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# taz.de -- Misshandlung eines Verschickungskindes: Zu zart gebaut, sagte der A…
> Auf Kur wurde unser Autor als Kind misshandelt. Die Gewalt der
> Heimerziehung beruhte auch darauf, dass er nicht dem Männlichkeitsideal
> entsprach.
Bild: Hervorstehende Schulterknochen seien mädchenhaft, bekam unser Autor im H…
Verschickungskind. Diesem Begriff ordne ich mich zu. Ich habe mich schon
lange nicht mehr zugeordnet. Zuletzt als Kind. Als Fußballfan des FC
Bayern. Ich fuhr mit Papa ins Stadion. Nach Offenbach, zum Bundesligaspiel
gegen Bayern München.
Ich bekam eine FC-Bayern-Fahne, eine Autogrammkarte mit Bild von Franz
Beckenbauer hatte ich schon. Das Bild von Franz Beckenbauer trug ich immer
bei mir, auch bei meiner ersten Verschickung, in Karlshafen. Von diesen
Verschickungserlebnissen berichtete ich [1][erstmals in der taz im
vergangenen Jahr.]
Das Bild durfte ich nicht behalten. Die Nonne nahm es mir ab, so wie alle
persönlichen Dinge. Ich versuchte ihr zu erklären, was mir das Bild
bedeutet, aber sie hörte mir nicht zu. Ich musste mich fügen und sah noch,
wie sie das Bild in den Papierkorb warf.
Ich [2][wurde zwangszugeordnet]. Antreten in Zweierreihen. Schweigen, wenn
man nicht gefragt wurde, aufessen und Hagebuttentee trinken unter Zwang,
jeder kleinste Regelverstoß mit Prügel bestraft. Das Bild malen, das im
Malbuch vorgegeben ist, niemals das, was im Kopf ist. Zur Lüge gezwungen
beim Schreiben nach Hause: „Mir geht es hier sehr gut, alle sind nett zu
mir, ich habe auch kein Heimweh.“ Wahrheit verboten. Ich hatte
schreckliches Heimweh.
## Nicht mehr allein sein
Danach wollte ich mich nicht mehr zuordnen, nie mehr. Keiner Partei, keiner
Nation, keiner Ideologie. Lange Zeit hatte ich die Verletzungen meiner zwei
Verschickungen verdrängt. Und wenn sie doch mal hervorkamen, ordnete ich
sie Theaterfiguren zu, die ich für meine Stücke schuf, so als hätten sie
eigentlich nichts mit mir zu tun. Schon als Kind war das eine Strategie von
mir: zu tun, als sei man gar nicht da. Äußerlich da sein, still, brav,
folgsam – und innerlich ganz woanders.
Verschickungskind. Zugeordnet. Nicht mehr allein. Schlagartig nicht mehr
allein, als ich eine Reportage im Fernsehen sah, im „Report Mainz“, wo
Verschickungskinder ihre zumeist traumatischen Geschichten erzählten. Der
Austausch begann. Plötzlich kam es mir seltsam unwirklich vor, dass ich
geglaubt hatte, nur ich hätte all diese Schmerzen und Demütigungen in den
sogenannten Kuren erlebt, und so empfunden, weil ich so ein empfindsamer
Junge war. Überempfindsam für einen Jungen, wie mir beigebracht wurde.
Was für ein Unsinn, dachte ich, als ich die Geschichten der anderen hörte
und las. Es gab mittlerweile eine Internetseite für Betroffene und schon
bald stellte ich auch meine Geschichte der Verschickungen dort ein, schrieb
daran, erinnerte, schrieb weiter, auf meine Weise. Und jetzt waren es meine
Geschichten, nicht mehr die meiner Theaterfiguren.
In Marburg nahm ich Kontakt [3][zu anderen Betroffenen auf], die hier
wohnten. Wir gründeten eine Regionalgruppe für Hessen. In Zeitungen, Radio
und Fernsehen wurden unsere Geschichten öffentlich, auch meine. In diesem
Wechselspiel von Öffentlichkeit, Interviews, Austausch mit anderen
Betroffenen erinnerte ich mich immer weiter, lösten sich die Bilder aus dem
Verborgenen, fand ich die Worte dafür.
Ich wurde angesprochen, auch von Unbekannten, die mich anriefen, mir
schrieben. Es hatte etwas angefangen, was über den persönlichen Austausch
hinausging. Die Demaskierung eines Systems der Menschenverachtung, welches
nur scheinbar nicht mehr existierte.
## Nazi-Ideologie
Die Ideologie der Nazis wucherte in der Nachkriegs-BRD weiter. Weitgehend
im Verborgenen, im Verdrängten, und hatte doch ganz konkrete Auswirkungen
in der Realpolitik, im Zusammenleben der Menschen. In Heimen, Psychiatrien,
teilweise auch in den Schulen ließ sich die „schwarze Pädagogik“ der
Nazi-Ideologie ungehindert ausleben. Und damit auch geschlechtsspezifische
Rollenfestlegungen bis hin zu sexualisierter Gewalt.
Deshalb ist der Titel meiner Erzählungen, aus denen dann ein Buch geworden
ist, „Verschickungsjunge“‚ – nicht „Verschickungskind“. In unserer
Regionalgruppe stand zunächst das Erzählen der Geschichten und das Zuhören
im Mittelpunkt. Es wird auch nicht aufhören, denn mit dem Erzählen und
Zuhören lösen sich auch Erinnerungen aus dem Verborgenen und können
weitererzählt und gehört werden.
