| # taz.de -- Kompensation für Umweltschäden: Schuld und Sühne | |
| > Dirk Gratzel will alle Öko-Schäden, die er verursacht, ausgleichen. | |
| > Daraus hat er auch ein Geschäft gemacht. Der erste Großkunde: die | |
| > Drogerie dm. | |
| Dirk Gratzel erinnert sich noch gut an den Punkt, an dem er entscheidet, | |
| dass es so nicht weitergeht. Es ist 2016, er ist 48, hat sein eigenes | |
| Unternehmen für künstliche Intelligenz, ein Haus in Aachen, eine Frau, fünf | |
| fast erwachsene Kinder. Es wird damals gerade Herbst, und Gratzel denkt | |
| darüber nach, was mal von ihm bleiben wird. Sein Fazit: viel Zerstörung. | |
| So ein Leben in Deutschland, auch noch ein ziemlich wohlhabendes wie seins, | |
| strapaziert die Grenzen des Planeten. Das Jetten von einem Termin zum | |
| nächsten, das große Haus mit zehntausenden Dingen, das viele Fleischessen. | |
| Und das alles, während Klimakrise und Artensterben sich immer mehr | |
| zuspitzen. | |
| Gratzel entscheidet, dass sein ökologischer Schuldenberg kleiner werden | |
| muss. Mehr noch: Eigentlich dürfte da am Ende seines Lebens gar kein Berg | |
| mehr sein. Er setzt sich in den Kopf, dass er der Natur und den kommenden | |
| Generationen so viel zurückgeben will, wie er nimmt. | |
| So erzählt er es heute an einem heißen Tag im August. Er spricht | |
| routiniert, er hat seine Geschichte schon oft erzählt. Er sitzt mit | |
| angewinkelten Beinen auf dem kieseligen Boden eines Grundstücks im | |
| Ruhrgebiet, das früher mal dem Steinkohlekonzern RAG gehört hat. Darauf | |
| soll eine Wildwiese entstehen, auf der sich viele Arten wohlfühlen. Dieses | |
| Stück Land ist Teil von Gratzels Antwort auf die Frage, die ihn seit sechs | |
| Jahren umtreibt: Kann man wiedergutmachen, was man dem Planeten antut? | |
| Die Suche nach der Antwort hat ihm auch einen neuen Partner eingebracht: | |
| die Drogeriekette dm. Was Gratzel für sich selbst will, möchte das | |
| Unternehmen für Drogerieprodukte. Viele Unternehmen bewerben mittlerweile | |
| ihre Produkte als „klimaneutral“; dm geht in Kooperation mit Gratzel noch | |
| weiter und nennt eine bestimmte Linie „umweltneutral“. In vielen | |
| Produktkategorien gibt es mittlerweile eine solche Variante: Zahnpasta, | |
| Haferdrink, Gesichtscreme, Waschmittel, Windeln. Mehr als zwei Dutzend sind | |
| es schon. | |
| Dass sie heute in den dm-Regalen stehen, hat viel mit Gratzels Entscheidung | |
| im Herbst 2016 zu tun. Damals schreibt er zuerst ein paar Umweltverbände | |
| an. „In den Schreiben stand nicht viel mehr drin als: Hallo, ich bin Dirk, | |
| ich lebe ein für hiesige Verhältnisse nicht ganz untypisches | |
| Unternehmerleben, ich möchte mein Verhalten verändern, bisherige | |
| Umweltwirkungen ermitteln und ausgleichen, wie geht das?“, erzählt Gratzel. | |
| Er erhält Antworten, höflich formuliert, aber unbestimmt. Alle | |
| Umweltschäden ausgleichen – und dann auch noch über ein ganzes Leben, von | |
| dem knapp 50 Jahre schon gelebt sind? Eine fertige Formel haben die | |
| Umweltschützer:innen nicht. | |
| Gratzel schreibt Forscher:innen und Institute an. Wenig später reist er | |
| nach Berlin. Denn zurückgemeldet hat sich der Umweltwissenschaftler | |
