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# taz.de -- Klimabewegung Ende Gelände: Sommer, Sonne, Sachbeschädigung
> Mit Ende Gelände hat sich eine der großen Protestgruppen entschlossen,
> fossile Infrastruktur zu zerstören.
Bild: Etwa 150 Aktivist*innen besetzen die Baustelle des neuen LNG Terminals in…
Der Reifen des großen Lkw gibt ein lautes Rasseln von sich, als seine Luft
nach draußen entströmt und sich mit der Nordseebrise mischt. Seine Ventile
wurden geöffnet. Plötzlich klirrt es. Jemand hat mit einem Stein auf die
Seitenspiegel geschlagen, dann sind die Scheinwerfer dran. Die Person ist
nicht zu erkennen, trägt eine FFP2-Maske vor dem Gesicht und steckt in
einem unförmigen weißen Maleranzug, dem Erkennungszeichen der Klimagruppe
Ende Gelände.
Hier, nahe Wilhelmshaven, entsteht gerade ein Terminal für die Anlieferung
von verflüssigtem Erdgas. Dort ist am Freitagmorgen nicht nur ein Mensch im
Maleranzug unterwegs. Etwa 250 Personen sind in insgesamt vier Bussen
zusammen angereist und stürmen die Baustelle. Es ist eine Delegation des
Camps, das Ende Gelände diese Woche in Hamburg aufgebaut hat. [1][Für das
ganze Wochenende sind Aktionen in Norddeutschland angekündigt].
Soziale Bewegungen kommen in Wellen. Ihren bislang höchsten Wellenkamm
erreichte die Klimabewegung im Jahr 2019. Fridays for Future trieb
Hunderttausende auf die Straße und auch Ende Gelände war groß. Mehrere
Tausend besetzten mit Ende Gelände Kohletagebaue in der Lausitz. Doch die
Welle ist vorerst gebrochen. Die Coronapandemie hat Proteste mit vielen,
eng aneinandergedrängten Menschen lange unmöglich gemacht. Erholt hat sich
die Bewegung davon noch nicht. Die ehedem regelmäßigen Freitagsstreiks sind
zur Besonderheit geworden. In Hamburg hat Ende Gelände diese Woche in und
um Hamburg deutlich weniger Menschen versammelt als früher, weniger als
2.000 Leute nahmen am Mittwoch an einer Demo durch die Stadt teil. Eine
Frage wabert durch die Campzelte, durch die Twitter-Feeds, durch die Posts
auf der linksradikalen Onlineplattform Indymedia: Muss man die Schlagkraft
der Bewegung erhöhen, indem man klimaschädliche fossile Kraftwerke,
Lieferwege, Förderstätten oder Baustellen einfach kaputt macht?
Wogegen die Aktivist:innen kämpfen, ist gerade überall deutlich zu
sehen: Die Klimakrise legt die Infrastruktur effektiver lahm als jede
Protestgruppe. Das Statistische Bundesamt führt die hohe Sterberate im Juli
unter anderem auf die extreme Hitze zurück. Die Feuerwehr kriegt Brände in
ausgetrockneten Wäldern kaum in den Griff. Der Rhein ist zu flach für voll
beladene Frachtschiffe, was unter anderem die Anlieferung von Ersatz für
russische Kohle behindern könnte. Die Gletscher um die Zugspitze sind
kläglich zusammengeschmolzen. Oft ist die Klimakrise nur ein Glied in der
Kette, nicht alleinige Ursache allen Übels, aber sie kann aus Problemen
Katastrophen machen. Der Berliner Grunewald zum Beispiel wäre wohl nicht
vom Naherholungsort zum Inferno geworden, wenn er nicht neben einem
explosiven Polizeisprengplatz gelegen wäre – aber der Klimawandel verstärkt
Hitzewellen, die Extremtemperaturen führen zu mehr Kondensation von Wasser
und trockene Bäume brennen besser. Die Feuerwehr war eine Woche lang
beschäftigt, die nahe gelegene Autobahn Avus gesperrt. Die Straßenblockaden
der Klimagruppe, die sich „Letzte Generation“ nennt, sorgten für Aufregung:
Viele Autofahrer:innen haben schon kein Verständnis mehr, ein
Stündchen warten zu müssen, bis die Polizei das Dutzend Aktivist:innen
weggetragen hat.
## Polizei und Arbeiter überrascht
Vor diesem Hintergrund spielt sich, natürlich ausgelöst durch Russlands
Krieg in der Ukraine, ein politisches Rollback ab: Unter grüner
Regierungsbeteiligung werden neue Erdgaspartnerschaften mit dem Senegal
geschlossen, Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt, verlängerte
AKW-Laufzeiten diskutiert – und neue Flüssiggasterminals gebaut.
