# taz.de -- Interview mit Arbeitsrechtsanwalt: „Eine entmenschlichte Arbeitsw… | |
> Rechtsanwalt Martin Bechert vertritt Rider und den Betriebsrat des | |
> Lieferdienstes „Gorillas“. Er kritisiert etwa die Ausbeutung von | |
> Migrant*innen. | |
Bild: Lieferdienste im Konkurrenzkampf – auf dem Rücken der Beschäftigten | |
taz: Herr Bechert, bestellen Sie manchmal bei Lieferdiensten? | |
Martin Bechert: Nein. | |
Warum nicht? | |
Ich brauche das nicht. Wenn man aber körperlich beeinträchtigt ist, ist das | |
eine gute Möglichkeit. | |
Sie arbeiten als Anwalt für den Betriebsrat von „Gorillas“ und einzelne | |
Lieferdienst-Arbeiter*innen. Wie viel haben Sie im Moment zu tun? | |
Sehr viel. Es gab [1][Kündigungswellen bei Gorillas] und bei „Getir“, | |
eigentlich durch die Bank weg. [2][Offene Zahlungen sind ein durchgehendes | |
Problem] für die Rider und Picker, also die prekär beschäftigten | |
Arbeitnehmer. Dass die nicht richtig bezahlt werden, dass die Abrechnungen | |
nicht stimmen, dass das Trinkgeld nicht weitergegeben wird, solche Sachen. | |
Da gibt es reichlich zu tun. | |
Wie viele Lieferdienst-Angestellte haben Sie bislang vertreten? | |
Ich würde sagen, um die 100. Bisher habe ich praktisch kein Verfahren | |
verloren, selbst nicht in Fällen, wo Leute wegen [3][wilder Streiks von | |
Gorillas] gekündigt wurden. Also super Aussichten. Aber das spiegelt ja | |
auch ein bisschen das System wieder. | |
Inwiefern? | |
Bei den Lieferdiensten geht es nicht darum, sich an Recht zu halten, | |
sondern sich faktisch durchzusetzen. | |
Das klingt so, als wären die Rechtsbrüche einkalkuliert. | |
Ich gehe davon aus, dass die wissen, dass sie vielfach gegen Recht | |
verstoßen, und dass es ihnen egal ist. | |
Getir, Flink, Volt, Gorillas, Dropp – die verschiedenen Start-ups kämpfen | |
um Marktanteile in Berlin, meist zulasten der Arbeitsbedingungen ihrer | |
Angestellten. Welcher Lebensmittellieferdienst tut sich besonders hervor? | |
Eigentlich keiner. Alle haben gemeinsam, dass das Recht nicht eingehalten | |
wird. Sie machen, was sie wollen, und dann gucken sie, dass sie es | |
hinterher reparieren. Das ist durchgehend bei allen so. | |
Warum sind ausgerechnet bei Online-Lieferdiensten die Arbeitsbedingungen so | |
schlecht? | |
Das ist eine entmenschlichte Arbeitswelt. Das fängt mit der Zeitplanung an: | |
Wenn ein Logarithmus der Chef ist, dann ist es egal, ob Sie einen guten | |
Grund haben, warum Sie eine Schicht nicht wahrnehmen können. Da geht es nur | |
noch nach Verfügbarkeit. | |
Sie vertreten auch einige der 300 gekündigten Gorillas-Mitarbeiter*innen. | |
Wie ist da der aktuelle Stand? | |
Wir haben jetzt ungefähr zehn Klagen – von 50 Leuten, die sich haben | |
beraten lassen. Das ist echt ein schlechter Schnitt. Die meisten nehmen die | |
mickrigen Abfindungen und gehen zum nächsten. | |
Warum? | |
Viele haben Migrationshintergrund und denken, was kann ich schon erreichen? | |
Also nehmen sie lieber den nächsten Job und haben keinen Ärger mit ihren | |
Visa. Wenn dein Visum an dein Arbeitsverhältnis gekoppelt ist und die Klage | |
etwas länger dauert und man keinen Job mehr hat und keine Kohle, dann ist | |
das ein viel, viel größeres Problem. | |
Die Kündigungen sind angeblich Teil einer neuen Strategie, weg von | |
