| # taz.de -- Kuraufenthalte von Kindern: Wir Verschickungskinder | |
| > Millionen Mädchen und Jungen mussten bis Ende der 1990er allein auf Kur | |
| > fahren. In den Heimen haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht. | |
| Bild: Borkum, 1963, Kinderkurheim: Unsere Autorin, erste Reihe, Vierte von rech… | |
| Die Erinnerung kam vor zwei Jahren bei einer Chorfreizeit zurück. Gundula | |
| Oertel saß mit den anderen im Speisesaal der Unterkunft. Eine Mitsängerin | |
| erzählte, wie sie als Kind zur Kur war und dort gezwungen wurde aufzuessen. | |
| Egal was es gab. Wenn sie das Essen erbrach, musste sie so lange vor dem | |
| Teller sitzen bleiben, bis sie auch das Erbrochene gegessen hatte. | |
| Plötzlich war alles wieder da, sagt Oertel, die langen dunklen Tische im | |
| Speisesaal, der Teller, vor dem sie als Fünfjährige stundenlang allein | |
| hocken musste, der Geruch von Milchreis, von dem ihr bis heute schlecht | |
| wird. | |
| Ein Flashback, der blitzartig Licht auf etwas warf, das sich als Bild tief | |
| in ihr Innerstes eingebrannt hatte. „Ich hatte lange keine Worte dafür“, | |
| sagt Oertel, nur diese Bilder, eher Details von Bildern, die durch das | |
| Gespräch mit der Mitsängerin hochgekommen waren. Weiße, auf einem breiten | |
| grau gekleideten Rücken gekreuzte Schürzenbänder. Bunte Sandförmchen, die | |
| ihr weggenommen wurden und die sie als Einziges in Farbe erinnert – alles | |
| andere ist „eisgrau“. „Wie habe ich es bloß geschafft, diese Erlebnisse … | |
| lange wegzudrücken?“, fragt sich Oertel. | |
| Und wie soll man über etwas reden, woran man sich gar nicht richtig | |
| erinnert, das man am liebsten schnell wieder vergisst? Wie kommt man einer | |
| Erfahrung auf die Spur, die einen geprägt hat, ohne dass man sie genau | |
| benennen könnte? Eine Erfahrung, die mit Angst und Scham einhergeht, in | |
| [1][nicht wenigen Fällen auch mit Traumatisierung]. Trauma: | |
| Verschickungskind. | |
| Zwischen 8 und 12 Millionen Kinder sind in der Bundesrepublik von Anfang | |
| der 1950er bis Ende der 1980er Jahre zur Kur geschickt worden. Weil sie zu | |
| blass, zu dick, zu dünn waren, weil sie Asthma hatten, Tuberkulose oder | |
| Neurodermitis. In der Regel verbrachten sie sechs Wochen, getrennt von | |
| ihrer Familie, in Kinderkurheimen und Kliniken an der Nordsee oder in den | |
| Bergen. Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen | |
| Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte, | |
| misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche | |
| ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und | |
| psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen | |
| Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente. | |
| Ich habe Gundula Oertel in den letzten Monaten bei ihrem Versuch der | |
| Aufarbeitung begleitet. Fragen, die sie sich stellt, stelle ich mir auch. | |
| Ich stelle sie mir aber erst, seitdem ich auf ihren Fall und auf das | |
| Phänomen der massenhaften Kinderverschickung aufmerksam gemacht wurde. Ihre | |
| Geschichte ist bei Weitem nicht die schrecklichste, sondern exemplarisch. | |
| Ich habe viele schreckliche Geschichten von ehemals als Kinder Verschickten | |
| kennengelernt. | |
| ## Nur zwei Erinnerungen | |
| Auch ich war ein Verschickungskind. Anders als Gundula Oertel fühle ich | |
| mich nicht traumatisiert. Zumindest bei unserer ersten Begegnung bin ich | |
| davon überzeugt. Ich habe nur zwei Erinnerungen an meinen Heimaufenthalt | |
| auf Borkum, die liegen wie Fotografien unter Glas. Sie haben mich mein | |
| Leben lang begleitet. Ich befinde mich auf der Fähre nach Borkum, mir ist | |
