# taz.de -- Flucht nach Europa: Seehofers langer Schatten über Europa | |
> In der EU ankommende Asylsuchende sollen in Lagern landen und als „nicht | |
> eingereist“ gelten. Europas rechte Flüchtlingspolitik wird zum | |
> Mainstream. | |
Bild: Das „Aufnahmezentrum“ auf der griechischen Insel Samos steht Modell f… | |
BERLIN taz | Sieben Monate ist es her, dass Horst Seehofer (CSU) als | |
Bundesinnenminister aus dem Amt schied. Die Erinnerung an ihn verblasst – | |
doch sein Einfluss auf die künftige europäische Asylpolitik schlägt erst | |
jetzt so richtig durch. Denn die EU macht in diesen Wochen Tempo bei einer | |
grundlegenden Reform des Asylsystems, die fast vollständig auf | |
[1][Seehofers Vorstellungen] zurückgeht. | |
Der Kerngedanke: Wer die Außengrenzen erreicht, kommt dort zunächst in | |
Lager, um per Vorprüfung zu klären, ob überhaupt Zugang zu einem regulären | |
Asylverfahren gewährt wird. Bis dahin gelten die Ankommenden als offiziell | |
„nicht eingereist“. Nur wer aus Ländern mit einem EU-weiten Anteil an | |
positiven Asylentscheidungen von über 20 Prozent stammt und nicht über | |
einen „sicheren Drittstaat“ einreist, darf für das reguläre Asylverfahren | |
in die EU. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) warnt vor „De-facto-[2][Haftlagern] | |
an den Grenzen Europas“. | |
Die Pläne dafür reichen lange zurück – und stammen aus Berlin. Am [3][13. | |
November 2019] legt das damals von Seehofer geleitete | |
Bundesinnenministerium den anderen EU-Staaten ein Papier vor. Es trägt den | |
neutralen Titel „Food for thought“, „Denkanstoß“, und soll die deutsche | |
EU-Ratspräsidentschaft vorbereiten. Die beginnt am 1. Januar 2020. Seehofer | |
will darin endlich zu Ende bringen, woran alle vorigen Präsidentschaften | |
gescheitert waren: das dysfunktionale Asylsystem auf neue Füße zu stellen. | |
Seine Idee: „Offensichtlich unbegründete oder unzulässige Anträge müssen … | |
den Außengrenzen sofort zurückgewiesen werden, und dem Antragsteller darf | |
die [4][Einreise in die EU nicht gestattet] werden“, steht in dem Papier. | |
„Wir sollten insbesondere prüfen, ob Personen aus sicheren Drittstaaten die | |
Einreise verweigert werden sollte.“ Mit „sicheren Drittstaaten“ sind | |
Transitstaaten wie die Türkei, Tunesien oder Marokko gemeint. Auf sie soll | |
die Verantwortung abgewälzt werden. | |
Doch die deutsche Ratspräsidentschaft endete im Juni 2020 – ohne Einigung | |
in Sachen Asyl. Zu konträr blieben die Vorstellungen. Ein Knackpunkt: | |
Länder wie Griechenland und Italien drängen seit Langem auf einen | |
[5][Verteilmechanismus]. Staaten wie Deutschland und Frankreich sind im | |
Prinzip einverstanden, andere, wie Ungarn oder Polen, strikt dagegen. Doch | |
so konnte es auf die Dauer nicht weitergehen. Auch die damals neue | |
EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen stand in Sachen Asyl unter | |
Zugzwang. Und so präsentierte die Kommission im September 2020 den Entwurf | |
für einen Migrations- und Asylpakt, der im Wesentlichen Seehofers | |
„Denkanstöße“ übernommen hat. | |
Seither aber geschah: lange nichts. Voran ging es nur bei der „Blauen | |
Karte“ – einem Visa-Programm für qualifizierte Fachkräfte – und der aus | |
einer bereits existierenden Behörde hervorgegangenen Neugründung der | |
[6][EU-Asylagentur EUAA] im Januar 2022. Doch vor allem bei der Verteilung | |
Ankommender und der Zuständigkeit für diese beharrten fast alle Staaten | |
weitgehend auf ihrer Position. | |
Sieben konkrete Gesetzesvorhaben im Asyl- und Migrationsbereich hat die | |
Kommission seit der Präsentation des Pakts vorgelegt. Zwei davon nahmen nun | |
am 22. Juni die erste Hürde im Rat. Der billigte unter anderem die | |
sogenannte Screening-Verordnung. Die schafft die Grundlage für das, was | |
Seehofer vorgedacht hatte: ein verbindliches Registrierungsverfahren an den | |
Außengrenzen, inklusive „Prüfung der Schutzbedürftigkeit“ – in nur fü… | |
Tagen. | |
Die jüngsten Beschlüsse seien ein „signifikanter Fortschritt“, vor allem | |
bei der Herausforderung, „Solidarität und Verantwortung auszubalancieren“, | |
sagt eine Sprecherin des zuständigen EU-Kommissars Margaritis Schinas auf | |
Anfrage der taz. Für den vor allem von den [7][Mittelmeerstaaten verlangten | |