Da waren Menschen, die im Vorschulalter verschickt wurden und dachten, dass
sie ihre Eltern nie wieder sehen würden. Menschen, die als Kinder gezwungen
wurden, andere zu schlagen, wenn die ins Bett gemacht hatten, Und wir
stellten in unserer schnell wachsenden Gruppe fest, dass wir Menschen aus
unterschiedlichen Generationen waren, die Zeitspanne reichte von
Verschickungen in den 1950er Jahren bis in die 1990er.
Neben drastischen Fällen von Qual und Erniedrigung sind es auch die
scheinbar kleinen Dinge, die für Kinder lange nachwirkende Wunden
hinterlassen können. Es sind übereinstimmende Erfahrungen, die das System
der menschenverachtenden Heimerziehung deutlich machten. Die herablassende
Art der Erzieher*innen. Der rücksichtslose Essenszwang.
## Misshandlungen aller Art
Das Zurschaustellen der Kinder, die ins Bett gemacht hatten. Der Zwang zur
Lüge, in dem der Text der Post nach Hause diktiert und keine ehrlichen
Aussagen zugelassen wurden. Das Öffnen der Briefe der Eltern an ihre
Kinder. Das Alleingelassen werden der Kinder mit ihren Ängsten, Sorgen und
Nöten.
Wie sehr dies bis hin zu nicht überwindbaren Auswirkungen im
Erwachsenenalter gehen konnte, verstand ich, als mir eine Frau erzählte,
die mit mir außerhalb unserer Gruppe Kontakt aufgenommen hatte. Sie war
mehrfach verschickt worden und erzählte von der Einsamkeit, ihren Ängsten,
ausgeliefert zu sein. Die Betreuerinnen empfand sie als gefühlskalt, eine
gegenseitige Unterstützung der Kinder untereinander gab es nicht. Die
dadurch ausgelöste Zerstörung des Vertrauens zu anderen Menschen blieb für
sie auch im erwachsenen Leben bestehen, erzählte sie.
Hinzu kam, dass ihre Verschickungserlebnisse von Therapeut*innen
bislang nicht ernst genommen wurden. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein vom
Leben der anderen, konnte sie nie überwinden, mit ihren Trennungsängsten
nicht umgehen, war ihre Schlussfolgerung. Jetzt hofft sie, dass sich dies
durch den Austausch mit anderen Betroffenen ändert.
Die ohnehin in der Gesellschaft tief verwurzelte Festlegung von
geschlechtsspezifischen Rollen wurde in der Heimerziehung massiv verstärkt.
Das führte teilweise zu Fällen von sexualisierter Gewalt. Mädchen und
Jungen hatten so zu sein, wie es ihren Rollen entsprach. Insbesondere bei
meiner zweiten Kur nahm ich wahr, wie dies auch von den Betreuer*innen
vorgelebt wurde. Der „Chef“, ein Mann, gab die Erziehungsmethoden vor, die
weiblichen „Tanten“ hatten dies umzusetzen. Das Weiche, Zarte, zu sehr
Fantasievolle war bei uns Jungs auszulöschen.
„Das Kind ist für einen Jungen zu zart gebaut“, hatte ein Arzt über mich
gesagt, und dies grundlegend zu ändern war der „Auftrag“ der Heimerziehung.
Das dabei auch das Abhängigkeitsverhältnis der oft jungen „Tanten“ vom
„Chef“ zu sexualisierter Gewalt führte und ich andeutungsweise Zeuge dafür
wurde, ohne dies aus meiner Perspektive des Kindes zu verstehen, habe ich
erst in der heutigen Distanz erkannt. Dabei half meine Begegnung mit der
Journalistin Katja Döhne.
## Mädchen haben Engelsflügel
Katja Döhne arbeitet als Filmjournalistin und macht unter dem Titel
„Y-Kollektiv“ Filme für das öffentlich-rechtliche Programm. Nach einem
längeren Telefongespräch vereinbarten wir, gemeinsam nach Karlshafen zu
fahren, zur Spurensuche. Ich vertraute Katja, hatte das Gefühl, ihr alles
erzählen zu können, was ich zu sagen wusste. Ich erzählte von Tante Bärbel,
Betreuerin im Kinderheim „Dithmarsia“ in St. Peter-Ording. Und die Bilder
waren wieder da.
„Du hast ja richtige Flügel“, sagt Tante Bärbel, „Engelsflügel“. Ich
verstehe nicht, was sie meint. Bis sie es mir zeigt: die hervorstehenden
Schulterknochen an meinem schmalen Rücken. „Mädchen haben Engelsflügel“,
sagt Tante Bärbel. „Jungs nicht. Jungs brauchen kräftige Schultern, um
Engel tragen zu können. Aber das schaffen wir bei dir auch noch.“
In Karlshafen fanden wir anhand von Fotos das frühere Kinderheim, das
später ein Kurhotel gewesen war und jetzt leer stand. Wir suchten den
Eingang, ich hielt mich hinter Katja, als lauere etwas Gefährliches in
diesem Haus. Ein Teil von mir war in diesem Moment der Junge von damals,
schüchtern, ängstlich, zugleich neugierig, genauer Beobachter.
Ich erkannte das Heim an den Fenstern. Als wären sie zeitlos, schaute aus
den engen, weißen Rahmen wie aus Gittern der kleine Junge heraus, der ich
war und der ich bin. Dieser Junge wusste nicht, was es war, was es sein
sollte, ein Junge zu sein.
Ich sah Tante Bärbel vor mir, die Dusche im Kinderheim „Dithmarsia“, die
Wassertropfen, die über die Haut rinnen, mein schmales Kindergesicht, das
sich an Tante Bärbel drückt, ein Kind, das Engelsflügel haben darf für alle
Zeit des Lebens, kein Junge mehr zu sein braucht, hart, laut und stark, nie
mehr.
26 Dec 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Willi Schmidt
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