| schlecht, ich kotze, ich sitze auf dem Boden unter einem Tisch. Ich bin | |
| fünfeinhalb Jahre alt. | |
| Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich meine Eltern in Köln zum | |
| Bahnhof gebracht oder dort wieder abgeholt haben. Ich kann mich nicht an | |
| den Speisesaal oder Essensgerüche auf Borkum erinnern. Ich kann mich nicht | |
| an die Namen der anderen Kinder oder an die Betreuerinnen erinnern. Ich | |
| kann mich aber erinnern, dass ich im Freien stand, die anderen Mädchen | |
| aufgereiht mir gegenüber, vor ihnen eine Nonne, die mir befahl, vor ihren | |
| Augen in einem Eimer mit kaltem Wasser mein Bettlaken auszuwaschen. Ich | |
| hatte nachts ins Bett gekackt. Die Szene habe ich gestochen scharf in | |
| Erinnerung. | |
| Nicht nur Bestrafung, sondern auch öffentliches Beschämen, Zurschaustellung | |
| gehören zum klassischen Instrumentarium der Schwarzen Pädagogik. Ich weiß | |
| inzwischen, dass es in den Heimen verboten war, nachts aufs Klo zu gehen. | |
| Oft waren die Schlafsäle abgeschlossen. Ich besitze vier Fotos aus unserem | |
| Familienalbum, die zeigen: Unsere Gruppe bestand aus Mädchen, es gab | |
| Betreuerinnen (vermutlich Praktikantinnen), Nonnen. Draußen Dünen, | |
| Frühjahr. Alle Mädchen tragen Jacken und die Haare kurz, reißen den Mund | |
| zum Lachen grotesk weit auf. Ich besonders. „Sabine auf Borkum 1963“ hat | |
| mein Vater notiert. Mehr habe ich nicht. | |
| Wie viele Verschickungskinder habe ich das Problem, dass die Eltern tot | |
| sind und nicht mehr befragt werden können. „Ich werfe es ihnen nicht vor“, | |
| sagt Gundula Oertel, „dass sie mich auf Kur geschickt haben. Aber wirklich | |
| in Ordnung war es nicht.“ Der Kinderarzt hatte unseren Müttern das | |
| Zauberwort „Reizklima“ eingeflüstert, gut für Bronchien, Haut und das | |
| Immunsystem. Die [2][Schriftstellerin Felicitas Hoppe], mit fünf ebenfalls | |
| an die Nordsee verschickt, beschreibt ihre Ankunft in einer kleinen | |
| Erzählung, die den Titel [3][„Fieber 17“] trägt: | |
| „Auf der Insel lernte ich im Handumdrehen alles, was fühlen muss, wer nicht | |
| hören kann: die Ohrfeige und den Morgenappell, wie man zum Frühstück eine | |
| Tasse Salzwasser leert, wie sich ein Vorschulkind nachts durch die Betten | |
| prügelt und am Morgen danach in der Strafecke steht; dass, wer schwimmen | |
| kann, nur langsamer umkommt; dass man weder ungestraft Geschichten | |
| erfindet, noch ungestraft bei der Wahrheit bleibt: den Betrug beim Diktat | |
| von Ansichtskarten, die zu Hause den Eindruck vermitteln sollten, ich sei | |
| hier auf Urlaub und auf dem glücklichen Weg der Genesung. In Wahrheit war | |
| ich längst auf dem Weg, erwachsen zu werden, wenn ich jeden Montag von | |
| Neuem einer der Wärterinnen diktieren sollte, was sie auch ohne mein Zutun | |
| geschrieben hätte: Mir geht es gut. Und wie geht es euch?“ | |
| ## Prinzip der totalen Institution | |
| Viele Verschickungskinder berichten, dass sie gezwungen wurden, ihren | |
| Familien Postkarten mit positiven Nachrichten zu schicken. „Wir waren | |
| eingekerkert in einem System, das von außen nicht zu sehen war“, sagt | |
| Gundula Oertel. Das Prinzip der totalen Institution, nennt es die | |
| Sozialforschung, die den Begriff für Gefängnisse und Psychiatrien erfand, | |
| der aber auch auf Heime zutrifft, wie die Sozialwissenschaftlerin | |
| Birgit Behrensen sagt: von außen auferlegte Regeln, ein Ort der Isolation, | |
| Entmündigung und Ohnmacht. | |
| 2019 brachte [4][das ARD-Politikmagazin „Report Mainz]“ einen Bericht über | |
| Verschickungskinder und -heime, der eine Lawine in Gang setzte. Im gleichen | |
