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# taz.de -- Wohlstand für die ganze Welt: Kann Wachstum klimagerecht sein?
> Für den größten Teil der Welt ist Degrowth keine Perspektive. Wie können
> Klimaschutz und Entwicklung zusammengehen? Eine Analyse in fünf
> Schritten.
Bild: Gerechtes Wachstum für alle ist möglich. Gerade sind wir aber noch weit…
Die Klimakrise kann verheerende Folgen haben, diese Erkenntnis ist in
Deutschland mittlerweile in der Mehrheitsgesellschaft angekommen. Und
politische Fragestellungen, die über viele Jahre ein Nischendasein
fristeten, haben jetzt den Sprung in die große Öffentlichkeit geschafft,
etwa: Muss die Wirtschaft angesichts der Klimakrise schrumpfen? Die
[1][Degrowth- oder Postwachstums-Bewegung] proklamiert: Grünes Wachstum
gibt es nicht – wir müssen weniger konsumieren, weniger produzieren,
weniger emittieren.
Doch die Forderung nach einem Ende des Wachstums hat oft eine Leerstelle:
Ihr fehlt die globale Perspektive. Grün schrumpfen oder grün wachsen, das
wird in Deutschland für Deutschland diskutiert oder [2][in den USA für die
USA]. Die Klimakrise aber schert sich nicht um nationale Grenzen. Das
CO2-Budget kann man zwar auf einzelne Länder herunterrechnen, letztlich
gibt es nur ein einziges: für die ganze Welt.
Kaum jemand bestreitet noch, dass die globalen Treibhausgasemissionen
sinken müssen, und zwar stärker, als es die bisherigen politischen
Maßnahmen bereits bewirken. Aktuell ist eine Erderhitzung um
[3][durchschnittlich 2,7 Grad wahrscheinlich]. Das ist zwar besser als die
mehr als 4 Grad, um die sich die Erde ganz ohne Klimaschutzpolitik erhitzen
würde, aber es ist immer noch ein Szenario, in dem Milliarden Menschen
unter Dürren, Fluten, Hitzewellen und Hungersnöten leiden werden.
Für einen großen Teil der Welt sind Hunger und Armut dabei nicht nur
mögliche Zukunftsszenarien, sondern die bittere Gegenwart. Länder wie
Deutschland oder die USA, mit einer [4][hohen Wirtschaftsleistung] und
einem [5][hohen CO2-Ausstoß], bilden global gesehen die Ausnahme. Die
allermeisten Staaten auf der Welt sind ärmer, sie produzieren weniger – und
emittieren weniger.
Was bedeutet es also für die Welt, wenn grünes Schrumpfen gefordert wird,
weil grünes Wachstum nicht möglich sei? Was bedeutet eine solche Forderung
für ein Land wie Gabun, in dem das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf seit 1990
[6][um mehr als 20 Prozent gefallen ist]?
Was bedeutet sie für ein Land wie Laos, wo sich die Wirtschaftsleistung pro
Kopf [7][seit 1990 vervierfacht hat], aber die Emissionen pro Kopf im
selben Zeitraum [8][auf das 23-Fache angewachsen] sind? Gibt es für Länder,
die bisher kaum zur Klimakrise beigetragen haben, ein Recht auf
wirtschaftliche Entwicklung, auch wenn diese auf fossilen Brennstoffen
basiert? Und wie viel Wirtschaftsleistung ist eigentlich notwendig, damit
Menschen ein würdiges Leben führen können, egal ob in Deutschland oder
Malawi?
Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Zusammenhänge
zwischen Wirtschaftsleistung, Treibhausgasemissionen und menschlichem
Wohlergehen. Versuchen wir’s, in fünf Schritten.
## Schritt 1: Je mehr Wirtschaftsleistung, desto mehr Emissionen
Wer etwas vergleichen möchte, muss es messen können. Sowohl für
Wirtschaftsleistung als auch für Treibhausgasemissionen gibt es deswegen
international anerkannte Maßeinheiten, die uns allen geläufig sind.
Wirtschaftsleistung wird [9][als Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen], das
bedeutet: Für einen bestimmten Zeitraum, zum Beispiel für ein Jahr, wird
berechnet, was alle Waren und Dienstleistungen, die in einem Land in dieser
Zeit hergestellt wurden, zusammen wert sind. Vorleistungen, die man
braucht, um andere Güter und Dienstleistungen zu erzeugen, werden nicht
mitgerechnet: Es zählt der Preis eines fertigen Stuhls. Der Preis einer
Schraube, die in dem Stuhl verbaut wurde, ist bereits in den Preis des
Stuhls eingeflossen und wird nicht noch einmal extra gezählt.