| Matthias Finkbeiner, [1][Professor an der Technischen Universität (TU) | |
| Berlin]. Wie man ein ganzes Leben im ökologischen Sinne rückgängig macht, | |
| weiß er auch nicht. Seine Forschungsgruppe ist aber auf | |
| Lebenszyklusanalysen spezialisiert. Sie messen möglichst genau und | |
| ganzheitlich die Auswirkungen, die etwas auf die Umwelt hat. | |
| Normalerweise geht es dabei um Produkte. Der Anspruch ist, dass wirklich | |
| alles einfließt, begonnen bei der Gewinnung von Rohstoffen und Materialien, | |
| fortgesetzt bei der Produktion, dann bei der eigentlichen Nutzung der Ware | |
| bis hin zu ihrer Entsorgung. Könnte Finkbeiner nicht dasselbe einfach mit | |
| Gratzel machen? Es erscheint wie der logische erste Schritt, den | |
| ökologischen Fußabdruck zunächst einmal zu vermessen, bevor man ihn | |
| ausgleichen kann. Doch Gratzels Ansinnen ist außergewöhnlich, noch nie gab | |
| es so etwas: eine Lebenszyklusanalyse für einen Menschen. | |
| Finkbeiner schließt einen Vertrag mit Gratzel ab. Und lässt seine | |
| Mitarbeiter:innen dessen Leben auf den Kopf stellen, vor allem das | |
| vergangene. Welche Autos hat er gefahren, welche Reisen mit welchen | |
| Verkehrsmitteln angetreten, welche Steaks gegessen und wie wurde im | |
| Elternhaus geheizt? | |
| Ein Dreivierteljahr lang durchwühlt Gratzel alte Unterlagen und Fotos, die | |
| ihm und Finkbeiners Team Anhaltspunkte liefern, [2][um möglichst genau zu | |
| berechnen, wie sehr er den Planeten geschädigt hat]. Außerdem dokumentiert | |
| er monatelang penibel, wie er sich verhält. Trinkt er eine Cola, schreibt | |
| er das auf – und dazu, wo er die Cola gekauft hat, in was für einer Flasche | |
| sie war, wie er sie entsorgt hat. „Da fällt einem erst mal auf, wie viel | |
| man eigentlich konsumiert“, sagt er. „Hier was zu trinken, da eine Zeitung, | |
| hier was für meine Frau mitgebracht, eigentlich habe ich ständig | |
| irgendetwas gekauft.“ | |
| Verändern soll er zu dieser Zeit noch nichts, erst mal geht es um die | |
| Feststellung des Status quo. Heraus kommt: Gratzel ist im Jahr für 27 | |
| Tonnen Kohlendioxid verantwortlich. Das ist ungefähr das Achtzehnfache | |
| dessen, was die Erde von jeder ihrer Bewohner:innen aushalten könnte. | |
| Auch im Vergleich mit dem deutschen Durchschnitt ist es noch viel, fast das | |
| Dreifache. Über sein Leben haben sich 1.143 Tonnen Kohlendioxid angehäuft, | |
| so die Berechnung. Bei den Faktoren Ozeanversauerung und Überdüngung liegen | |
| die Werte ebenfalls hoch. | |
| Dirk Gratzel ist weltweit der erste Mensch, für dessen Leben es eine | |
| annähernd exakte Ökobilanz gibt. Finkbeiner und sein Team publizieren ihr | |
| Vorgehen 2018 sogar in einem Fachmagazin. | |
| Gratzel ändert sein Leben: Er schafft den Sportwagen ab, tauscht ihn gegen | |
| ein teilweise elektrisch angetriebenes Modell und ein Fahrrad. Er fliegt | |
| nicht mehr, sondern wird Zugfahrer, sogar ein begeisterter. Er stellt seine | |
| Ernährung um, verzichtet auf Milchprodukte, isst Fleisch nur noch, wenn er | |
| es eigenhändig gejagt hat. [3][Er trennt sich von allen möglichen | |
| Besitztümern, die sich in so einem Haus über die Jahre angesammelt haben.] | |
| Schließlich verkaufen er und seine Frau auch das Haus und ziehen in eine | |