| Jahr gründete sich die bundesweite [5][Initiative Verschickungskinder], die | |
| inzwischen zahlreiche Landes- und Heimort-Gruppen hat. Auf der Webseite der | |
| Initiative können Betroffene Zeugnis ablegen von ihren Erfahrungen, über | |
| 5.000 Menschen haben bereits einen Fragebogen ausgefüllt. | |
| Oertel schloss sich in diesem Frühjahr einer Gruppe von | |
| Verschickungskindern an, die wie sie in St. Peter-Ording waren. Sie | |
| tauschten sich in Videokonferenzen aus. „Je mehr Details ich erfahre, je | |
| mehr Parallelen ich ziehen kann, desto mehr formt sich ein Bild.“ Im Juni | |
| 2021 trafen sie sich in St. Peter-Ording, spazierten gemeinsam zu den | |
| einstigen Heimorten. In welchem Heim sie untergebracht war, weiß Oertel | |
| nicht. „Ich fuhr dorthin mit der Vorstellung, vielleicht findet mein Körper | |
| das Heim.“ Sie fanden es nicht, sie und ihr Körper, zu dem sie seit | |
| Kindheitstagen ein gebrochenes Verhältnis hat. | |
| „Ich stehe im Leben“, sagt die heute 67-Jährige, die Biologie und | |
| Germanistik studiert hat, zum BUND als Campaignerin ging und sich später | |
| als Journalistin für Ernährungs- und Umweltthemen selbssttändig machte. | |
| „Ich habe kein verpfuschtes Leben. Aber die Beschäftigung mit diesem Thema | |
| fängt an, ein Licht auf Dinge zu werfen, die ich mir nie erklären konnte.“ | |
| Stereotype Albträume, Mobbing in der Schule, Vertrauensverlust in | |
| menschlichen Beziehungen. Eine Gesprächstherapie konnte „die Dämonen | |
| bändigen“, weg sind sie nicht. „Ich würde das gerne unterscheiden“, sagt | |
| Oertel. „Was sind meine persönlichen Macken, wie sie jeder hat, und was ist | |
| konkret auf die Kinderverschickung zurückzuführen?“ | |
| Themen, die Oertel und ich bei unseren Treffen immer wieder diskutieren: | |
| Was gehört zur individuellen Veranlagung, was sind später erworbene | |
| psychische Schwierigkeiten? Wie unterscheidet sich Erinnerung von Trauma? | |
| Warum sage ich, ich fühle mich nicht traumatisiert, sie dagegen schon? | |
| Es reicht ein Blick auf die Seite der Initiative Verschickungskinder, um zu | |
| sehen, dieser Eingriff in kindliche Leben hat großes Leid zugefügt. Fast | |
| alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden | |
| hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, | |
| Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und | |
| Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je | |
| wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische | |
| Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen | |
| wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also | |
| physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt. | |
| Viele Kinder haben geschwiegen, sind dort verstummt. Das Wort „Verstummung“ | |
| bringt bei mir etwas zum Klingen. | |
| Es gibt Menschen, die ihre Zeit im Kinderkurheim gut oder zumindest nicht | |
| brutal erinnern. Doch es reicht zu sehen, dass andere bis heute unter den | |
| Folgen leiden. Weit über tausend Heime hat es in der Bundesrepublik in der | |
| Hochzeit gegeben, etwa die Hälfte in privater Hand. An manchen Orten, auf | |
| Borkum zum Beispiel, waren es 30. Viel für eine kleine Insel. | |
| Anja Röhl nennt es eine „Kinderverschickungsindustrie“. Industrie, weil ein | |
| System dahinterstand, das ineinandergriff. Industrie, weil Millionen von | |
| Kindern betroffen waren. Und weil Menschen und Einrichtungen damit viel | |
| Geld verdient haben. | |
| Ich besuche Anja Röhl im Sommer in Fürstenwalde bei Berlin. Wir sitzen in | |
| ihrem Garten am Stadtrand, die Zucchini in ihrem Gemüsebeet gedeihen üppig, | |