Treibhausgase sind Bestandteile der Atmosphäre. Sie bewirken, dass ein Teil
der Wärme, die die Erde abstrahlt, nicht im Weltall verschwindet, sondern
auf die Erde zurückgestrahlt wird und diese erwärmt. Weil diese Gase
unterschiedlich viel Wärme absorbieren können und unterschiedlich lange in
der Atmosphäre bleiben, hat jedes von ihnen ein anderes Treibhauspotenzial.
Das macht Rechnungen dadurch oft sehr kompliziert, deshalb werden häufig
nur die Emissionen von Kohlenstoffdioxid (CO2) betrachtet, dem häufigsten
Treibhausgas.
Wenn man Länder miteinander vergleicht, ist es sowohl beim BIP als auch bei
den Emissionen besser, diese Größen pro Kopf zu berechnen, damit der
Vergleich nicht dadurch verzerrt wird, dass in dem einen Land viel mehr
Menschen leben als in dem anderen. In unserer Grafik sind auf der
vertikalen Achse die CO2-Emissionen pro Kopf dargestellt und auf der
horizontalen Achse das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.
Man sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren:
Länder, die eher unten eingetragen sind, also pro Kopf wenig Treibhausgase
emittieren, stehen auch eher im linken Bereich der Grafik, wo das BIP pro
Kopf niedrig ist.
Wäre der Zusammenhang zwischen BIP und CO2 in jedem Land genau gleich,
wären alle Länder-Punkte exakt auf einer Linie angeordnet. Das ist nicht
der Fall, es gibt Ausreißer zu allen Seiten. Irland und Libyen stoßen zum
Beispiel pro Kopf in etwa die gleiche Menge an CO2 aus, obwohl in Irland
die Wirtschaftsleistung deutlich höher ist als in Libyen. Die Tendenz ist
trotzdem klar: Je mehr Waren und Dienstleistungen produziert werden, desto
mehr CO2 beziehungsweise Treibhausgase werden ausgestoßen.
Aber was bedeutet das für unsere Ausgangsfragen? Müssten wir dann nicht auf
der ganzen Welt die Wirtschaftsleistung senken, um die
Treibhausgasemissionen und damit die Erderwärmung zu reduzieren? Dafür
müssen wir uns anschauen, wozu Wirtschaftsleistung eigentlich wichtig ist.
## Schritt 2: Je höher die Wirtschaftsleistung, desto größer die
Zufriedenheit
Mit dem Bruttoinlandsprodukt wird die Wirtschaftsleistung eines Landes
gemessen, das hatten wir bereits. Doch oft wird das BIP auch als Indikator
für andere Entwicklungen genommen: wie gut es einem Land geht, wie
zufrieden seine Bewohner:innen sein können.
An dieser Verwendung des BIP, bei der mehr Wirtschaftsleistung immer als
besser gilt, [10][gibt es viel Kritik]. Schließlich gibt es alle möglichen
Faktoren, die für ein gutes Leben wichtig sind, aber nicht in das BIP
einfließen: etwa, wie gerecht die Einkommen eines Landes verteilt sind, wie
gut seine Krankenhäuser organisiert sind oder wie sicher es ist, abends auf
die Straße zu gehen.
Dazu kommt, dass unbezahlte Arbeit nicht ins BIP einfließt und dass eine
höhere Wirtschaftsleistung nicht immer bedeuten muss, dass es Menschen
wirtschaftlich besser geht. Wenn das Feld, auf dem ein Dorf bislang
Getreide für den Eigenbedarf angebaut hat, an eine Firma verkauft wird, die
dort Baumwolle kultiviert, um sie woanders zu verkaufen, und den
Arbeiter:innen dafür einen Hungerlohn auszahlt – dann steigt das BIP,
aber die Menschen aus dem Dorf sind möglicherweise schlechter versorgt als
vorher.