ungebremstem Wachstum hin zu Profitabilität. Was bedeutet das für die | |
Zukunft der Branche? Sind die Massenentlassungen bei Gorillas erst der | |
Anfang? | |
Gorillas scheint nicht mehr genügend Investoren zu finden und ich weiß | |
nicht, wie lange die das noch durchhalten. Mein Eindruck ist: Die haben | |
kein Geld mehr und schrumpfen nicht, um sich zu konsolidieren, sondern um | |
zu überleben. | |
Und der Rest der Branche? | |
Die sind alle am Arsch. Die verbrennen Geld und das in jedem Bereich. Ich | |
warte eigentlich nur noch auf die erste Insolvenz. | |
Die Ausbeutung der Fahrer*innen scheint bei Lieferdiensten ein | |
Geschäftsprinzip zu sein. Das Problem ist nicht neu, wieso ist es so | |
schwer, dagegen vorzugehen? | |
Ich glaube, der politische Wille fehlt, da will keiner ran. Und die | |
DGB-Gewerkschaften kommen nicht aus dem Knick. Aus meiner Sicht ist deren | |
Apparat zu schwerfällig. | |
Ist das Arbeits- und Streikrecht denn überhaupt noch zeitgemäß? | |
Das Streikrecht muss so ausgestaltet sein, dass es tatsächlich realisiert | |
werden kann. Das ist derzeit nur eingeschränkt möglich. Die | |
DGB-Gewerkschaften tun sich in diesem Bereich schwer. Man braucht sie aber, | |
um zu streiken. Vor den wilden Streiks bei Gorillas wurden sie angefragt, | |
ob sie das übernehmen wollen. Alle haben abgelehnt. Was bleibt einem Rider, | |
der prekär beschäftigt ist und nicht richtig bezahlt wird, der also keine | |
Zeit hat, lange auf ein Urteil zu warten, der vielleicht auch visamäßig | |
wackelig steht, denn dann noch übrig? Wie kann der seine Ansprüche | |
durchsetzen? | |
Wie denn? | |
Der wilde Streik ist der einzige und letzte Weg und Ausdruck absoluter | |
Ohnmacht und Verzweiflung. Das muss man sich mal vorstellen, die haben | |
dafür gearbeitet und kriegen das Geld nicht, der Lieferdienst hält sich | |
nicht an die Verträge. Und dann ist das einzige, was sie noch machen | |
können, sich zusammenzutun und zu streiken. Das hat schon fast was | |
Romantisches, was Historisches, das kennt man aktuell ansonsten gar nicht | |
mehr in Deutschland. | |
Die Berliner Lieferando-Arbeiter*innen gründen zurzeit einen Betriebsrat, | |
auch beim Lieferdienst Getir wurde dies in die Wege geleitet, für Gorillas | |
gibt es in Berlin bereits einen: Tut sich doch was in der | |
Lieferdienstbranche in Sachen Arbeitsrecht? | |
Da muss ich Sie enttäuschen. Letzten Endes braucht es politischen Druck und | |
den Druck der Arbeitenden. Von selbst wird sich da gar nichts ändern. Und | |
derzeit kriegen sie nicht so viel Druck, dass sie sich ändern müssen. | |
Viele Lieferdienste betreiben Union Busting und gehen systematisch gegen | |
Arbeiter*innenvertretungen vor. Ist das nicht eigentlich verboten? | |
Der Schutz der Leute, die sich organisieren, ist ein Flickenteppich. Das | |
wissen auch die Arbeitgeber. Bei Getir hagelt es jetzt Kündigungen und die | |
Leute sind nahezu schutzlos. Das müsste verbessert werden. Sie können zum | |
Notar gehen und sagen, dass sie einen Betriebsrat gründen möchten. Aber das | |
heißt nicht, dass sie nicht gekündigt werden können. Außerordentliche | |
Kündigungen sind trotzdem möglich und natürlich werden sie in solchen | |
Situationen vom Arbeitgeber außerordentlich gekündigt. Der wartet doch | |
nicht, bis Sie einen Wahlvorstand gestellt haben. Am Ende landen Sie als | |
