# taz.de -- Abgebrochene Mutter-Kind-Kur: Holt mich hier raus! | |
> Mutter-Kind-Kuren versprechen Erholung. Aber manchmal sind die anderen | |
> Mütter dort die Hölle. Ein Erfahrungsbericht zum Muttertag. | |
Bild: Nicht nur beim Essen wird unsere Autorin von anderen Müttern für das Be… | |
Ich bin nicht krank. Aber bevor ich es werde, hat mir meine Hausärztin zu | |
einer Mutter-Kind-Kur geraten, denn ich habe zwei Kinder, einen Job, in den | |
ich gern mehr Zeit investieren würde, ein ausgeprägtes Verlangen nach einer | |
aufgeräumten Wohnung, eine pflegebedürftige Mutter, eine Beziehung und | |
Freunde, die ich gern ab und zu treffe – die bekannten Probleme, man könnte | |
es auch die typische Work-Life-Imbalance nennen. | |
Dass ich fast nie durchschlafe, weil nachts immer ein Kind in mein Bett | |
kommt, ist wahrscheinlich der Hauptgrund für meine Beschwerden: | |
Erschöpfung, Reizbarkeit, Unzufriedenheit. Die Krankenkasse bewilligt mir | |
die Kur sofort, es fühlt sich an wie ein Hauptgewinn. Freundinnen und | |
Bekannte geben sich neidisch. Ich darf also drei Wochen lang in ein Hotel | |
mit Pool in Glanzprospekt-Umgebung und muss mich nur um mich selbst | |
kümmern. Meine Kinder, 2 und 4 Jahre alt, werden betreut, verpflegt – und | |
sie werden viel Spaß haben. | |
Als wir ankommen, wird aber schnell klar: Ein paar Kompromisse werden wir | |
machen müssen. Das Wellnesshotel aus dem Katalog erweist sich als eine Art | |
Pflegeheim mit dem Charme einer Besserungsanstalt. Vor allem aber scheint | |
das Personal selbst reif für eine Kur, keiner ist hier richtig freundlich. | |
Gleich zu Anfang müssen wir fast drei Stunden beim Kurarzt warten, meine | |
Kinder randalieren ein bisschen im Wartezimmer, wir ernten strenge Blicke. | |
Auweia. | |
Aber: Das Zimmer ist schön, die Gegend auch. Doch bevor es mit Moorpackung | |
und Sauna losgeht, steht erst mal ein „Team-Modul“ auf dem Plan. 21 Mütter | |
sind mit mir hier. Jede Woche kommt eine neue Fuhre, die jeweils drei | |
Wochen bleibt. Unsere Gruppe ist die „weiße“ Gruppe, raunt uns die elegant | |
gekleidete Klinikchefin zu. Sie empfängt uns – „ihre“ Frauen – im | |
Kaminzimmer, es gibt Kaffee und Kekse. Die Farbe Weiß soll offenbar | |
identitätsstiftend sein und zum Zusammenhalt animieren. | |
## Keine Solidarität zwischen den Müttern | |
Ich schaue mich um und blicke in entnervte Mienen, müde Gesichter. Das | |
Gefühl einer verschworenen Gemeinschaft stellt sich nicht ein. Die ersten | |
meckern über freilaufende Kinder im Speisesaal. Ich fühle mich ertappt. | |
Mein Sohn ist einer derjenigen, die sich in Anwesenheit anderer Kinder | |
schnell zum rebellischen Aufrührer erwählt fühlen. Für ihn sind die | |
Mahlzeiten eine einzige Party. Er rennt von Tisch zu Tisch und scheucht | |
selbst die bravsten Kinder auf. Die bösen Blicke der anderen Mütter sind | |
für ihn der spannendste Teil dieses Spiels – sie sind die Monster, denen es | |
auszuweichen gilt. Mich machen diese Blicke nervös. | |
Wir erleben im Speisesaal, wie eine junge Mutter aus Sachsen ihre beiden | |
Kleinkinder im Minutentakt niederschreit. Neben ihr verdreht eine Frau aus | |
Rügen die Augen, ein Ausdruck großbürgerlicher Verachtung für die fehlende | |
Contenance der anderen. Andere Frauen sitzen tuschelnd beisammen, ich | |
stelle mir vor, wie sie über all die Mütter lästern, deren Kinder strenge | |
Zurechtweisungen eiskalt ignorieren. | |
Über Mütter wie mich zum Beispiel. Kaum habe ich die Kinder beim Abendessen | |