Manche Kritiker:innen gehen deswegen sogar so weit zu sagen, das BIP
sage rein gar nichts darüber aus, wie gut es sich in einem Land leben
lasse. Dann wird gern Bhutan als Beispiel genommen, gemessen am BIP eins
der ärmsten Länder, dessen Bewohner:innen aber angeblich die
glücklichsten der Welt sein sollen. Belegen lässt sich das allerdings
nicht: Zwar versucht Bhutan tatsächlich, das Glück seiner Bevölkerung mit
einem eigens dafür entwickelten [11][Index für „Bruttonationalglück“] zu
erfassen, doch es gibt keine Vergleichswerte aus anderen Ländern, mit denen
man diese Zahlen interpretieren könnte.
Glück, Zufriedenheit, menschliches Wohlergehen: Die Diskussion, wie
abhängig oder unabhängig diese Faktoren von der Wirtschaftsleistung eines
Landes sind, wird dadurch erschwert, dass es nicht einfach ist, sie
überhaupt zu messen.
Es gibt Statistiken dazu, wie Menschen ihre eigene Lebenszufriedenheit auf
einer Skala von 1 bis 10 einschätzen, aber die sind nicht ohne Probleme:
Vielleicht gebe ich mir heute für meine Lebenszufriedenheit 7 von 10
Punkten, aber wenn ich morgen noch einmal befragt werde, wenn der Himmel
grau ist und meine Milch gerade übergekocht, sind es nur noch 5 von 10.
Auch gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede, wie wir überhaupt über
Zufriedenheit sprechen, können unsere Selbsteinschätzung beeinflussen.
Zudem vergleichen wir uns eher mit unseren Nachbarn aus dem gleichen Land
als gleich mit der ganzen Welt.
Um menschliches Wohlergehen zu messen, ist es deswegen am besten, wenn man
sowohl auf die Selbsteinschätzung der Lebenszufriedenheit schaut als auch
auf Faktoren, die leichter und objektiver zu messen sind.
Wenn wir etwa von den [12][Menschenrechten] oder [13][den
Entwicklungszielen der UN] ausgehen, können wir festlegen, dass eine
geringe Kindersterblichkeit, ausreichende medizinische Versorgung oder der
Zugang zu sauberem Trinkwasser zum menschlichem Wohlergehen beitragen. Auch
die Chance auf ein langes Leben oder die Möglichkeit, nur so viel arbeiten
zu müssen, dass noch Freizeit bleibt, sind Indikatoren, die uns dabei
helfen können, menschliches Wohlergehen zu erfassen.
Setzt man also verschiedene dieser Faktoren in ein Verhältnis zum
Bruttoinlandsprodukt, so, wie wir es bereits mit den Treibhausgasemissionen
gemacht haben, dann erkennt man auch hier einen klaren Zusammenhang: Je
höher das BIP, desto besser sind die Werte bei unseren Indikatoren für
menschliches Wohlergehen, egal ob Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung
oder einer der anderen.
Das heißt nicht, dass die Kritik an der Eindimensionalität des BIP
unberechtigt wäre. Aber wir sehen, dass die Wirtschaftsleistung für viele
unserer Wohlergehen-Faktoren nicht egal ist: In einem Land mit einem sehr
geringen BIP, [14][beispielsweise in Burundi], ist die Kindersterblichkeit
höher, die Lebenserwartung wie auch die selbst eingeschätzte
Lebenszufriedenheit geringer, der Zugang zu Bildung, medizinischer
Versorgung oder sauberem Trinkwasser schlechter und die Zahl der
Arbeitsstunden pro Person größer als in einem Land mit höherer
Wirtschaftsleistung.
Für unsere Ausgangsfragen ist das ein Problem. Die Wirtschaft zu
schrumpfen, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, könnte also dazu
führen, dass es der Bevölkerung deutlich schlechter geht. Anders gesagt:
Mit der Wirtschaftsleistung von Burundi hätte Deutschland zwar vermutlich
ähnlich geringe Treibhausgasemissionen, aber eben auch eine höhere
Kindersterblichkeit.
Nun behauptet aber keine Wachstumskritikerin und kein Klimaschützer, die
ärmsten Länder der Welt sollten zum globalen Maßstab werden.