Das ist es, was den Lkw in Wilhelmshaven seine Bauteile gekostet hat. Auch
die Polizei ist vor Ort. Dabei sind die Aktivist:innen extra früh
aufgestanden, haben das ansonsten stille [2][Camp am Nordende des Altonaer
Volksparks] vor 6 Uhr morgens verlassen. Jeweils einzeln sind sie mit Sack
und Pack unauffällig vom Gelände geschlendert. In einem Hamburger
Randbezirk traf man sich aber wieder. Von dort aus ging es im Bus weiter
Richtung Nordsee, ab Oldenburg mit Polizeibegleitung. Dass es Aktionen wie
diese geben würde, haben die Beamt:innen erwartet.
In Wilhelmshaven zündet der Demozug Pyrotechnik und rennt auf Rohre zu, die
von Arbeiter:innen gerade in die Luft gehoben werden. Die beobachten
das Treiben erst einmal. Einer sagt: „Na, ich darf ja eh keine Pause
machen.“ Dann müssen sie die Arbeit doch unterbrechen. Äußern dürften sie
sich eigentlich nicht, sagen sie, aber allzu schlimm fänden sie die Aktion
nicht. Man müsse ja schließlich für seine Anliegen auf die Straße gehen.
Oder eben auf die Baustelle. Die Aktivist:innen klettern auf einen
Kran. Der Fahrer schaltet die Maschine ab und ruft seinen Kolleg:innen
zu: „Alles absperren und ausschalten!“ Derweil diskutiert ein anderer
Arbeiter mit einem Polizisten. „Wisst ihr, was da passieren kann?“, fragt
er den Uniformierten, während ein Aktivist mit Pyrotechnik in der Hand auf
einen Kran klettert. Der Polizist reagiert hilflos. „Was soll ich tun?“,
entgegnet er. Um das orchestrierte Chaos aufzuräumen, hat er nicht genug
Einsatzkräfte, lässt er durchblicken.
Ein Arbeiter schlägt derweil nach der Person, die sich am Lkw zu schaffen
gemacht hat. Die Sabotage der Baustelle geht trotzdem weiter. Mehrere
Aktivist:innen tragen Bitumen auf die Enden der bereitliegenden
Pipelinestücke auf. Die Hoffnung sei, dass man diese dann nicht mehr
einfach verwenden könne, erklärt einer von ihnen. Nach etwa einer Stunde
beruhigt sich die Stimmung. Erste Kräfte der Bereitschaftspolizei treffen
ein.
Es eskaliert allerdings nicht zwischen Polizei und Protest. „Sie stören,
klar, aber sie nehmen ihr Versammlungsrecht wahr“, meint Polizeisprecher
Andreas Kreye. „Wenn das so weiterläuft wie im Augenblick, sind wir ganz
entspannt.“ Straftaten werde man natürlich trotzdem nachgehen.
## Einen Schritt weiter
„Wir haben diesmal beschlossen, gemeinsam weiterzugehen und fossile
Infrastruktur außer Betrieb zu nehmen“, sagt Sina Reisch, Sprecherin von
Ende Gelände vor Ort. „Und das auch länger, als wir da sind.“ Früher hat
die Bewegung zwar den Betrieb zum Beispiel von Tagebauen auch schon
zeitweise pausieren lassen. Die Aktivist:innen hinterließen damals aber
alles so, wie sie es vorgefunden hatten. Nach der Aktion liefen die
Kohleförderbänder einfach wieder an. Lange Jahre schloss der sogenannte
Aktionskonsens, also die selbst festgelegten Protestregeln von Ende
Gelände, auch Gewalt gegenüber Gegenständen aus, genauso wie die gegenüber
Menschen. Letzteres ist heute noch der Fall. Sachbeschädigung wird von der
Bewegung heute nicht mehr abgelehnt.
Außerdem hat sich der Fokus von der Kohle auf Erdgas verschoben, seit es
ein Kohleausstiegsgesetz gibt. Dass Erdgas nicht klimaschädlich sei, sei
eine „dreiste Lüge“, argumentiert Reisch. Entsprechende Berechnungen würd…
nur die CO2-Emissionen der Kraftwerke berücksichtigen, nicht aber das
Methan, das bei Förderung, Lagerung und Transport auftrete. Tatsächlich
kommen manche Studien zu dem Ergebnis, dass Erdgas insgesamt genauso
klimaschädlich sei wie Kohle. Erdgas besteht schließlich fast nur aus
Methan. Gibt es irgendwo ein Leck, tritt ein hochgradig klimawirksames
Treibhausgas aus. Und es gibt immer irgendwo ein Leck. „Dass
Wirtschaftsminister Robert Habeck jetzt hier mit Flüssiggasterminals
Geschenke an die Industrie macht, ist ein Klimaverbrechen“, findet Reisch.