aus ihren Anoraks geschält und mit autoritärer Geste auf ihre Plätze | |
verwiesen, rase ich zum Buffet. Schnell für drei Personen dreimal Essen und | |
Trinken holen, beim Apfelsaftspender staut es sich, beim Salat muss ich | |
warten, bis das Dressing nachgefüllt ist. Ein hastiger Blick zum Tisch: | |
Meine Tochter sitzt ruhig auf ihrem Stühlchen, der Platz meines Sohnes ist | |
– leer. | |
Da kommt mir bereits eine zornige Mutter entgegen. „Dein Sohn hat mich | |
gerade angespuckt“, schreit sie durch den Saal. Mir schlägt Häme entgegen. | |
Man hat es offenbar kommen sehen. „Wundert mich nicht“, giftet eine Mutter, | |
die ich bis dahin eigentlich nett fand. „Mit der richtigen Erziehung kriegt | |
man so etwas in den Griff“, schießt eine andere in meine Richtung. | |
## Ärger auf sich selbst und die eigenen Kinder | |
Meine Wut richtet sich gegen mein Kind. Wie kann es mich nur so bloßstellen | |
vor den anderen? Ich schnappe meinen Sohn, zische einige Drohungen und | |
zwinge ihn, sich sofort zu entschuldigen. Die Angespuckte zeigt sich noch | |
immer empört, so was sei ja wohl das Allerletzte. Ich will ihr gerade | |
zustimmen, da fällt mir ein, nochmal nachzufragen: „Was hat er eigentlich | |
genau gemacht?“ „Na, die Zunge hat er mir rausgestreckt!“ Dabei habe er m… | |
den Lippen geprustet. Das fällt also in die Kategorie Anspucken? | |
Ich ärgere mich über mich selbst: Ein bisschen mehr zum eigenen Kind stehen | |
wäre wohl angebracht. Aber die Zweifel an meiner Erziehungsweise werden | |
trotzdem bei mir lauter. Wieso gehorcht das Kind mir nicht? Wieso klappt es | |
nicht, mit Geduld, Zureden und hier und da ein paar Konsequenzen? | |
Im Kommunikationskurs lerne ich am nächsten Tag: Ich sende zu viele | |
„Du-Botschaften“. Ich bin einfach zu inkonsequent, müsste die Kinder mehr | |
„führen“. Mir fällt ein Hollywoodfilm ein, in dem ein Polizist seinem Hund | |
klarmacht, dass er das Alphatier ist. Vielleicht probiere ich es mal damit, | |
meinem Sohn minutenlang in die Augen zu starren? Aber gerade das Wilde, | |
Ausgelassene an seinem Wesen finde ich besonders liebenswert, wenn zugleich | |
auch besonders anstrengend. | |
Ich stehe unter Druck. Das kenne ich schon aus meinem Alltag. Seit ich | |
Kinder habe, wird mir von allen Seiten erklärt, dass es nun gilt, | |
verantwortlich zu handeln, sich erwachsen zu benehmen, ein gutes Vorbild zu | |
sein. Oft wird man auf dem Spielplatz darauf hingewiesen, dass das eigene | |
Kind gerade einem anderen die Schaufel weggenommen habe. Gefolgt von ein | |
paar Ratschlägen, wie man diesem Verhalten entschlossen entgegentreten kann | |
– nein, muss. Bezeichnenderweise bekommt mein Freund solche Ratschläge nie | |
zu hören. | |
Und ehrlicherweise muss ich zugeben, dass auch ich im Mütter-Wettkampf | |
mitmache. Wenn wahllos Süßigkeiten und Chips verteilt werden oder ein Kind | |
auf seinem iPad spielt, schüttele ich innerlich den Kopf über so viel | |
Unvernunft. Es ist die böse Mother-Blaming-Spirale, in der ich auch | |
gefangen bin. | |
## Volles Programm | |
In einer Mutter-Kind-Kur bekommt man all das in konzentrierter Form ab. Und | |
ich habe unterschätzt, wie sehr es mir die Laune verdirbt, ständig auf | |
meine Defizite als Mutter hingewiesen zu werden. Vor allem von Mitmüttern. | |
Sei es als guter Ratschlag oder als Kopfschütteln. Wie wohltuend ist es da, | |
wenn mal eine sagt: „Kenn ich, habe ich auch, das Problem.“ Sind wir nicht | |
alle hier in der Kur, weil wir irgendwie dieses Muttersein nicht so ganz | |
