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# taz.de -- Ökologischer Fußabdruck und Klimakrise: Wir haben uns verrechnet
> Kaum etwas hat unsere Vorstellung von der Klimakrise so geprägt wie der
> ökologische Fußabdruck. Wie er in die Welt kam und wie wir ihn wieder
> loswerden.
Bild: Gras drübergewachsen
Der Erfinder des ökologischen Fußabdrucks kommt mit dem Flugzeug nach
Berlin. Mathis Wackernagel spricht heute im Umweltministerium, sein
Terminkalender ist voll im Moment, da bleibt keine Zeit für eine Zugfahrt.
Morgen muss er weiter nach Kopenhagen, eine weitere Konferenz. Wieder mit
dem Flugzeug.
Stopp. Spielt es überhaupt eine Rolle, ob der Erfinder des Fußabdrucks
selbst mit dem Flugzeug fliegt, statt Zug zu fahren? Oder ist es egal,
solange er im Umweltministerium Entscheider*innen überzeugen kann,
beispielsweise davon, dass Fliegen teurer werden muss?
Also nochmal von vorn: Im Motel One am Potsdamer Platz in Berlin schmieren
geschäftsreisende Männer mit wichtiger Miene Nutella auf Hotelschrippen.
Mathis Wackernagel hat sich ganz in die Ecke des Frühstücksraums gesetzt.
Dass heute jeder der Menschen hier im Raum seinen persönlichen ökologischen
Fußabdruck berechnen kann, dafür ist auch der Wissenschaftler Wackernagel
verantwortlich. „Ich würde den Rechner am liebsten abschaffen!“, sagt er
heute.
## Ein bestechender Gedanke
Der Fußabdruck ist keine 30 Jahre alt, aber hat geprägt, wie wir die Welt
sehen. Es ist die simple Idee, dass jeder Mensch auf der Erde ein Stück des
Planeten verbraucht und man messen kann, wie groß das ist. Dass sich der
Einfluss einzelner Staaten, Produkte und Personen auf die Natur berechnen
lässt. Diese Idee hat Firmen entstehen lassen, die ihr Geld mit
CO2-Zertifikaten und [1][gepflanzten Bäumen] verdienen. Sie hat dafür
gesorgt, dass man beim Schlachter Höhenrainer in Oberbayern eine
klimaneutrale Bratwurst kaufen kann und klimaneutrale Turnschuhe bei Aldi.
„Es gibt etwas, das stärker ist als die rohe Gewalt der Bajonette: das ist
eine Idee, deren Zeit gekommen ist und deren Stunde geschlagen hat.“ – Auf
kaum eine Idee der vergangenen Jahrzehnte trifft dieses Zitat, das wohl vom
französischen Schriftsteller Gustave Aimard stammt, so sehr zu wie auf den
ökologischen Fußabdruck.
Aber der Fußabdruck hat auch den Blick hin zum Handeln Einzelner
verschoben. Wenn jeder Mensch seine persönliche CO2-Bilanz – in Deutschland
sind das aktuell je nach Rechnung zwischen 7,7 und 11 Tonnen pro Person,
andere Treibhausgase mitgerechnet – so weit reduziert, dass er nur noch für
eine Tonne Ausstoß im Jahr verantwortlich ist, stoppen wir die Erhitzung
der Welt. Das ist die Vorstellung. Aber für viele Kritiker*innen ist
diese Perspektive genau das Problem: Die Lösung einer globalen Krise in
einem komplexen System aus Wirtschaft und Politik, sagen sie, das kann
nicht die Aufgabe von Individuen sein.
Also: Wie ist das gekommen? Und lässt sich das ändern?
## So kam der Abdruck in die Welt
Es ist das Jahr 1994. Michael Schumacher wird zum ersten Mal Weltmeister
der Formel 1, das erste Klimaabkommen der Vereinten Nationen tritt in
Kraft, die Konzentration von CO2 in der Luft liegt bei 358 ppm, und in
Vancouver, Kanada, sitzt ein Student aus der Schweiz am Schreibtisch und
brütet über seiner Doktorarbeit. Mathis Wackernagel ist 31 Jahre alt,
eigentlich wollte er mal Ingenieur werden und mit technischen Erfindungen
die Welt verbessern, und ganz sicher wollte er nicht promovieren. Aber das
schöne Vancouver und sein Professor Bill Rees haben ihn überzeugt. Und den
Glauben, dass sich die Probleme der Menschheit durch bessere Technik lösen
lassen, den hat er eh verloren.
