# taz.de -- Anne Spiegel über Ampelpläne: „Eine Frage der Haltung“ | |
> Die neue Familienministerin will zuerst Paragraf 219a und das | |
> Transsexuellengesetz abschaffen. Sie trete nicht an, um einen | |
> Beliebtheitspreis zu gewinnen. | |
Bild: Anne Spiegel an ihrem neuen Arbeitsplatz im Ministerium für Familie, Sen… | |
taz: Frau Spiegel, in wie vielen Ihrer Interviews spielt die Frage nach | |
Ihren vier Kindern eine Rolle? | |
Anne Spiegel: In fast allen. | |
Wir würden mal anders beginnen: Gehen Sie als [1][Feministin in den neuen | |
Job?] | |
Ja, absolut. Ich bin Feministin. Das ist für die Aufgabe als | |
Frauenministerin eine ganz gute Voraussetzung. | |
Was heißt Feminismus für Sie? | |
In unserer Gesellschaft gibt es in vielen Bereichen immer noch ein | |
eklatantes Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, das sehr viele | |
Facetten hat. Das fängt bei Sexismus an und geht bis zur Gewalt gegen | |
Frauen und Mädchen. Das ist komplex und strukturell verankert, und das | |
müssen wir ändern. | |
Das [2][Transsexuellengesetz soll abgeschafft], die [3][Istanbulkonvention] | |
umgesetzt, [4][Familie neu definiert] werden. Was wollen Sie als Erstes | |
anpacken? | |
Am liebsten natürlich alles gleichzeitig, aber tatsächlich sortieren wir, | |
was davon schnell umsetzbar ist. Gesetzestexte etwa erfordern gute | |
Vorarbeit. Aber die Abschaffung des Paragrafen 219 a des Strafgesetzbuchs, | |
mit dem Frauen stigmatisiert und Ärztinnen und Ärzte kriminalisiert werden, | |
steht zum Beispiel schnell auf dem Programm. | |
Wie schnell soll das passieren? | |
Das werde ich in Kürze mit dem Bundesjustizminister besprechen. Auch die | |
Abschaffung des Transsexuellengesetzes betrifft beide Ressorts. Beides | |
können wir schnell anpacken. Auch den Gleichstellungscheck bringen wir bald | |
auf den Weg. | |
Wie stellen Sie sich den genau vor? | |
Ich habe einen solchen Check schon als Landesfrauenministerin umgesetzt und | |
mich damit nicht nur beliebt gemacht. Aber ich habe den Job als | |
Bundesfrauenministerin ja nicht, um einen Beliebtheitspreis zu gewinnen, | |
sondern um Frauenpolitik voranzubringen. Bei der Besetzung von Gremien oder | |
Aufsichtsräten mit Landesbeteiligungen habe ich immer alle Vorlagen | |
bekommen, bevor sie ins Kabinett gingen. Wenn sie nicht paritätisch waren, | |
habe ich sie gestoppt. | |
Und dann? | |
Im Idealfall wird dann paritätisch besetzt. Im Einzelfall kann man | |
begründen, warum das nicht möglich ist. Aber sofern möglich, bestehe ich | |
auf Parität. | |
Ist Parität das einzige Kriterium? | |
Ich denke den Gleichstellungscheck schon weiter als nur innerhalb der | |
Besetzung von Gremien. Wir erarbeiten gerade, wie er im Bund genau wirken | |
kann. Es wird jedenfalls nicht reichen, dass irgendwo in der Vorlage ein | |
Satz steht, dass die Auswirkungen auf Frauen berücksichtigt wurden. | |
Ihr Staatssekretär Sven Lehmann hat die Kindergrundsicherung als das große | |
sozialpolitische Reformvorhaben der gesamten Bundesregierung bezeichnet. | |
Was genau soll da passieren? | |
Die Kindergrundsicherung wird ein Paradigmenwechsel sein. Es gibt | |
hierzulande etwa 150 Familienleistungen, da blickt kein Mensch durch. Es | |
braucht eine Leistung, die nach der Geburt eines Kindes schnell und | |
unbürokratisch an Familien ausgezahlt wird, nach einem digitalen Antrag. | |
Einen Garantiebetrag bekommen dann alle Kinder. Ein Zusatzbetrag kommt | |
einkommensabhängig obendrauf. Im Effekt führt das dazu, dass wir mehr | |
Kinder und Familien aus der Armut holen. | |
Wie hoch muss der Betrag sein, damit die Kindergrundsicherung ein | |
Fortschritt ist? | |