Mechanismus zur EU-weiten Verteilung Ankommender] gab es indes keinen | |
Konsens. Stattdessen gibt es nun eine sogenannte „Solidaritätsplattform“, | |
die sich bereits am 27. Juni konstituierte. Mit der können Mitgliedstaaten | |
Ländern an den Außengrenzen freiwillig Flüchtlinge abnehmen oder ihnen Geld | |
dafür schicken. Das war selbstredend schon bisher möglich. Eine | |
verbindliche Regelung gibt es nicht. Brüssel gibt sich dennoch | |
optimistisch: Die Ukrainekrise habe gezeigt, was möglich sei, sagt Schinas’ | |
Sprecherin. „Wenn wir diese Ergebnisse in Krisenzeiten erzielen können, | |
können wir uns auch für die Bewältigung der Migration in normalen Zeiten | |
rüsten.“ Fortschritte beim Pakt seien „so dringend wie nie zuvor“. | |
Die weiteren, separaten Gesetzesvorhaben der Kommission sehen vor: Wer aus | |
als sicher geltenden Ländern stammt oder über diese eingereist ist, bleibt | |
nach dem Screening für ein Asyl-Schnellverfahren direkt im Lager. Im Fall | |
einer – dann sehr wahrscheinlichen Ablehnung – soll innerhalb von zwei | |
Wochen die Abschiebung erfolgen. | |
Vieles von dem ist in der Ägäis bereits Realität. Die EU hat auf den Inseln | |
Samos, Kos und Leros sogenannte „Multi-Purpose Reception and Identification | |
Centres“ errichtet. Weitere sollen folgen und die 2015 geschaffenen | |
„Hotspots“ ersetzen. Vom Screening bis zur Abschiebung ist hier alles an | |
einem Ort. Solche Lager dürften bald an vielen Orten der Außengrenzen | |
entstehen. | |
Der Jurist Robert Nestler hat die NGO Equal Rights Beyond Borders | |
gegründet. Sie bietet seit Jahren Rechtsberatung auf den Ägäis-Inseln an. | |
Vieles, was die Screening-Verordnung und die weiteren Gesetze des Asylpakts | |
vorsehen, werde in Griechenland auf Grundlage nationalen Rechts schon jetzt | |
angewandt, sagt Nestler. „Aber das Ganze in eine europäische Gesetzesform | |
zu gießen, ist ein wichtiges politisches Zeichen. Man kann es dann an allen | |
Außengrenzen so machen.“ | |
## Beschleunigtes Asylverfahren | |
Den juristischen Kniff der „Fiktion der Nichteinreise“ für alle Ankommenden | |
sieht er kritisch: „Das wird immer mit Haft verbunden sein. Die Menschen | |
dürfen den Ort der Unterbringung nicht verlassen.“ Das beschleunigte | |
Asylverfahren soll die Rechtswege auf eine Instanz beschränken. „Fast immer | |
fehlen rechtliche Instrumente, sich zur Wehr zu setzen“, sagt Nestler dazu. | |
Die Verantwortung würden Brüssel und die nationalen Regierungen so | |
gegenseitig aufeinander abwälzen können: „Die EU sagt ‚Wir machen nur | |
Richtlinien‘, die Mitgliedsstaaten sagen ‚Wir setzen nur um‘. Alle können | |
so sagen: ‚Wir haben damit nichts zu tun.‘“ Schon heute sei in Griechenla… | |
zu beobachten, dass die EU-Asylagentur EUAA die Asylverfahren in den Lagern | |
weitgehend dominiert: Sie führt die Anhörungen der Schutzsuchenden durch | |
und formuliert eine Empfehlung für eine Entscheidung. Die eigentlich | |
zuständige griechische Asylbehörde entscheidet meist nur noch auf dieser | |
Grundlage – ohne die Schutzsuchenden selbst zu sehen. „Die EUAA geht damit | |
über ihr Mandat hinaus“, klagt Nestler. | |
Deutschland hat der [8][Screening-Verordnung] und damit dem ersten großen | |
Baustein des neuen EU-Asylpakets zugestimmt. Die | |
Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger bringt das auf: „Die | |
Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, das ‚Leid an den | |
Außengrenzen‘ und ‚illegale Zurückweisungen‘ zu beenden“, sagt Bünge… | |
Zustimmung zum Entwurf der Screening-Verordnung sei „jedoch genau das | |
Gegenteil“. Die Ampel „bricht so ihre Pflichten aus dem Koalitionsvertrag�… | |
Vor dem Hintergrund des grausamen Massakers in der spanischen Enklave | |
Melilla Ende Juni mit mindestens 37 Toten hat Bünger einen Antrag gestellt, | |
um Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen effektiv | |
zu bekämpfen – so, wie die Ampel es im Koalitionsvertrag versprochen hatte. | |
„Die desaströsen Pläne der Screening-Verordnung kann nach der Zustimmung | |
der Bundesregierung allerdings nur noch das Europäische Parlament stoppen“, | |
sagt Bünger. | |
13 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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