| kleinere Wohnung, um weniger Fläche zu belegen, weniger Heizenergie zu | |
| verbrauchen. | |
| Die Wissenschaftler:innen an der TU Berlin rechnen dann noch einmal | |
| nach: Gratzel hat seine Umweltschäden um bis zu 80 Prozent reduziert. Aber | |
| der Gedanke an den Rest nagt an ihm. | |
| Der zweite Teil seiner Mission fehlt immer noch: die Wiedergutmachung | |
| dessen, was er an Konsum nicht vermeiden kann und was er in der | |
| Vergangenheit verkonsumiert hat. Zusammen mit den | |
| Wissenschaftler:innen dreht und wendet Gratzel Optionen, wie man | |
| ökologische Schäden rückgängig machen könnte. Immer wieder stößt die Gru… | |
| auf Probleme, die Gratzel nicht in Kauf nehmen will. | |
| Am einfachsten ist das Rückgängigmachen noch beim Kohlendioxid. Das kann | |
| man wieder aus der Atmosphäre ziehen, etwa durch das Pflanzen von Bäumen. | |
| Oder man kann es rechnerisch ausgleichen, indem man zum Beispiel ein | |
| Klimaschutzprojekt finanziert, das irgendwo auf der Welt CO2-Emissionen | |
| verhindert. Aber an solchen Vorhaben gibt es auch viele Kritikpunkte. | |
| Zum Beispiel ist es schwer nachzuweisen, wie sich die Emissionen ohne das | |
| Klimaschutzprojekt entwickelt hätten. Ob der zusätzliche Nutzen wirklich | |
| exakt den Emissionen entspricht, die ausgeglichen werden sollen. | |
| Im Falle von Wäldern ist es schwer, über Jahrzehnte und Jahrhunderte | |
| sicherzustellen, dass die Bäume nicht einfach in einer Hitzewelle abbrennen | |
| oder dem Borkenkäfer zum Opfer fallen. Außerdem brauchen sie viel Platz und | |
| wachsen langsam. | |
| Aber in der Theorie ist zumindest richtig: Wenn man für eine Tonne | |
| Kohlendioxid, die irgendwo auf der Welt ausgestoßen wird, auch wieder eine | |
| einspart, ergibt das fürs Klima eine Nullbilanz. Darauf bauen | |
| Kompensationsanbieter wie Atmosfair oder MyClimate, denen man Geld zahlen | |
| kann, um zum Beispiel den Klimaeffekt eines Flugs auszugleichen. | |
| Auch für andere Umweltschäden gibt es Kompensationen. Wird beispielsweise | |
| eine Straße durch einen Wald gebaut, schreibt das Bundesnaturschutzgesetz | |
| sogar vor, dass es einen angemessenen Ausgleich geben muss. Die Funktion | |
| des betroffenen Lebensraums muss an anderer Stelle möglichst gleichwertig | |
| wieder aufgebaut werden. Das bringt die ursprünglich zerstörte Natur | |
| natürlich nicht zurück. Der Ausgleich ist also schon in der Theorie | |
| unvollkommen. | |
| Dirk Gratzel will zunächst Grundstücke kaufen und aufforsten, kommt aber zu | |
| dem Schluss, dass er damit zu viel Platz für sich beanspruchen würde. Dann | |
| überlegt er, ob es nicht helfen würde, Flächen aus dem Steinkohleabbau im | |
| Ruhrgebiet in Wälder zu verwandeln – dort regelmäßig Holz zu ernten, damit | |
| wieder Platz für neue Bäume frei wird, und das Holz mit dem aufgesogenen | |
| Kohlendioxid unterirdisch in den alten Kohleschächten zu lagern. | |
| Gratzel ist in der Region aufgewachsen, im Norden von Essen. Er hat | |
| Kohlekumpel in der Familie gehabt. In der Idee laufen die verschiedenen | |
| Stränge seiner Biografie zusammen. So eine ständig nachwachsende Plantage | |
| wäre vor allem für die Klimabilanz gut, aber nicht besonders wertvoll als | |