Wenn wir ausgehend von den Berechnungen des Weltklimarats IPCC annehmen,
dass die Welt für die 1,5-Grad-Grenze ab etwa 2050 aufhören muss,
Treibhausgase zu emittieren – eine eher optimistische Rechnung, die
CO2-speichernde Technologien mit einschließt – dann hat jeder Mensch auf
der Erde bis dahin ein Budget von etwa 3 Tonnen [15][pro Jahr.] Das sind
deutlich weniger als die [16][8,1 Tonnen], die in Deutschland 2021 im
Schnitt verbraucht wurden, aber auch deutlich mehr als in Burundi, wo der
Pro-Kopf-Ausstoß 2021 bei nur [17][0,06 Tonnen] lag. Dennoch: 3 Tonnen, das
ist weniger als der weltweite Durchschnitt, der bei mehr als 4 Tonnen
liegt.
## Schritt 3: Immer noch mehr macht es nicht immer noch besser
Für manche Länder ist es aber sehr wohl möglich, die Wirtschaftsleistung zu
senken, ohne dass es der Bevölkerung deswegen schlechter gehen muss. Der
starke Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsleistung und unserem
Wohlergehen gilt nämlich nur bis zu einem bestimmten Punkt. So flacht etwa
die Kurve, die den Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt und
Lebenserwartung darstellt, ab einem BIP von etwa 40.000 Dollar pro Kopf
deutlich ab.
Das heißt: Steigert ein Land seine Wirtschaftsleistung über dieses Maß
hinaus, hat das kaum noch positive Effekte auf die Lebenserwartung.
Ähnliches gilt für andere Indikatoren: Der gesamten Bevölkerung Zugang zu
sauberem Trinkwasser zu gewährleisten, schaffen fast alle Länder bereits
[18][ab einem BIP von 20.000 Dollar pro Kopf], danach gibt es keine
Steigerung mehr. Ab [19][einem BIP von etwa 50.000 Dollar pro Kopf] sind
die Leute – beim Selbsteinschätzen auf einer Skala von 1 bis 10 – nicht
zufriedener, wenn die Wirtschaftsleistung weiter steigt.
Immer noch mehr ist also nicht immer noch besser. In allen Ländern, die
über diesen Schwellenwerten liegen, wäre es möglich, die
Wirtschaftsleistung und damit auch die Treibhausgasemissionen zu senken,
ohne das Wohlergehen signifikant zu verringern. Deutschland, wo das BIP pro
Kopf im Jahr 2020 [20][gut 51.000 Dollar] betrug, ist so ein Land.
Dass die Deutschen sich als zufriedener empfinden, wenn Deutschland sein
BIP weiter steigert, ist unwahrscheinlich. In den USA gaben sich Menschen
[21][im Jahr 2003 durchschnittlich 7,5 von 10 Punkten] für ihre
Lebenszufriedenheit. Damals lag das BIP pro Kopf bei gut 54.000 Dollar.
2019 war es auf gut 62.000 Dollar gestiegen, aber die durchschnittliche
Lebenszufriedenheit hatte [22][mit 6,9 Punkten] sogar etwas abgenommen.
Könnte es dann nicht vielleicht als Lösung ausreichen, die
Wirtschaftsleistung global umzuverteilen? Würde es reichen, wenn alle
Länder, die mehr produzieren, als für ein gutes Leben notwendig ist, etwas
von ihrer Wirtschaftsleistung abgeben an die Länder, die noch unter den
genannten Schwellenwerten liegen? Sodass die Wirtschaft insgesamt nicht
wachsen muss und die globalen Treibhausgasemissionen nicht steigen?
Die Antwort lautet leider: nein. Durch den Vergleich unserer Indikatoren
für menschliches Wohlergehen wie Lebenserwartung, Lebenszufriedenheit,
Kindersterblichkeit oder Zugang zu Bildung können wir grob zu dem Ergebnis
kommen, dass dieser Schwellenwert, ab dem ein höheres BIP nicht mehr zu
einem besseren Leben führt, bei ungefähr 35.000 Dollar pro Kopf liegt.
Die meisten Länder haben das aber noch lange nicht erreicht: Der weltweite
BIP-Durchschnitt lag im Jahr 2021 bei [23][gut 12.000 Dollar pro Kopf].
Selbst wenn also reiche Länder ihre Wirtschaft schrumpfen würden – global
gesehen müsste sie trotzdem wachsen, wenn alle Länder ein BIP von 35.000
pro Kopf erreichen sollen.