Diese zusätzliche Infrastruktur sei nicht notwendig und diene nur dazu,
dass die Industrie nicht auf erneuerbare Energien umsteigen müsse.
Flüssiggas soll den schnellen Abschied von russischem Erdgas ermöglichen.
Aber es ist umstritten. Die Studien, die zu dem Schluss kommen, dass
Deutschland keine neuen Terminals braucht, gelten jeweils nur
eingeschränkt, lassen zum Beispiel den Gasbedarf anderer europäischer
Länder außer Acht. Während Ende Gelände jegliche Investition in
klimaschädliche Infrastruktur ablehnt, wollen die gemäßigteren
Umweltverbände wie der Nabu oder Greenpeace deshalb temporäre, schwimmende
Terminals akzeptieren – nicht aber eine permanente Anlage, wie sie auch in
Wilhelmshaven entstehen soll. Dort ist erst die temporäre Variante geplant,
dann ein Ausbau anberaumt.
Sachbeschädigung für den Klimaschutz ist nicht nur bei Ende Gelände ein
Thema. Immer wieder tauchen auf Indymedia anonyme Bekennungsschreiben auf,
in denen von der bewussten Zerstörung klimaschädlicher Infrastruktur zu
lesen ist. Nicht alle diese Fälle lassen sich aber bestätigen. Gerade erst
haben Anonyme behauptet, in der vergangenen Woche Schienen eines Kalkwerks
verbogen zu haben, das etwa den Energiekonzern RWE beliefert. Auf Anfrage
der taz hieß es bei dem Unternehmen Lhoist Germany Rheinkalk allerdings,
man habe keinen solchen Schaden feststellen können. Teils bestätigen sich
die Aktionen aber auch. Im vergangenen Winter behaupteten Anonyme, in
deutschen Großstädten [3][Luft aus den Reifen von SUV gelassen] und Zettel
mit Klimabotschaften unter die Scheibenwischer geklemmt zu haben – und
tatsächlich bekam die Polizei Meldungen solcher Fälle.
## Der nächste Streik
Auch bei Fridays for Future wird immer wieder diskutiert, ob das
Protestformat der Massendemo nicht gegen ein radikaleres eingetauscht
werden müsse – vor allem, wenn die Massen ausbleiben. Während einzelne
Ortsgruppen wie in Frankfurt am Main auch schon Blockaden organisiert
haben, sieht die Tendenz auf Bundesebene eher anders aus. Für den 23.
September hat Fridays for Future den nächsten globalen Streik angekündigt –
also die üblichen Demos in verschiedenen Großstädten auf der Welt.
Am Freitagvormittag tauchen Ende-Gelände-Aktivist:innen nahe Brunsbüttel
auf. Auch dort soll ein permanentes Flüssiggasterminal entstehen. Die etwa
15-köpfige Gruppe trifft sich auf einem Feldweg zwischen Windrädern,
Kuhweiden und einem alten Backsteinbauernhaus. Dass sie zu Ende Gelände
gehört, muss man diesmal wissen – niemand aus der Gruppe hat die übliche
Malerkluft an. Dafür tragen einige von ihnen Neoprenanzüge. Auch zwei
parlamentarische Beobachterinnen der Grünen Fraktion der Hamburger
Bürgerschaft sind vor Ort.
Was die Aktivist:innen genau vorhaben, können sie nicht mehr unter
Beweis stellen – denn die Polizei kesselt sie mit insgesamt fünf
Kleinbussen von beiden Seiten ein. Die meisten weigern sich, ihre
Personalien abzugeben, und werden deshalb „im Rahmen einer erweiterten
Identitätsfeststellung“ fotografiert.
Auch wenn die Protestpläne nicht aufgegangen sind, behalten die
Aktivist:innen gute Laune. „Können Sie uns unsere Identitäten per Post
zuschicken, wenn sie die festgestellt haben?“, spöttelt einer. Bei der
Selbstfindung kann ein Blick von außen ja manchmal nicht schaden. Auch bei
der Klimabewegung.
13 Aug 2022
## LINKS
[1] /Aktionwoche-von-Ende-Gelaende-in-Hamburg/!5870695
[2] /System-Change-Camp-in-Hamburg/!5868046
[3] /Klimaprotest-legt-Autos-lahm/!5825685
## AUTOREN
Michael Trammer
Michael Schlegel
Susanne Schwarz
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Polizei Hamburg
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