| die eingefrorene Torte ist noch nicht ganz aufgetaut. Röhl, Jahrgang 1955, | |
| Tochter des gerade verstorbenen Publizisten Klaus Rainer Röhl und | |
| Stieftochter von Ulrike Meinhof, zweimal verschickt, hat im Frühjahr | |
| [6][ihr erstes Buch] zum Thema veröffentlicht, das Grundlagenforschung | |
| betreibt. Im Herbst wird das zweite Buch erscheinen, das Lebensgeschichten | |
| von Verschickungskindern protokolliert. | |
| ## Täglich Dutzende neue Mails von Betroffenen | |
| Die Sozial- und Heilpädagogin mit den langen grauen Haaren, die sie mit | |
| einem Band aus dem Gesicht fernhält, ist zur Aktivistin geworden. Sie war | |
| es auch, die die Initiative Verschickungskinder gegründet hat. Täglich | |
| treffen Dutzende neuer E-Mails von Betroffenen ein, die auf Antwort hoffen. | |
| Was ist Verschickung? | |
| „Das sind Institutionen, die sich Kindertagesstätte, Kinderheim, | |
| Kindererholungsheim, Kinderkurheim oder Kindersanatorium nannten. Allen | |
| gemeinsam ist, dass sie bis zu Sechs-Wochen-Kuren durchgeführt haben, mit | |
| Kleinkindern ab dem zweiten Lebensjahr, die allein dorthin verschickt | |
| wurden. Es war immer ein Arzt im Haus oder dem Haus angliedert. Es gab | |
| immer eine ärztliche Diagnose und sie wurde oftmals vom Gesundheitsamt | |
| verfügt.“ Die Kosten dafür trug die gesetzliche Krankenversicherung oder | |
| die Rentenversicherung, die zum Ausgleich Steuergelder bekamen. Die | |
| sogenannten Entsendestellen waren vertraglich an die Heime gebunden und | |
| verpflichtet, pro Jahr eine bestimmte Anzahl an Kindern aufzunehmen. Die | |
| Aufsicht über die Einrichtungen oblag normalerweise den | |
| Landesjugendämtern. | |
| Bei ihren Recherchen fiel Röhl jedoch auf, dass viele Kinderkurheime sehr | |
| darum bemüht waren, als „medizinisch-pflegerische Einrichtungen“ anerkannt | |
| zu werden, weil die Jugendämter dann nicht mehr zuständig für sie waren. | |
| Die lokalen Behörden schalteten sich selten ein – zumal die Kurkliniken ein | |
| wirtschaftlicher Faktor für die kleinen Nordseeinseln oder Luftkurorte | |
| darstellten. „In der Kinderheilkunde und Kinderkrankenpflege von damals | |
| muss sich etwas Unzeitgemäßes festgesetzt haben“, sagt Röhl, „abgekoppelt | |
| von der pädagogischen Entwicklung der Zeit. Etwas, das noch aus der Zeit | |
| des Nationalsozialismus und davor herrührte.“ | |
| Auch die Nationalsozialisten praktizierten, solange es der Krieg zuließ, | |
| Kinderlandverschickung. Sie reaktivierten Erziehungsmethoden, die mit viel | |
| Gefühlskälte auf Drill und Leistung setzten und eine lange Tradition | |
| hatten. Protestantische Ethik, katholische Doppelmoral. Man denke nur an | |
| den Film von Michael Haneke „Das weiße Band“, der noch im deutschen | |
| Kaiserreich spielt. | |
| ## Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen | |
| „Wir haben ganz viele Hinweise auf NS-ähnliche Nachinszenierungen“, stellt | |
| Röhl fest. „Manchen Kindern wurden am ersten Tag die Haare geschoren, | |
| woanders war es üblich, der ganzen Gruppe auf einmal die Mandeln | |
| herauszunehmen. Manchen wurde eine Nummer auf den Unterarm geschrieben, | |
| manche wurden die ganze Zeit mit einer Nummer angesprochen. Es ist | |
| gruselig.“ | |
| Röhl will das Argument, in den 50er und 60er Jahren seien härtere | |
| Erziehungsmethoden gängig gewesen, nicht gelten lassen. „Das geht teilweise | |
| weit über schwarze Pädagogik hinaus.“ Sie sieht inhaltliche und personelle | |
| Kontinuitäten, die in die NS-Zeit zurückreichen und sich in den wenig | |
| kontrollierten und oft isolierten Kinderkurheimen eine Nische und | |
| einträgliche Existenz schufen. | |