Wackernagel beschäftigt eine einfache Frage: Wenn seit dem Bericht des Club
of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ klar ist, dass es so nicht
weitergehen kann mit dem Menschen und seinem Leben auf dem Planeten, warum
ändert sich nichts?
Zusammen mit seinem Doktorvater hat er eine Idee: Kann man den Einfluss,
den die Menschheit auf die Welt hat, in eine Fläche umrechnen? Für
Rindfleisch ist etwa die Weidefläche nötig, auf der die Rinder grasen, aber
auch eine bestimmte Menge Wasser und eine Waldfläche, auf der Bäume
wachsen, um den Kohlenstoff zu binden. Und wie viel Wald ist nötig, um den
Papierverbrauch zu decken? Wackernagel rechnet und rechnet.
Er will die Formel gar nicht auf den einzelnen Menschen anwenden, sondern
ausrechnen, wie viele Erden die Stadt Vancouver, Kanada und die gesamte
Menschheit rechnerisch bräuchten, um ihren Lebensstil auf Dauer zu decken.
Es geht ihm nicht nur um Kohlendioxid, sondern um die Nutzung der Natur im
Allgemeinen.
Die Fläche nimmt er als Maßeinheit, weil Menschen für ihren Konsum
tatsächlich die Ressourcen der Erde brauchen. Und es nur genau eine Erde
gibt.
Wackernagel schließt seine Doktorarbeit ab und stellt den Fußabdruck bei
Konferenzen vor. Er betont, dass das Modell noch nicht ausreichend
berechnet sei, nicht komplex genug. „Aber es ist bei den Leuten hängen
geblieben“, erzählt er.
Wackernagel geht mit dem Fußabdruck auf Tournee, eine „unendliche
Vortragsreihe“, wie er sagt, und in der Szene der Umweltorganisationen
erreicht der Fußabdruck gewisse Popularität. Der WWF nimmt die Idee des
Fußabdrucks Ende der Neunziger in einer Broschüre auf.
2003 gründet Wackernagel in Kalifornien das Global Footprint Network, eine
NGO, die jährlich den Fußabdruck von 200 Ländern berechnet. Es macht
globale Ungerechtigkeit deutlich sichtbar – in ihrer ganzen Einfachheit und
Brutalität. Die Fläche der Erde ist begrenzt, und kein Mensch hat das
Recht, mehr als seinen Anteil zu beanspruchen. Aber genau das tun
Deutschland und andere Industrieländer: Sie leben auf Kosten der Mehrheit
der Menschheit. Eine neue Form von Kolonialismus.
Aber es musste erst Hilfe von anderer, unerwarteter Seite kommen, um den
Fußabdruck weltberühmt zu machen.
## Wie aus einer Idee eine Gefahr wurde
Im Jahr 2004 fliegt Wackernagel nach New York. Er weiß noch, wie er die
Treppen zur Metro hinabsteigt und ihn plötzlich von allen Wänden ein Satz
anschaut: What on Earth is a carbon footprint? „Die ganze Stadt war damit
plakatiert!“, erinnert sich Wackernagel. „Ich musste erst mal laut lachen.�…
Der Mineralölkonzern BP hat in diesen Tagen seine große Kampagne
veröffentlicht. Plakate hängen an den Hochhäusern von Manhattan und in den
U-Bahn-Stationen, die Zeitungen sind voll mit Anzeigen. In TV-Werbespots
werden scheinbar zufällig ausgewählte Menschen auf der Straße befragt: Wie
groß ist Ihr Fußabdruck? Die Antwort ist Kopfschütteln. „My what?“ – �…
does it mean?“ Dann wird ein Werbetext eingeblendet: Reduzieren Sie Ihren
Fußabdruck. Aber finden Sie erst heraus, was das ist. Wenig später
veröffentlicht BP auf seiner Website den ersten Rechner, mit dem jeder
Mensch seinen eigenen Fußabdruck kalkulieren kann.