| neuer Lebensraum für Tiere und Pflanzen. | |
| Als er die Idee einem Mitarbeiter der RAG erzählt, lacht der ihn auch aus: | |
| Die alten Schächte mit Holz aufzufüllen werde ihm sowieso keine | |
| Bergbaubehörde erlauben. Gratzel verwirft den Plan. Es ist der Punkt, an | |
| dem er kurz davor ist aufzugeben. | |
| Dann kommt eine neue Idee aus Matthias Finkbeiners Arbeitsgruppe. | |
| Vielleicht kann man es einfach machen wie in der unternehmerischen Welt, | |
| aus der Gratzel kommt: alles in Geldwert umrechnen? Schließlich gibt es | |
| Berechnungen, wie hoch die ökonomischen Kosten sind, die das Zerstören der | |
| Umwelt verursacht. Das Umweltbundesamt schätzt beispielsweise, dass eine | |
| Tonne Kohlendioxid im vergangenen Jahr Kosten von 201 Euro beschert hat. | |
| Die verantwortlichen Unternehmen und ihre Kund:innen werden dafür aber in | |
| der Regel nicht zur Kasse gebeten. Stattdessen zahlen die Leidtragenden | |
| oder die Allgemeinheit. | |
| Könnte Gratzel nicht aufsummieren, was sein ökologischer Schuldenberg | |
| kostet, und diese Summe in Naturschutz investieren? | |
| Bei einem Vortrag trifft der Unternehmer einen Vertreter der | |
| Drogeriemarktkette dm. Eigentlich geht es um künstliche Intelligenz. | |
| Gratzel erzählt aber nebenbei von seinem Vorhaben, seine Umweltschulden | |
| abzubezahlen. Er stößt auf Interesse. | |
| Die Drogeriekette möchte das auch mit Produkten ausprobieren. Im Mai 2021 | |
| kommt die Linie „Pro Climate“ bei dm heraus, durchgehend in Lindgrün | |
| gestaltet und mit der Aufschrift „umweltneutrales Produkt“. | |
| Gratzel ist plötzlich nicht mehr IT-, sondern Nachhaltigkeitsunternehmer. | |
| Er verkauft jetzt die Wiedergutmachung von Umweltsünden. Das Unternehmen, | |
| das er dafür gegründet hat, heißt „[4][Heimaterbe]“. Es kauft Grundstüc… | |
| die in einem ökologisch schlechten Zustand sind, und baut dort neue | |
| Lebensräume auf. Die ersten und bisher einzigen Kunden sind er selbst und | |
| dm. | |
| „Sind das die entnommenen Robinien?“, fragt Gratzel seine Mitarbeiterin | |
| beim Schlendern über das Grundstück „Ewald 5“, sein Blick streift über | |
| einen Stapel Baumstämme. Madlen Sprenger nickt. Sie ist Mitte 20, | |
| Landschaftsökologin und kümmert sich darum, dass auf dem Gelände in Herten | |
| ein gesunder Lebensraum entsteht. Die Robinie sei eine invasive Art, | |
| erklärt Gratzel. Der Baum ist ein für heimische Arten teils schädlicher | |
| Nachbar mit großem Ausbreitungsdrang. | |
| Der Umgang mit solchen Pflanzen ist eine der Herausforderungen bei der | |
| Kultivierung der geplanten Wildwiese. In der Mitte der Fläche steht eine | |
| sehr alte, große Robinie. „Die wollen wir eigentlich gern stehen lassen“, | |
| sagt Sprenger. Der Baum wird nun immer wieder beschnitten, damit sich | |
| möglichst wenig Samen ausbreiten. | |
| Etwas weiter ragt noch ein Bäumchen aus dem Boden, vielleicht einen Meter | |
| hoch und ganz dünn. „Ich zupf die mal eben aus“, kündigt Gratzel an. „O… | |
| meinst du, das ist ein sinnloses Unterfangen?“, fragt er Sprenger, die die | |
| Augenbrauen hochzieht. „Ich wollt’s nicht sagen“, antwortet sie. Die | |
| Robinie bleibt erst mal. | |
| Bisher bewirtschaftet Heimaterbe Grundstücke, die einst mit der | |