| Die Ämter wurden oft erst aufmerksam, wenn jemand zu Tode kam. In acht | |
| Akten fand Röhl fünf ungeklärte Todesfälle. Sie wurden untersucht, aber | |
| niemand zur Rechenschaft gezogen. Die [7][Diakonie Niedersachsen, die eine | |
| unabhängige Studie in Auftrag geben hat], hat in Obduktionsberichten zu | |
| Todesfällen in ihren Heimen Angaben zu einer möglichen „Erstickung durch | |
| Speisebreieinatmung“ gefunden. Die Staatsanwaltschaft, die diese Fälle | |
| untersucht hat, sah dennoch andere Gründe als todesursächlich an und | |
| schloss die Akten. So gesehen ist der Teller mit dem Milchreis, vor dem | |
| Gundula Oertel stundenlang sitzen musste, vielleicht doch nicht harmlos. | |
| Ich bin 1963 auf Borkum gewesen, ich vermute nach einer Hepatitis. Bis vor | |
| Kurzem wusste ich nicht, in welchem Heim. Ich beschließe, mit Gundula | |
| Oertel gemeinsam nach Borkum zu fahren, wo im November ein Kongress der | |
| Initiative Verschickungskinder stattfindet. Was erwartet sie vom Kongress? | |
| Zwei Punkte hat sie. Einen persönlichen: „Ich möchte gern wissen, wie | |
| frühkindliche Traumatisierung geschieht, welche Langzeitfolgen sie hat.“ | |
| Einen allgemeinen: „Welche Systematik steckt hinter der Kinderverschickung, | |
| und wie konnte es geschehen, dass die Würde von Kindern so eklatant | |
| verletzt wurde?“ | |
| ## Ich stehe davor – und fühle nichts | |
| Etwa 80 ehemalige Verschickungskinder sind zum Kongress gekommen, alle mit | |
| einer individuellen Geschichte. Es gibt Lesungen, wissenschaftlichen Input, | |
| Arbeitsgruppen. Silke Ottersberg, eine der Koordinatorinnen, hilft mir | |
| anhand meiner Fotos, das Heim zu identifizieren, in das ich als kleines | |
| Mädchen verschickt wurde. Es ist das Kinderkurheim Sancta Maria, das heute | |
| eine Mutter-Kind-Klinik ist. Ich stehe davor – und fühle nichts. | |
| Ich bin erstaunt, dass die Klinik unmittelbar an ein Wohngebiet angrenzt. | |
| Ich hatte mir die Lage isolierter vorgestellt. In der Borkumer Kulturinsel, | |
| wo der Kongress auf Einladung des Bürgermeisters stattfinden kann, gibt es | |
| eine kleine Ausstellung im Foyer, die Informationen zu den einzelnen Heimen | |
| zusammengetragen hat. Zu Sancta Maria hat jemand ein Aktenzeichen notiert. | |
| 1953 sind dort zwei Mädchen verstorben. | |
| Aber wo fängt man mit der Suche an, wenn einem beim Kongress in Bezug auf | |
| den eigenen Aufenthaltsort keiner weiterhelfen kann? Gundula Oertel, von | |
| Berlin aus nach St. Peter-Ording verschickt, hat bei der Berliner AOK | |
| nachgefragt – keine Antwort. Ich hake nach – keine Antwort. Könnten Akten | |
| zur Kinderverschickung im Landesarchiv Berlin gelandet sein? Oertel hat | |
| einen Platz im Lesesaal beantragt. Sechs Wochen Wartezeit derzeit, nur zehn | |
| Akten auf einmal. Vieles ist noch nicht digitalisiert. Sie beginnt mit den | |
| Jahren ab 1945. | |
| Oertel stößt auf ein Schreiben von 1949 an alle Berliner Schulen, in dem | |
| darum gebeten wird, „erholungsbedürftige Kinder“ zu entsenden. Sie findet | |
| die Kostenaufstellung für ein vom Hilfswerk Berlin betriebenes Heim in St. | |
| Peter-Ording, 1949. Sie stellt fest, dass zigtausende Kinder aus Westberlin | |
| zur Erholung ausgeflogen worden sind. „Alles lose Fäden“, sagt sie. Oertel | |
| hat erneut Archiveinsicht beantragt, der Archivleiter eine lange Fundliste | |
| geschickt. Mut hat man ihr dort dennoch nicht gemacht. | |
| Anders als Gundula Oertel weiß ich, in welchem Heim ich war. Geleitet wird | |
| es noch immer von den Franziskanerinnen vom Heiligen Märtyrer Georg zu | |
| Thuine im Emsland, Niedersachsen. Schwester Maria Cordis Reiker ist | |