Da kann ich Ihnen momentan noch nichts Genaues sagen, das ist komplex. | |
Gibt es eine Mindesthöhe? | |
Auch da möchte ich mich noch nicht festlegen. | |
Besteht die Gefahr, dass der kombinierte Betrag unter dem liegt, was man | |
bisher über die Einzelleistungen beantragen kann? | |
Nein. Wir werden eine Kindergrundsicherung einführen, die ganz konkrete | |
Fortschritte bringt. Wir wollen vor allem den Kindern und Familien helfen, | |
die Unterstützung besonders brauchen. | |
Sie haben eine Soforthilfe für von Armut betroffene Kinder angekündigt und | |
gesagt, sie wird nicht im einstelligen Bereich liegen. Das heißt, sie wird | |
zweistellig? | |
Ja. | |
Wie hoch genau? Und einmalig oder monatlich wiederkehrend? | |
Den Sofortzuschlag bringe ich in enger Zusammenarbeit mit dem | |
Bundessozialminister Hubertus Heil auf den Weg. Wie hoch der Sofortzuschlag | |
sein wird und ob er monatlich oder jährlich ausgezahlt wird, werden wir | |
jetzt erarbeiten. Wichtig ist, dass der Sofortzuschlag unbürokratisch und | |
einfach ausgezahlt wird. Mit dem Sofortzuschlag helfen wir von Armut | |
betroffenen Kindern, bis wir die Kindergrundsicherung eingeführt haben. | |
Denn das geht nicht von heute auf morgen. | |
Nicht nur Hubertus Heil, auch Christian Lindner hat da als Finanzminister | |
ein Wörtchen mitzureden. Ist das Geld für eine nennenswerte Erhöhung | |
überhaupt da? | |
Für die Kindergrundsicherung soll es eine ressortübergreifende | |
Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesfamilienministeriums geben. | |
Hubertus Heil wird mit seinem Ministerium Teil davon sein, das | |
Bundesfinanzministerium ebenso. | |
Sie haben vorhin gesagt, dass man sich als Frauen- und Familienministerin | |
nicht nur beliebt macht. Gegen manche Liberalisierung formiert sich schon | |
Widerstand, zum Beispiel gegen die Abschaffung des Transsexuellengesetzes. | |
Was bedeutet das für Sie? | |
Themen der sexuellen Selbstbestimmung sind für mich eine Frage der Haltung. | |
Das hat immer Potenzial zur Gegenwehr. Auch als Ministerin für Integration | |
habe ich zum Beispiel von rechts Gegenwehr bekommen, weil ich mich klar für | |
Geflüchtete eingesetzt habe. Das ist nicht der Teil, den ich an meiner | |
Arbeit am liebsten mag, aber er gehört dazu. | |
Müssen Sie als Ministerin versuchen, auch diese Menschen mitzunehmen? | |
Für mich ist ein sachlicher, inhaltlicher, mit Argumenten geführter | |
politischer Diskurs eine wahnsinnige Bereicherung. Das ist für mich gelebte | |
Demokratie und Teil des Meinungsbildungsprozesses. Ich habe überhaupt | |
nichts dagegen, wenn es inhaltlich mal hart zur Sache geht. Aber wenn etwa | |
vor gynäkologischen Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, | |
Menschen stehen, die ungewollt Schwangere sowie ihre Ärztinnen und Ärzte | |
anfeinden, ist für mich eine rote Linie überschritten. Da werden Menschen | |
diffamiert. Das ist völlig indiskutabel. | |
Sie selbst sind aufgrund Ihrer Positionen als Integrationsministerin | |
ziemlich heftig angegangen worden und hatten Polizeischutz. Was heißt so | |
etwas für Sie persönlich? | |
Das war natürlich eine Umstellung. In meiner Heimatstadt ist eine | |
Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete, da wurde von rechts viel Stimmung | |
gemacht. Es gab Situationen, in denen es gut war, dass das Team da war. | |
Denken Sie, das entspannt sich als Frauen- und Familienministerin wieder? | |
Ich habe eine klare Haltung, ich brenne für meine Themen, und bei meiner | |
Grundhaltung bin ich nicht bereit, Abstriche zu machen. Wenn ich damit | |
Gegner auf den Plan rufe, ist das Teil meiner politischen Arbeit. Ich werde | |
meine Projekte mit meinem ganzen Engagement und meiner ganzen Leidenschaft | |