Dass die Wirtschaft wachsen muss, um Armut und Hunger, eine hohe
Kindersterblichkeit oder mangelnden Zugang zu Bildung zu überwinden, ist
ein Problem. Schließlich haben wir gesehen, dass mehr Wirtschaftswachstum
auch mehr Emissionen bedeutet. Ein ganz schönes Dilemma, wenn wir beides
wollen: für alle Menschen gute Lebensbedingungen schaffen und die
Klimakatastrophe verhindern. Doch es gibt auch Überlegungen, die
Lösungsansätze zeigen.
## Schritt 4: Ungleichheit macht unzufrieden
Der Schwellenwert, ab dem mehr Wirtschaftsleistung nicht mehr ein noch
besseres Leben bedeutet, liegt bei einem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von
etwa 35.000 Dollar. Diese Annahme von uns stützt sich auf empirische Daten
aus Gesellschaften, die es wirklich gibt. Wären diese Gesellschaften anders
strukturiert, könnte diese Schwelle auch schon bei einem etwas geringeren
BIP liegen.
Zum Beispiel, wenn Geld gerechter verteilt wäre. Die Frage, wie Glück und
Ungleichheit zusammenhängen, wird [24][wissenschaftlich heiß diskutiert],
weil das Thema ideologisch aufgeladen und die Datenlage dazu [25][sehr
komplex ist]. Jede Methode, diese Frage zu beantworten, hat deswegen auch
ihre Schwächen. Aber in der Tendenz zeigen die meisten Studien, dass
größere Ungleichheit tatsächlich dazu führt, [26][dass Menschen weniger
zufrieden sind]. Es kommt also nicht nur auf die Höhe der
Wirtschaftsleistung an, sondern auch darauf, wie der erwirtschaftete
Reichtum eingesetzt und verteilt wird.
## Schritt 5: Der Norden muss dem Süden grünes Wachstum ermöglichen
Vor allem eine Statistik macht Mut. Betrachten wir, wie sich die weltweite
Wirtschaftsleistung und der Ausstoß von CO2 durch fossile Industrien über
die letzten 30 Jahre verändert haben, sehen wir, wie die beiden Linien
immer weiter auseinandergehen: Während die weltweite Wirtschaftsleistung
weiter stark wächst, hat sich der Anstieg der CO2-Emissionen im Vergleich
verlangsamt. Mehr Wirtschaftsleistung bedeutet also nicht mehr in dem Maß
mehr Emissionen, wie es noch vor 30 Jahren der Fall war.
Schaut man sich diese Entwicklung für einzelne Länder an, sieht man
allerdings, dass das Ausmaß dieser Entkopplung stark variiert. Getrieben
wird sie hauptsächlich von Industriestaaten wie beispielsweise
[27][Schweden] oder [28][Großbritannien]. Dank Energiewende gelingt es in
diesen Ländern, Wirtschaftsleistung und CO2-Emissionen zu entkoppeln. In
vielen anderen Ländern basiert wirtschaftliches Wachstum nach wie vor
hauptsächlich auf dem Einsatz fossiler Energien. Indien etwa plant, zur
Steigerung seiner Wirtschaftsleistung in den nächsten Jahren noch deutlich
mehr Kohle zu verfeuern als bisher.
Daraus folgt, dass es nur einen Weg gibt, in Ländern wie Indien Armut zu
verringern und gleichzeitig die Klimakatastrophe zu verhindern: Auch in
diesen Ländern muss Entkopplung, also grünes, auf erneuerbaren Energien
basierendes Wirtschaftswachstum möglich werden. Dafür braucht es Geld. Es
stimmt, dass die Klimakatastrophe viel teurer wäre als die Energiewende,
und es stimmt, dass erneuerbare Energien auf lange Sicht günstiger sind als
fossile Brennstoffe. Aber erst einmal muss für die Umstellung auf
Erneuerbare investiert werden, das gilt in Deutschland genauso wie in
Indien.
Für grünes Wachstum in armen Ländern braucht es also Geld, das diese Länder
meist nicht haben. Einen Ausweg aus dieser Situation gibt es nur, wenn
reiche Länder armen Ländern helfen, die Energiewende zu bezahlen. Aus einer
globalen Gerechtigkeitsperspektive wäre das nur folgerichtig, schließlich
sind es die armen Länder, die [29][am wenigsten zur Klimakrise beigetragen
haben] und am härtesten von den Krisenfolgen betroffen sind. Aber wie
sollen die Industriestaaten grünes Wachstum finanzieren, wenn sie ihre
eigene Wirtschaftsleistung reduzieren müssen?