| Generaloberin und telefonisch zu erreichen. Sie wirkt ernsthaft bekümmert | |
| und mauert doch. Der Orden habe eine Dokumentation bei einer unabhängigen | |
| Historikerin in Auftrag gegeben, nachdem sich einzelne Verschickungskinder | |
| gemeldet hätten. Sie soll Anfang 2022 erscheinen, mehr will sie vorab nicht | |
| sagen. | |
| Ob sie Kenntnis von den 1953 in Sancta Maria gestorbenen Mädchen hat?, | |
| frage ich mich und beschließe, der Sache selbst nachzugehen. Bei der | |
| [8][Suche im Archivinformationssystem] stoße ich auf kurze Inhaltsangaben | |
| der Archivare: „Personalsachen; Bericht und Zeitungsausschnitt zum Tod der | |
| 12-jährigen Margret aus Ochtrup und der 14-jährigen Carola aus Dortmund | |
| beim Baden (1953); Druckschrift: Flyer mit Fotos des Heimes und des | |
| Heimlebens; Grundriss; Postkarte; Beschwerdebrief einer Mutter über Gewalt | |
| an ihren Söhnen 1970; darauf basierend ein Zeitungsausschnitt zu einer | |
| gewalttätigen und die Post zensierenden Ordensschwester im Heim 1970.“ | |
| Allein diese Notizen belegen, dass zwischen 1953 und 1970 im Kinderkurheim | |
| Sancta Maria Vernachlässigung und Repression dazu gehörten. Zumal es | |
| Berichte aus anderen Heimen darüber gibt, dass Kinder, die nicht schwimmen | |
| konnten, zum Baden im Meer gezwungen wurden. | |
| Ab Anfang der 80er Jahre änderte sich die Gesetzgebung, Heime mussten | |
| zumachen, weil Diagnosen nicht mehr so leichtfertig erteilt wurden. Ihre | |
| Leitungen schrieben Bettelbriefe an Kommunen, Träger, Ämter, ihnen bitte | |
| Kinder zu überweisen, sagt Röhl. Die verbliebenen Heime haben sich in | |
| Mutter-Kind-Kurkliniken verwandelt. In der Inselbahn von Borkum-Hafen nach | |
| Borkum-Ort sitzt uns eine Mutter mit ihrer Tochter gegenüber. Das Mädchen | |
| ist fröhlich, ihr Koffer eine Sensation: ein Londoner Bus, auf dem sie wie | |
| auf einem Bobbycar fahren kann. Ab dem Moment, als die Mütter mit ihren | |
| Kindern zur Kur fuhren, änderte sich die Atmosphäre in den Kurheimen. | |
| Plötzlich waren da Angehörige, die aufpassten, Ärger machen konnten. | |
| Bei dem Kongress auf Borkum sehe ich Tränen fließen. Ich lerne Menschen | |
| kennen, die eine Traumatherapie machen, aber auch andere. Jörn, der | |
| manisch-depressiv ist und sein Leben lang falsch therapiert worden ist. | |
| Friedhelm, der ein Bild mitbringt, das er vor Kurzem von seinem Jahrzehnte | |
| zurückliegenden Aufenthalt in Sancta Maria gemalt hat: schwarze | |
| gesichtslose Gestalten, der Nonnenhabit, säumen den Weg zum Strand, den wir | |
| Kinder in Zweierreihen marschieren mussten. Regina, die weggesperrt wurde | |
| und der man zu Hause nicht geglaubt hat. Stefan, den seine Eltern nicht | |
| wiedererkannten. Silke, die mit dem Gehstock der „Tante“ verprügelt wurde. | |
| Gundula Oertel reichte es irgendwann nicht mehr, ihrer persönlichen | |
| Geschichte hinterher zu recherchieren, auch wenn sie damit noch lange nicht | |
| abgeschlossen hat. Sie engagiert sich jetzt in der Berliner Aktivengruppe | |
| der Initiative Verschickungskinder, wo es um Strukturen, Sichtbarkeit, die | |
| politische Ebene geht. Im Zug sagt sie: „Alle sind wir von der Verschickung | |
| betroffen, aber unterschiedlich intensiv. Doch jetzt verschiedene | |
| Betroffenheiten gegeneinander aufzurechnen, führt nur dazu, die | |
| schwerwiegenden Fälle wie Einzelfälle erscheinen zu lassen. Was uns alle | |
| eint, ist doch, dass wir dem Risiko ausgesetzt waren.“ | |
| Marie Luise Schreiter, Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Uni | |
| Tübingen, beim Kongress live zugeschaltet, unterscheidet zwischen dem | |