umsetzen. | |
Der Koalitionsvertrag nennt keine Zahlen für die Frauen- und | |
Familienpolitik – aber dafür einige finanzpolitische Mammutaufgaben. Die | |
Istanbulkonvention gegen Gewalt gegen Frauen zum Beispiel soll vorbehaltlos | |
umgesetzt werden. Wie soll das gehen? | |
Dass es Kosten nach sich zieht, die Istanbulkonvention umzusetzen, ist | |
vollkommen klar. Die Frage ist: Wie gestalten wir das? Gehen wir | |
stufenweise vor? Wir legen jetzt mit der Strategie los und wollen den | |
Gewaltschutz als ressortübergreifende Aufgabe wahrnehmen. Den runden Tisch | |
gibt es schon. Ein Schwerpunkt wird künftig die Finanzierung von | |
Frauenhäusern sein, die wir auf eine solide Basis stellen wollen. Wir | |
werden mehr Personal in Bund und Ländern brauchen. Das geht nur mit mehr | |
Geld. | |
Es gibt noch eine andere Mammutaufgabe im Koalitionsvertrag: Gleichstellung | |
soll in einem Jahrzehnt verwirklicht werden. | |
(alle lachen) Dass hier drei Frauenpolitik-erprobte Frauen herzlich lachen, | |
ist klar. Sollten wir das schaffen, hätte ich gern einen goldenen Pokal für | |
dieses Ministerium. Aber im Ernst: Ich werde alles daransetzen, dass wir | |
bei der Gleichstellung vorankommen, aber dass wir da in zehn Jahren ein | |
Häkchen dran machen, da bin ich zurückhaltend. | |
Es gibt einzelne Projekte auf dem Weg dorthin: Den Gender-Pay-Gap | |
abschaffen, Sorgearbeit fair verteilen … | |
Ja genau, das gehen wir an. Die gleiche Bezahlung ist total wichtig, aber | |
das Gesetz, das Auskunft über die Bezahlung gibt, ist ein ziemlich | |
zahnloser Tiger. Auskunft ist gut. Aber wir brauchen einen Hebel, damit | |
sich ungleiche Gehaltsstrukturen ändern. Wie der aussehen könnte, das | |
möchte ich diskutieren. | |
Frau Spiegel, sind Sie Familienministerin, weil Toni Hofreiter gecancelt | |
und dafür Cem Özdemir ins Kabinett geholt wurde? | |
Das war kein einfacher Tag. Aber in meiner Partei gibt es sehr, sehr viele | |
kluge und geeignete Köpfe – mehr, als es Ämter gab. | |
Neben den drei Realos Habeck, Baerbock und Özdemir brauchte es noch zwei | |
linke Frauen. Eine davon sind Sie. Für Hofreiter war kein Platz mehr. | |
Gesetzt waren Annalena Baerbock und Robert Habeck. Alles Weitere war ein | |
Prozess. Für uns ist es jetzt wichtig, nach vorne zu schauen. Meine Partei | |
hat politische Verantwortung in einer Regierung übernommen, und ich kann | |
mich nicht erinnern, dass die Herausforderungen jemals größer waren.Wir | |
müssen die Klimakrise bekämpfen… | |
… das dafür wichtige Verkehrsressort ging nicht an die Grünen, sondern an | |
Volker Wissing von der FDP. Sie kennen sich aus der Ampel in | |
Rheinland-Pfalz. Kann das gut gehen? | |
Natürlich. Wir haben fünf Jahre in der Landesregierung – er als | |
Verkehrsminister, ich als Familienministerin – zusammengearbeitet. Wir | |
kennen uns ganz gut, wir sind ab und zu mal einen Wein trinken gegangen und | |
haben uns ausgetauscht. Das ist ein wichtiges Fundament. Die Pandemie stand | |
in keinem Koalitionsvertrag, da wurden wir alle zusammen rein geworfen. | |
Was ist dabei nun das wichtigste? | |
Die Kinderimpfungen müssen gut vorangehen. Da gibt es riesigen Zuspruch, | |
und ich spüre viel Erleichterung bei den Familien. Weihnachten steht vor | |
der Tür. Kinder und Jugendliche hatten bislang nicht die stärkste Lobby in | |
der Pandemie, aber sie haben mit am meisten darunter gelitten. Ich hoffe, | |
dass es trotz aller Umstände ein schönes, besinnliches Fest wird, dass alle | |
mal durch schnaufen und Familien ein paar zauberhafte Momente zusammen | |
haben. | |
21 Dec 2021 | |
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