migrantischer, prekär beschäftigter Arbeitnehmer vorm Arbeitsgericht und | |
dann dauert das ein, zwei Jahre, bis Sie rechtskräftig wissen, dass die | |
Kündigung unwirksam war. Und bis dahin kriegen Sie keine Arbeit und auch | |
keinen Lohn. | |
Gibt es denn keine Strafen für die Arbeitgeber, wenn die immer wieder gegen | |
geltendes Recht verstoßen? | |
Um gegen Betriebsratsbehinderung vorzugehen, müssen Sie einen Vorsatz | |
nachweisen. Die ganze Vorschrift ist sehr kompliziert und schwierig | |
umzusetzen. Strafrechtlich hat der Arbeitgeber eigentlich nichts zu | |
befürchten. Die Strafen beim Verstoß gegen das Betriebsverfassungsgesetz | |
sind für Google oder Gorillas ein Witz. Deswegen werden Betriebsräte zum | |
Teil ja auch übel behandelt. | |
Was bräuchte es, um bessere Arbeitsbedingungen in der Branche | |
sicherzustellen? | |
Ein Betriebsrat hilft auf jeden Fall. Die Gründung muss aber schneller | |
gehen, damit der Arbeitgeber keine Zeit hat, Union Busting zu betreiben. | |
Etwa bei der Wahl zum Wahlvorstand, der könnte einfach von den | |
Gewerkschaften eingesetzt werden. Auch muss der Schutz für die Leute besser | |
werden. Letzten Endes ist es so, dass die Arbeitgeber irgendwann die | |
Betriebsratsmitglieder nicht mehr richtig bezahlen. Das ist bei Gorillas | |
so, aber auch bei anderen. Da brauchen wir die Politik und die | |
Arbeitsgerichtsbarkeit. | |
Was könnte die Politik noch tun? | |
Man könnte zum Beispiel eine Anlaufstelle schaffen, die die Leute anonym | |
informiert und bei Visafragen hilft – für Leute, die nur deswegen | |
Visa-Schwierigkeiten haben, weil sie sich engagieren. Das ist ein | |
Riesenproblem. | |
Ist es nicht generell problematisch, dass das Aufenthaltsrecht an einen | |
Arbeitsvertrag geknüpft ist? Dadurch werden viele Migrant*innen leichter | |
ausbeutbar. | |
Es bräuchte Möglichkeiten, migrantische Arbeitende da zu unterstützen, sie | |
etwa nicht abzuschieben, wenn sie zwei Jahre lang klagen müssen. Damit sie | |
nicht innerhalb kürzester Zeit wieder in ein anderes Arbeitsverhältnis | |
gehen müssen. Daran scheitert es vielfach. Aber auch an ganz praktischen | |
Sachen, etwa Prozesskostenhilfe zu beantragen. Das ist für viele ein Buch | |
mit sieben Siegeln, auch weil die Anträge nur auf Deutsch sind. | |
Warum arbeiten überhaupt noch Leute für diese Unternehmen, wo die | |
Arbeitsbedingungen doch bekanntermaßen so schlecht sind? | |
Es ist extrem niedrigschwellig. Viele kommen nach Deutschland, haben keine | |
Kohle, sprechen kaum oder kein Deutsch und brauchen Arbeit. Dann kommt ein | |
lässiges Start-up und bietet dir 12 Euro die Stunde und du kannst direkt | |
anfangen. Die Leute denken, wie schlimm kann es schon sein? Bis das erste | |
Gehalt nicht richtig überwiesen wird. | |
Wie sind Sie eigentlich zu dem Thema gekommen? | |
Es ist zu mir gekommen. Ich bin schon lange Rechtsanwalt für Arbeitsrecht, | |
aber nicht so DGB-nah wie viele meiner Kollegen. Das hat sich irgendwann | |
herumgesprochen. Ich mache auch eine ganze Menge kostenlos, anders geht das | |
gar nicht. Mir liegen die Leute am Herzen, sonst würde ich das nicht | |
machen. | |
14 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Marie Frank | |
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