| Steinkohlewirtschaft zu tun hatten. Diesen Teil seiner früheren Idee hat | |
| Gratzel beibehalten. „Ewald 5“ beherbergte früher einen Wetterschacht, also | |
| eine Frischluftzufuhr für eine Zeche. | |
| Ein Großteil der Arbeit besteht bisher darin, die Hinterlassenschaften von | |
| früher zu entfernen oder ökologisch nutzbar zu machen. Einige Mauern sowie | |
| viel Bauschutt und Müll sind schon weg. | |
| Ein altes Backsteingebäude darf stehenbleiben. Dort hat das Team | |
| Fledermauskot gefunden. Statt es abzureißen, hat Heimaterbe | |
| Fensterverkleidungen aus Holz angebracht, in denen Fledermäuse gern nisten. | |
| Innen soll ein Winterquartier für die Tiere entstehen. Auf dem Boden gibt | |
| es Steinhaufen als Unterschlupf für Amphibien. Eine Wildkamera im Haus hat | |
| auch schon zwei Steinkäuze aufgezeichnet. | |
| Das neue Biodiversitätsgebiet entsteht mithilfe des Gelds von dm. Wie hoch | |
| die Zahlungen für die „umweltneutralen“ Produkte ausfallen müssen, | |
| ermittelt Finkbeiners Team an der TU Berlin. Die Wissenschaftler:innen | |
| berücksichtigen dabei Klimaeffekt, Ozeanversauerung, Überdüngung, | |
| Sommersmogbildung und Ozonlochverstärkung. | |
| Die Waren durchlaufen denselben Prozess wie Dirk Gratzel: Zunächst wird die | |
| Ökobilanz erstellt, dann muss dm sie, so gut es geht, verbessern. Gegenüber | |
| anderen Produkten haben diese deshalb teils dünnere Plastikverpackungen, | |
| ergiebigere Formeln, andere Inhaltsstoffe oder kürzere Transportwege. Zum | |
| Schluss wird die neue Bilanz errechnet. In Höhe der verbleibenden | |
| Umweltkosten beteiligt sich dm dann an den Heimaterbe-Projekten. Das dürfte | |
| in Zukunft immer teurer werden: Der Preis für eine Tonne Kohlendioxid wird | |
| mit Fortschreiten der Klimakrise zum Beispiel weiter steigen. | |
| Insgesamt rund 90 Hektar werden so schon bearbeitet, hinzu kommen gut 11 | |
| Hektar für Gratzels persönliche Öko-Wiedergutmachung. | |
| Heimaterbe trägt aber immer mindestens 40 Prozent der Kosten selbst – als | |
| Puffer. Auch Heimaterbe ist nicht davor gefeit, dass es beispielsweise auf | |
| einer Fläche brennt. Dann soll kein ökologischer Wert betroffen sein, mit | |
| dem sich ein Unternehmen schon als „umweltneutral“ geschmückt hat. | |
| Die dm-Produkte kommen gut an, sie wurden zum Beispiel von der Stiftung | |
| Deutscher Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet. Es gibt aber auch | |
| Kritiker:innen. | |
| „Das hat wenig bis gar nichts mit dem Thema Kompensation zu tun“, sagt der | |
| Umweltökonom Reimund Schwarze vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in | |
| Leipzig. „Kompensation würde ja heißen: Beispielsweise für eine | |
| ausgestoßene Tonne CO2 wird durch das Projekt eine Tonne CO2 eingespart.“ | |
| Das aber versuche Heimaterbe nicht einmal. | |
| „Man ermittelt die wirtschaftlichen Kosten, die ein ökologischer Schaden | |
| verursacht, und tätigt in derselben Höhe eine Ökoinvestition – ohne eine | |
| ökologische Messlatte anzulegen.“ Es würden zwar etablierte Methoden | |
| eingesetzt, „aber in einem eklektischen Sinne, ohne innere Verzahnung“, | |
| sagt Schwarze. Sein Resümee: „Das ist nicht in Ordnung nach Stand der | |