| plötzlichen „Schocktrauma“ und dem „Entwicklungstrauma“, das sich über | |
| einen längeren Zeitraum in der Kindheit bildet. Bei Kindern sei das Gehirn | |
| noch sehr formbar, und traumatische Erlebnisse könnten sowohl die | |
| Entwicklung kognitiver als auch die emotionaler Verarbeitungsprozesse im | |
| Gehirn beeinträchtigen. Normalerweise stehen diese Prozesse in sensibler | |
| Balance, aber wenn das junge Gehirn in emotionalen Stress gerät, werden | |
| Botenstoffe ausgeschüttet, die zu langfristigen Veränderungen führen | |
| können. Zu Angstzuständen, Blockaden, Konzentrationsproblemen oder | |
| Depressionen. Jeder kennt es: Kein klares Denken ist mehr möglich, die | |
| Emotionen bestimmen das Verhalten, oder es herrscht Schreckensstarre. | |
| Werden die zugrunde liegenden traumatischen Erlebnisse später getriggert, | |
| kann dies das Gehirn in den gleichen physiologischen Zustand versetzen wie | |
| damals. Das Gehirn vermag dies nicht zu kontrollieren. Es muss lernen zu | |
| differenzieren. | |
| In einer speziellen Therapie können Menschen lernen, die physiologischen | |
| Signale unter Kontrolle zu bringen. Die herkömmlichen Therapieformen seien | |
| dafür allerdings teils unzureichend oder ihre Konzepte veraltet, sagt die | |
| Tübinger Neurowissenschaftlerin eine Woche später am Telefon. Schreiters | |
| Abteilung wird den Fragebogen der Initiative auswerten, den das Berliner | |
| Nexus Institut in Zusammenarbeit mit Anja Röhl konzipiert hat. Von den | |
| 5.000 Mitmachenden haben sich 2.500 zu weiteren Untersuchungen bereit | |
| erklärt. | |
| Schreiter begrüßt, dass der Koalitionsvertrag der neuen Regierung auch | |
| Bürgerforschung gezielt zu fördern verspricht. Bei der Bürgerforschung – | |
| auch Citizen Science genannt – nehmen Betroffene die Forschung selbst in | |
| die Hand, indem sie, unterstützt von wissenschaftlichen Einrichtungen, | |
| selber Daten sammeln und ihre eigene Expertise einbringen. Dies war auch | |
| eine wesentliche Forderung der Initiative, verschiedene Institute haben | |
| bereits mit Forschungsvorhaben angedockt, eine Studie zu | |
| Medikamentenmissbrauch ist in Arbeit. | |
| Ich frage Marie Luise Schreiter: Haben wir nicht alle unser Trauma? Wird | |
| der Begriff zu verschwenderisch benutzt? | |
| „Als Faustregel gilt“, sagt sie, „wenn Leidensdruck da ist, der durch | |
| hochemotionale Erinnerungen entstanden ist, kann man von Traumatisierung | |
| sprechen. Diese können, müssen aber nicht in der Kindheit oder durch ein | |
| einziges Erlebnis ausgelöst worden sein.“ | |
| „Natürlich ist es so“, sagt Anja Röhl, „dass wir alle mit bestimmten | |
| Traumamischungen leben lernen müssen. Die Kinderverschickung ist dabei | |
| manchmal eine ungute Grundierung im Leben, weil sie schon sehr früh erfolgt | |
| ist.“ | |
| Entscheidend ist, sagt eine befreundete Psychologin, dass sich Erlebnisse | |
| zu einer traumatischen Erfahrung verdichten, wenn sie nicht mitgeteilt | |
| werden können, wenn man damit allein bleibt. Weil Eltern ihren Kindern | |
| nicht glaubten oder Kinder sich ihren Eltern nicht anvertrauten. | |
| Ich bin mir sicher, dass ich mit meinen Eltern nicht über das eingekackte | |
| Bettlaken gesprochen habe. Nicht über die Scham, öffentlich vorgeführt | |
| worden zu sein. Fällt es mir deswegen schwer, für mich einzutreten, vor | |
| anderen zu sprechen? | |
| „Meine Erinnerung ist körperlos“, sagt Gundula Oertel. „Ich habe nur den | |
| Gefühlsgehalt der Bilder, an die ich mich erinnere, im Kopf. Ich war | |
| distanziert, vielleicht sogar sediert.“ Anders als Erinnerungen haben | |
| Traumata kein Narrativ. Sie ändern, sie verformen sich nicht. | |
| ## Bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele | |
| Sie bleiben bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele liegen. „Es ist ein | |
| schwarzes Loch“, sagt ein Kongressteilnehmer. „Das verunsichert, weil man | |
| nicht weiß: Welche Programmierung habe ich damals bekommen, die ich nicht | |
| kenne?“ | |
| Der Kongress beschließt eine Resolution, die auf die Webseite der | |
| Initiative wandert. Gundula Oertel versucht, eine Formulierung | |
| einzubringen, die mehr auf das Politische, die Gemeinsamkeiten aller | |
| Verschickungskinder hinweist. „Spätestens, sobald Entschädigung gefordert | |
| wird, erweist sich die Verengung auf individuelle Schicksale als | |
| schwieriges Terrain.“ | |
| In Berlin verabredet sie sich mit dem 72-jährigen Historiker Karl | |
| Pechatscheck und anderen ihrer Ortsgruppe zum Videogespräch. Pechatscheck | |
| hat ein internes Papier verfasst, Oertel hat es aufgegriffen und | |
| weitergeschrieben. Dem Historiker liegt daran, die Kinderrechte allgemein | |
| in den Fokus zu stellen, nach vorne und nicht zurück zu blicken. Oertel | |
| hingegen will den eigentlichen Skandal aufarbeiten, der hinter dem System | |
| Kinderlandverschickung stand. | |
| Auf Landesebene hat sich etwas getan. In Nordrhein-Westfalen, | |
| Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein hat es Anhörungen im Landtag | |
| gegeben. Baden-Württemberg hat einen runden Tisch eingerichtet, | |
| Nordrhein-Westfalen hat am 30. November einen solchen beschlossen. | |
| ## In zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch | |
| Auf Bundesebene geht es langsamer. Dort fand zwischen der Initiative und | |
| den zuständigen Ministerien in zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch statt. | |
| Die angekündigte Fortsetzung des „Fachaustauschs“ sei „bislang nicht | |
| möglich gewesen“, schreibt ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums auf | |
| Anfrage der taz, „da sich die Bundesregierung im Sommer intensiv den | |
| gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona | |
| gewidmet hat und derzeit die Regierungsneubildung ansteht“. Immerhin wollte | |
| der SPD-Bundesparteitag am vergangenen Wochenende über einen Antrag zur | |
| Aufarbeitung der Kinderverschickung abstimmen. | |
| Die Initiative hat einen Forschungsverein gegründet, Vorsitzende ist Anja | |
| Röhl. „Wir streben kollektive Wiedergutmachung an“, sagt sie, „in Form v… | |
| Beratungsstellen und Unterstützungsangeboten bei der Heimort-Recherche und | |
| Bürgerforschung. Wir brauchen runde Tische, individuelle Entschädigungen | |
| sind nicht unser vordringlichstes Thema. Wer will 12 Millionen | |
| entschädigen? Wir wollen einen Skandal aufklären!“ | |
| Auch Gundula Oertel erwartet kein Geld, sondern wünscht sich tatkräftige | |
| Unterstützung auf allen Ebenen. „Menschen haben keinen Wert, sie haben | |
| Würde“, sagt sie, ein Zitat von Immanuel Kant. | |
| Und Kinder haben Rechte. Auch diejenigen, die mal Kinder waren. Und das | |
| Kind, das ich mal war, sagt mir, dass ich vielleicht mit einer anderen | |
| Traumamischung zu tun habe, als ich bisher dachte. | |
| 14 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verschickungskinder-in-Westdeutschland/!5687801 | |
| [2] http://www.felicitas-hoppe.de | |
| [3] https://doerlemann.com/6492 | |
| [4] https://www.ardmediathek.de/video/report-mainz/wie-kinder-in-kurheimen-syst… | |
| [5] https://verschickungsheime.de | |
| [6] https://www.psychosozial-verlag.de/3053 | |
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| Sabine Seifert | |
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