# taz.de -- Debatte um Trinkgeld: Bessere Löhne braucht das Land | |
> Das Zahlen von Trinkgeld ist in der Gastro oft nötig, um schlechte Löhne | |
> auszugleichen. Im Einzelhandel ist das nicht möglich. Beides ist | |
> ungerecht. | |
Bild: Sollte eine nette Geste sein, aber nicht den Lohn kompensieren: Trinkgeld… | |
In einem taz-Interview [1][sagte der] Sozialpsychologe und | |
Trinkgeldforscher Michael Lynn: „Ein Restaurantbesuch beruht auf einem | |
sozialen Vertrag. Das ist eine implizite Übereinkunft, mit der man anhand | |
bestimmter sozialer Erwartungen interagiert: Ich werde bedient, im Gegenzug | |
gebe ich etwas zurück.“ | |
Sagen wir: im Idealfall. Als Abiturientin habe ich in einem Hamburger | |
Ratskeller gekellnert. Ich erinnere mich noch an einen Abend unter der | |
Woche, ich bin alleine, nur ein Trio gut betuchter Touristen ist noch im | |
Laden. Auf ausgiebiges Essen folgt eine feuchtfröhliche Nacht, sie | |
bestellen ein Getränk nach dem anderen. Geld spielt offenbar keine Rolle. | |
Sie sind die letzten, wissen sicherlich: wenn sie gehen, kann ich den Laden | |
schließen. Ich kümmere mich gut um sie, gebe Stadttipps, lasse mir den | |
einen oder anderen anzüglichen Spruch gefallen. Und am Ende: Runden sie | |
ganz großzügig die Rechnung von etwa 147 Euro auf 150 Euro auf. Extrem | |
frustrierend, gerade, wenn man jung ist und sich in großen Teilen selbst | |
finanziert. | |
Das fiel mir wieder ein, als kürzlich eine Debatte [2][ums Trinkgeld] | |
geführt wurde, losgetreten von ARD-Moderatorin Anja Reschke. „Keiner will | |
mehr in der Gastro arbeiten? Kein Wunder“, twitterte sie, und benennt damit | |
nichts Neues: Nicht erst seit der Pandemie leidet die Gastronomie-Branche | |
unter starkem Arbeitskräftemangel. | |
## Für 7.000 Euro essen, aber kein Trinkgeld geben | |
Zur Erklärung beschreibt Reschke die Erfahrungen einer Bekannten, die neben | |
dem Studium als Kellnerin in einem schicken Hamburger Lokal jobbt. Dort sei | |
ein 70. Geburtstag gefeiert worden, Rechnung: knapp 7.000 Euro. Trinkgeld: | |
keins. Trotz großer Festgesellschaft und zufriedenem Gastgeber. Das sei | |
keine Ausnahme. Reschke ist echauffiert: Das Trinkgeld nehme seit Jahren | |
ab, aber Gastrokräfte im Service und in der Küche seien darauf angewiesen. | |
Reschke hat Recht: Trinkgeld stellt in Deutschland einen erheblichen und | |
nötigen Teil des Einkommens von Arbeitnehmer:innen in der Gastro dar. | |
Der Knigge empfiehlt, 10 Prozent der Rechnung an Trinkgeld obendrauf zu | |
legen. | |
Ich habe damals zum Mindestlohn von 8 Euro pro Stunde gearbeitet. Es machte | |
einen enormen Unterschied, ob am Ende einer Schicht 80 Euro oder, wenn’s | |
besonders gut lief, 100 Euro bleiben. Heute beträgt der Mindestlohn, der in | |
vielen Gastronomiebetrieben gezahlt wird, 10,45 Euro, ab Oktober dieses | |
Jahres soll er auf 12 Euro erhöht werden. Angesichts steigender | |
Lebenshaltungskosten ist das immer noch nicht genug, um auf Trinkgeld | |
verzichten zu können. | |
Aber ist nicht genau das das Problem? Menschen, die im Niedriglohnsektor | |
arbeiten, sollten auf Trinkgeld nicht zwingend angewiesen sein, um gut über | |
die Runden zu kommen. Wenn wir schon beim Thema sind: Wer gibt eigentlich | |
regelmäßig Paketbotinnen, Müllmännern und -frauen oder Friseuren Trinkgeld? | |
Auch Grünen-Politiker Volker Beck kommentiert: „Das Problem [ist] der zu | |
geringe Lohn. Das Einkommen sollte nicht vom Wohlwollen der Gäste | |
abhängen.“ Man könnte hinzufügen: Insbesondere, wenn auch die Gäste in | |
Zeiten der Inflation zunehmend weniger in der Tasche haben. | |
## Das Problem ist der geringe Lohn | |
SPD-Politiker und Gesundheitsminister Karl Lauterbach dagegen scheint die | |
Verantwortung für ein ordentliches Einkommen für Gastronomieangestellte auf | |
Kund:innen abwälzen zu wollen. Er ließ verlauten, gerade wegen der | |
dauernden Ansteckungsgefahr sei es unverständlich, dass nicht großzügiger | |
Trinkgeld gegeben werde. Menschen in der Gastronomie arbeiteten hart und | |
trügen oft ein erhebliches Risiko. | |
Klar, Herr Lauterbach, das stimmt. Doch das gilt ja ebenso für Angestellte | |
im Einzelhandel oder Kassierer:innen, die im bundesdeutschen Durchschnitt | |
besonders [3][schlecht bezahlt] werden. Während der ersten Coronawelle mag | |
fleißig für sie geklatscht worden sein. | |
Aber es wäre niemand auf die Idee gekommen, von Kund:innen zu fordern, | |
ihnen Trinkgeld zu geben, um ihre niedrigen Löhne auszugleichen. Und in der | |
Politik scheint aktuell auch niemand über höhere Löhne für sie | |
nachzudenken, auch nicht bei der SPD. | |
Abschaffen würde ich Trinkgeld deshalb trotzdem nicht. Es ist durchaus | |
geeignet als Geste der persönlichen Wertschätzung gegenüber Kellner:innen. | |
Ich habe mich immer drüber gefreut, und für einige Menschen mag es auch | |
eine Form von „aktivem Altruismus“ sein, so Trinkgeldforscher Michael Lynn. | |
„Wir haben das Bedürfnis, etwas zurückzugeben, wenn uns jemand einen | |
Gefallen tut. Die Aufmerksamkeit, mit der uns eine Bedienung umsorgt, | |
erwidern wir mit Trinkgeld.“ | |
Gesellschaftliche und politische Verfehlungen Kundinnen und Konsumenten | |
aufzulasten, ist allerdings der falsche Weg. Dass wir aufgrund zu niedriger | |
Löhne überhaupt darüber sprechen, ist symptomatisch für einen Arbeitsmarkt, | |
in dem es grundsätzlich an Respekt für Dienstleistungsberufe mangelt. | |
4 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Sozialpsychologe-ueber-Trinkgeld/!5631642 | |
[2] /Bundessozialgericht-zu-Hartz-IV/!5868623 | |
[3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-helden-so-viel-verdienen-… | |
## AUTOREN | |
Clara Engelien | |
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