In einem anderen Videospot wird eine Passantin gefragt: „Was hätten Sie
lieber: ein Auto oder eine saubere Umwelt?“ Eine Frau antwortet: „Ich hätte
liebend gern eine saubere Umwelt, aber das ist, als wenn Sie jemanden
auffordern, auf Schokolade zu verzichten. Ich liebe mein Auto!“ Ein Text
wird eingeblendet, dass BP nun saubereres Benzin verkaufe. Dann kommt das
Logo von BP mit der Sonnenblume. „It’s a start.“
Die Werbeagentur Ogilvy & Mather, die sich die Kampagne ausgedacht hat,
gewinnt dafür den goldenen Effie Award der Werbebranche. Der Fußabdruck,
die Idee aus Wackernagels Doktorarbeit, wird weltbekannt. Und Wackernagel
ahnt, dass er damit auch die Kontrolle über seine Idee verliert.
## Wer trägt Verantwortung?
BP ist 1997 der erste Ölkonzern, der die menschengemachte „Erderwärmung“
anerkennt. Und er kündigt parallel zur Fußabdruck-Kampagne an, in Zukunft
auf erneuerbare Energien zu setzen. Einerseits. Andererseits investierte BP
seitdem nur einen Bruchteil seiner Gewinne in Erneuerbare und baute seine
Ölförderung aus. 2010 explodiert im Golf von Mexiko die BP-Ölbohrplattform
Deepwater Horizon und verursacht eine der größten Umweltkatastrophen der
Geschichte. 2022 verzeichnet das Unternehmen Rekordgewinne, hauptsächlich
durch gestiegene Benzinpreise. 20 Jahre nach Beginn der Kampagne ist das
Unternehmen immer noch ein fossiler Konzern. Laut einer Studie ist BP
allein für 1,5 Prozent der weltweiten Emissionen zwischen 1988 und 2015
verantwortlich.
Hat BP die Welt reingelegt?
Nicht die Konzerne, nicht die Politik müssten sich ändern, sondern nur der
Konsum des Einzelnen. Das ist der Vorwurf, der dem Fußabdruck gemacht wird.
Wissenschaftler:innen am MIT haben einmal ausgerechnet, dass selbst
ein obdachloser US-Amerikaner ohne Auto einen Fußabdruck von über 8 Tonnen
Kohlendioxid im Jahr hätte. In einer fossilen Gesellschaft kann niemand
seinen Fußabdruck auf einen Wert senken, der die Welt nachhaltig machen
würde.
Als während der Coronalockdowns 2020 fast alle zu Hause saßen, gingen die
globalen Emissionen nur minimal zurück, um etwa sieben Prozent. Selbst wenn
die Welt stillsteht, stoßen wir zu viel CO2 aus. Vorher sanken die
weltweiten Emissionen zuletzt nur in der Wirtschaftskrise 2008/09, als
Kraftwerke stillstanden und Millionen Menschen arbeitslos wurden. Das
zeigt: Für die Bekämpfung der Klimakrise ist eine Revolution nötig, in der
Wirtschaft, der Mobilität, der Landwirtschaft. Der Einzelne hat es nicht in
der Hand und auch nicht am Fuß.
„Der Fußabdruck, das ist doch eine Erfindung von BP, um uns die Schuld für
die Klimakrise zu geben“ – das ist die Kurzform dieser Geschichte, die
heute Tweet um Tweet im Internet herumgereicht wird. Es steckt ein wahrer
Kern drin, aber so einfach ist es auch nicht. Das mit dem Erfinden, das hat
Mathis Wackernagel gemacht. Hat er also dazu beigetragen, dass Konzerne
sich aus der Verantwortung ziehen können?
„Natürlich war ich mir der Gefahr bewusst“, sagt Wackernagel heute.
Mehrfach hat er versucht, Kontakt aufzunehmen zu BP, erfolglos. Er wusste
nichts von der Kampagne. Früh habe er aufgehört, bei Vorträgen seine
Zuhörer:innen aufzufordern: Reduzieren Sie Ihren Fußabdruck! „Alles,
was wir wollten, war, die Konsequenzen menschlichen Handelns aufzuzeigen.“
Das Problem sei, dass Menschen gern auf andere einzelne Menschen zeigen.