auf die Reihe kriegen? | |
Zumindest geht es von morgens bis abends genau darum. Wie kann ich mich und | |
meine Lebensführung optimieren. Beratungskurse, um die Zeit besser | |
einzuteilen, Sport und Magerkost gegen das notorische Übergewicht – los, | |
los, nicht so faul da, Bewegung, Bewegung! Die Arme anwinkeln, die Stöcke | |
schwungvoll federn lassen. Die Maschine wird geölt, und wenn es läuft, wie | |
es soll, kann sie nach der Reparatur wieder verwendet werden, fast wie | |
zuvor. Aber bitte achten Sie auf eine sorgfältige Wartung. Zur Beruhigung | |
etwaiger Stockungen im Getriebe, durch Heulkrämpfe oder Wutanfälle, | |
empfehlen wir tiefes Durchatmen, ein schönes Mandala oder immer wieder den | |
Satz: „Sie geben einem doch so viel zurück.“ | |
Denn klar, es ist einfacher, Mütter in eine dreiwöchige Kur zu stecken und | |
uns mit Durchhalteparolen zu einem noch effektiveren Umgang mit unserem | |
Leben, unseren Kindern, unseren Körpern anzutreiben, als eine ganze | |
Gesellschaft zu mehr Toleranz, Gelassenheit und Wertschätzung zu bringen. | |
Bei aller Niedergeschlagenheit in den ersten Kurtagen versuche ich aber | |
optimistisch zu bleiben. Immerhin, die Eingewöhnung in der Klinikkita | |
klappt bestens, beide Kinder gehen morgens fröhlich in ihre Gruppen. Dieses | |
Glück hat auch nicht jede. Auf meinem Wochenplan steht: Aerobic, Nordic | |
Walking, Aqua-Fitness, Schlammpackungen und Kneippkur – hört sich gut an. | |
Und tut auch wirklich gut. | |
Aber kaum hat das Programm begonnen, wird am Abend des ersten Aktivtags | |
meine Tochter krank. Durchfall, hohes Fieber, Kopfweh. Ich gehe zum Arzt, | |
der uns unter Quarantäne stellt. Ich beuge mich der höheren Gewalt und | |
mache das Beste daraus. Zu Hause würde ich ja trotzdem einkaufen oder | |
arbeiten müssen – hier lege ich mich zu meiner Tochter ins Bett. | |
Sie hat sich gerade in den Schlaf geheult, da fällt mir ein: Ich muss ja | |
meinen Sohn abholen. Ich rufe in der Kinderbetreuung an: Könnte ihn jemand | |
ausnahmsweise herbringen? Es sind ja nur etwa knapp 200 Meter. Die Frau am | |
anderen Hörer unterbricht mich: Für so etwas gebe es keine Kapazitäten. Sie | |
legt einfach auf. Ich bin verzweifelt und wütend. Dann wird mir bewusst: | |
Die Verweigerung jeglicher Empathie ist hier offenbar Teil des | |
Lernprozesses. Mir soll beigebracht werden, allein klarzukommen, mir selbst | |
zu helfen. Wie naiv war ich eigentlich, das Ganze hier mit einem | |
Erholungsurlaub zu verwechseln? | |
## Der Abbruch macht traurig, befreit aber auch | |
Allmählich beschleicht mich das Gefühl, dass es das Ziel dieser Kur ist, | |
Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass mein echtes Leben nicht ganz so | |
anstrengend ist. Nach knapp zwei Wochen bin ich von den Blicken, der | |
giftigen Atmosphäre und meinem eigenen Unvermögen so aufgeraucht, dass ich | |
meinen Freund anrufe und ihn bitte, uns vorzeitig abzuholen. | |
Auf der Rückfahrt regnet es. Je näher wir Berlin kommen, desto ruhiger | |
werde ich. Ich fühle mich befreit – und gleichzeitig furchtbar traurig. Was | |
hat diese Kur jetzt gebracht? Zumindest eines: die Erkenntnis, dass wir | |
Mütter uns nicht hinreißen lassen sollten, uns gegenseitig zu vergleichen | |
und zu verurteilen. Niemand hat gesagt, dass es leicht ist. Aber lasst es | |
uns gegenseitig nicht noch schwerer machen, als es schon ist. | |
13 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Sunny Riedel | |
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