Dafür gibt es sehr wohl Möglichkeiten. Beispielsweise ein globaler
Schuldenschnitt, wie ihn [30][Hilfsorganisationen],
[31][Klima-Aktivist:innen] und [32][Entwicklungsforscher:innen]
längst fordern: Reiche Länder sollen armen Ländern ihre Schulden erlassen,
damit diese [33][Geld für Energiewende und Naturschutz haben], statt Zinsen
und Tilgung an reiche Länder zahlen zu müssen. Eine Milliarde Euro Schulden
könnte etwa Deutschland Pakistan erlassen, ein Land, das [34][schon jetzt
unter Flutkatastrophen leidet] und gleichzeitig in einer tiefen
Schuldenkrise steckt.
Auch Einnahmen aus einer CO2-Steuer könnten dazu verwendet werden, die
Umstellung auf erneuerbare Energie in anderen Ländern zu finanzieren.
Selbst wenn nur die reichsten Menschen in den Industriestaaten auf ihren
enormen CO2-Verbrauch Abgaben zahlen würden, käme schon eine gute Summe
zusammen: Laut einer [35][kürzlich veröffentlichten Studie] hätte allein
Großbritannien mehr als 143 Milliarden Euro eingenommen, wenn es vor 20
Jahren eine CO2-Steuer für das oberste Prozent der Top-Verdiener eingeführt
hätte.
## Fazit
Der Blick auf die globalen Verhältnisse macht deutlich: Postwachstum ist
für Länder wie Deutschland ein wichtiger Impuls. Denn selbst wenn es
gelingt, Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionen zu entkoppeln, gibt es
andere Faktoren, die unendliches Wachstum verunmöglichen, beispielsweise
die Endlichkeit materieller Ressourcen. Vor allem aber führt mehr
Wirtschaftsleistung in reicheren Ländern gar nicht mehr dazu, dass es
Menschen besser geht.
Für den größten Teil der Welt aber ist es keine Option, nicht mehr zu
wachsen oder gar zu schrumpfen. Degrowth in Deutschland muss deswegen um
eine Perspektive für klimafreundliches globales Wachstum erweitert werden.
Aus moralischen und aus Gerechtigkeitsgründen. Und auch, weil es sonst
keine Lösung geben wird, die Klimakrise abzuwenden und Armut zu überwinden.
12 Mar 2023
## LINKS
[1] /Energiewende-und-Klimarettung/!5890174
[2] https://www.nytimes.com/2023/02/17/opinion/economic-growth-green-degrowth.h…
[3] https://climateactiontracker.org/global/temperatures/
[4] https://www.worldometers.info/gdp/gdp-per-capita/
[5] https://data.worldbank.org/indicator/EN.ATM.CO2E.PC
[6] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-worldbank?tab=chart&c…
[7] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-worldbank?tab=chart&c…
[8] https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=chart&co…
[9] https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrec…
[10] /Alternativen-zum-Bruttoinlandsprodukt/!5894750
[11] /Bruttonationalglueck-in-Bhutan/!5743841
[12] https://www.un.org/en/about-us/universal-declaration-of-human-rights
[13] https://sdgs.un.org/goals
[14] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-per-capita-worldbank?tab=chart&…
[15] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/co2-budget-habeck-101.html
[16] https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=chart&c…
[17] https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=chart&c…
[18] https://ourworldindata.org/grapher/improved-water-sources-vs-gdp-per-capita
[19] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-happiness
[20] https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?locations=DE
[21] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-happiness?xScale=linear&time…
[22] https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-happiness?xScale=linear&time…
[23] https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD
[24] https://www.jstor.org/stable/24442543
[25] https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2022.829707/full
[26] https://www.nature.com/articles/4581109a
[27] https://ourworldindata.org/grapher/co2-emissions-and-gdp-long-term?country…
[28] https://ourworldindata.org/grapher/co2-emissions-and-gdp-long-term?country…
[29] https://ourworldindata.org/grapher/cumulative-co-emissions
[30] https://erlassjahr.de/
[31] https://debtforclimate.org/
[32] https://www.soas.ac.uk/about/news/new-report-co-authored-soas-urges-g20-su…
[33] /Modell-Staatsschulden-fuer-das-Klima/!5915018
[34] /Humanitaere-Hilfe-fuer-Pakistan/!5904853
[35] https://autonomy.work/portfolio/climate-fund-climate-action/
## AUTOREN
Malene Gürgen
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