeipräsident Meyer ein, | |
wäre ein Gutachten zu dessen psychischer Verfassung möglich gewesen – und | |
am Ende womöglich ein Waffenentzug. | |
19 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Jan Kahlcke | |
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