| Wissenschaft. Wir haben 30 Jahre dafür gekämpft, dass das nicht so läuft. | |
| Das ist echt Ablasshandel für ein gutes Gewissen.“ | |
| In einem von Heimaterbe selbst beauftragten Gutachten eines unabhängigen | |
| Instituts wird die fehlende ökologische Messlatte als ein | |
| „Diskussionspunkt“ benannt. Eine Nebenwirkung der rein ökonomischen | |
| Kompensation ist: Steigen die Preise für Grundstücke, Materialien oder | |
| Arbeitskräfte bei Heimaterbe, schafft man mit der Zahlung für einen | |
| gleichgroßen Umweltschaden plötzlich weniger ökologischen Wert. | |
| Ist also doch nicht alles so einfach? Es ist der Punkt, an dem Gratzel | |
| ausweicht, lieber noch mal auf die Vorteile seines Konzepts verweist. | |
| Er sagt, dass das Konzept es ermögliche, verschiedene Umweltwirkungen | |
| zugleich zu berücksichtigen, nur so könne ein ganzheitlicher Ausgleich | |
| erfolgen. Bei vielen Kompensationsanbietern erfolge die „ökologische | |
| Leistung“ auch erst nach der Zahlung und spekulativ, während Heimaterbe den | |
| tatsächlichen Umweltwert vermarkte, der schon vor Verkauf des Produkts | |
| geschaffen worden sei. | |
| Heimaterbe veröffentlicht in Transparenzberichten alle Tätigkeiten und | |
| Ausgaben. „Wir arbeiten immer gewissenhaft und im Sinne der Umwelt“, sagt | |
| Gratzel. „Wenn der Eindruck entstünde, wir würden keinen echten Ausgleich | |
| schaffen, würde ja niemand mit uns zusammenarbeiten wollen.“ | |
| Die Umweltforscherin Marianne Darbi, Professorin an der Hochschule | |
| Geisenheim University, kann Gratzels Idee trotz Kritik etwas abgewinnen. | |
| Auch sie findet es schwierig, von Kompensation im Sinne einer ökologischen | |
| Nullbilanz zu sprechen, grundsätzlich aber verfolge Heimaterbe einen guten | |
| Ansatz. | |
| „Gerade weil er multidimensional ist und die ökologischen Belastungsgrenzen | |
| unseres Planeten adressiert, also neben dem Klimawandel auch den Verlust | |
| der biologischen Vielfalt und den Schutz der menschlichen Gesundheit | |
| berücksichtigt“, sagt Darbi am Telefon. „Das sollte generell Standard bei | |
| allen Unternehmen sein.“ | |
| Mit einem Begriff wie „umweltneutral“ lehne man sich aber „etwas weit aus | |
| dem Fenster“, sagt Darbi. „Man muss sich bewusst sein: Das ist Marketing.“ | |
| Beim Thema Umweltkompensation solle man „generell sehr bescheiden | |
| formulieren“, denn sie bleibe immer nur eine Annäherung an eine wirkliche | |
| Nullbilanz, an eine vollständige Wiedergutmachung. | |
| Den Vorwurf des Ablasshandels könne man deshalb nie vollständig entkräften. | |
| „Kompensation hebt einen nicht in den grünen Superheldenhimmel“, sagt | |
| Darbi. „Aber ich finde: Wir sollten nicht zu viel hadern, sondern gute | |
| Dinge in Angriff nehmen, auch wenn sie nicht perfekt sind.“ | |
| Gratzel hat seinen Planungshorizont nun noch über seinen Tod hinaus | |
| gestreckt. Die Grundstücke, mit denen er sein Leben ökologisch ausgleichen | |
| will, gehören auch zweien seiner Kinder, erzählt er. Wenn er einmal nicht | |
| mehr da ist, wollen die beiden Töchter übernehmen und mit der planetaren | |
| Wiedergutmachung weitermachen. | |
| 25 Sep 2022 | |
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| Susanne Schwarz | |
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