„Das Moralische, das ist doch auch in der DNA der Umweltbewegung“, sagt
Wackernagel.
Es war nicht der BP-Konzern allein, der dem Einzelnen die Verantwortung
quasi in den Einkaufskorb legte. Aber die Klimakampagnen von Ölkonzernen
haben System, nicht nur bei BP. Das bewiesen zwei Forscher*innen der
Harvard University im vergangen Jahr, als sie die Klimakommunikation des
Konzerns ExxonMobil seit den siebziger Jahren analysierten. Verantwortung
wurde immer wieder den Konsument*innen zugeschoben.
## Was wir tun können
Wir müssen handeln“, tönt es rund um [2][die Klimakonferenz in Scharm
El-Scheich]. Wer ist dieses Wir? Und wenn die Antwort „die Politik“ lautet,
wer ist dann Teil davon?
Diese Frage ist ein bisschen groß und unhandlich. Schauen wir deswegen
lieber auf eine überschaubare deutsche Stadt, auf Wiesbaden. Eine
Fallstudie der Uni Darmstadt machte dort vor ein paar Jahren eine
Beobachtung: Je mehr Dächer mit Photovoltaikanlagen es in einem
Stadtviertel gab, desto höher stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch
die Nachbar:innen eine Solarzelle aufs Dach bauten. Dieser Effekt wurde
auch in anderen Städten und Studien beschrieben.
## Wie „ich“ und „wir“ zusammenpassen
Der ökologische Fußabdruck, wie BP ihn versteht, hat die Verantwortung
einzelner größer gemacht als die von Firmen und Staaten. Das ist falsch.
Und doch ist der Fußabdruck stärker als BP und andere, die ihn
instrumentalisieren wollten. Denn seine Idee ist im Kern erhalten
geblieben: dass der Mensch sein Schicksal in der Hand hat. Wir müssen etwas
ändern und ich kann etwas ändern. Die Frage ist nur, wohin wir unsere Kraft
richten – auf klimaneutrale Turnschuhe oder strengere Gesetze.
Individuelles und politisches Handeln ist kein Widerspruch. Hätte Greta
Thunberg sich nicht allein mit einem Schild vor den schwedischen Reichstag
gesetzt, wäre nicht so schnell eine globale Bewegung entstanden. Und es ist
kein Zufall, dass Luisa Neubauer und Greta Thunberg Veganerinnen sind.
Nicht weil ihr Konsum für die globalen Emissionen einen Unterschied machen
würde. Sondern weil Lebensstil und Politik zusammengehören.
Mathis Wackernagel hadert mit dem Rechner auf seiner Website, der Menschen
ihren persönlichen Fußabdruck ausspuckt. Am Liebsten würde er das Werkzeug
von der Seite löschen, sagt er. „Wenn ich könnte.“ Aber er ist doch der
Chef, was sollte ihn aufhalten? „Wir haben den Besten.“ Und über den
Rechner kommen jährlich Hunderttausende auf die Website und informieren
sich über die Klimakrise und globale Ungerechtigkeit. Bei sich selbst
anzufangen, das kann auch eine Einstiegsdroge zum Aktivismus sein.
Wackernagel versucht längst, ein andere Idee zu pushen. Den Earth Overshoot
Day, den Erdüberlastungstag. Der Tag also, an dem die Menschheit ihre
Ressourcen für das gesamte Jahr schon aufgebraucht hat und eigentlich eine
zweite Erde bräuchte. Dieses Jahr [3][war das am 28. Juli]. Die Idee macht
klarer, dass für eine Lösung alle Menschen gemeinsam handeln müssen. Aber
auf der Webseite seiner Organisation kann man jetzt auch seinen ganz
persönlichen Erdüberlastungstag berechnen.
15 Nov 2022
## LINKS
[1] /Baeume-gegen-den-Klimawandel/!5738677
[2] /Klimakonferenz-in-Dubai/!t5018328
[3] /Erdueberlastungstag/!5871012
## AUTOREN
Kersten Augustin
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