# taz.de -- Autorin über Verschickungskinder: ,,Die Kinder erlebten dort Gewal… | |
> In den 50er bis 90er Jahren wurden Kinder zu oft traumatisierenden | |
> Kuraufenthalten geschickt. Manche hätten das nie verwunden, sagt Anja | |
> Röhl. | |
Bild: Unter strenger Aufsicht: Kinder zur Kur in Westdeutschand 1954 | |
taz: Frau Röhl, Sie waren selbst ein sogenanntes ‚Verschickungskind‘. Was | |
genau bedeutet das? | |
Anja Röhl: [1][Verschickungskinder nennen sich die Betroffenen von | |
Kinderverschickung] in den 1950er- bis in die 1990er-Jahre. Verschickung | |
bedeutet, dass man einen Aufenthalt von sechs Wochen in einer weit | |
abgelegenen Kinderkurklinik erhält. Die Eltern haben Besuchsverbot und es | |
gibt eine Briefzensur. Insgesamt wurden auf diese Weise ca. acht bis zwölf | |
Millionen Kinder verschickt. Diese Heime wurden als Kurorte für Kinder | |
beworben. Tatsächlich [2][erlebten Kinder dort Demütigungen, | |
Erniedrigungen, Gewalt]. | |
Sie haben auch andere ‚verschickte Kinder‘ getroffen. Wie gehen diese | |
Menschen heute mit dieser Erfahrung um? | |
Trotz dieser traumatischen Erfahrungen haben die meisten keinen kompletten | |
Bruch in ihrem Lebenslauf gehabt. Es waren eben nur sechs Wochen. Danach | |
sind sie wieder nach Hause gekommen in ihr normales familiäres Umfeld. Es | |
gibt allerdings auch Personen, bei denen diese sechs Wochen ausgereicht | |
haben, um ihr Leben komplett über den Haufen zu werfen. | |
Warum sehen Sie eine Verbindung von diesen Heimen zur NS-Zeit? | |
Weil wir in den Betroffenenberichten Situationen vorgefunden haben, die | |
Nachinszenierungen aus der NS-Zeit sind. Beispielsweise wurden in der | |
Kinderheilstätte Murnau am Staffelsee jedem Kind die Haare geschoren. Aus | |
vielen Heimen gibt es die Erinnerung, dass die Kinder nur mit Nummern | |
angesprochen wurden. Die kriegten eine Nummer auf den Unterarm geschrieben. | |
Warum erhält dieses Thema wenig mediale Öffentlichkeit? | |
Ich habe das eigentlich schon immer meinen engsten Leuten erzählt. Im | |
Vergleich zu KZ-Häftlingen und Heimkindern erschien mir mein | |
Verschickungsaufenthalt jedoch gering. Ich musste erst mit der Nase darauf | |
gestoßen werden, dass unsere Erlebnisse eine gesellschaftliche Bedeutung | |
und Berechtigung haben, ernst genommen zu werden. Das ist bei den meisten | |
Verschickungskindern so. | |
Wie unterstützt Ihre [3][Initiative „Verschickungskinder“] Menschen, die in | |
diesen Heimen Gewalt erfahren haben? | |
Unsere Internetseite [4][www.verschickungsheime.de] bildet eine Plattform, | |
um Erfahrungen online stellen zu können. Dadurch kann es Austausch zwischen | |
den Betroffenen geben. Viele suchen Menschen aus demselben Heim. Die können | |
sich bei uns vernetzen. Man kann auch unseren Fragebogen ausfüllen, der | |
wissenschaftlich ausgearbeitet wird. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser | |
Datenschatz gehoben wird und fordern eine Kollektiventschädigung von sechs | |
Millionen Euro in Form von Unterstützung bei der Recherche und | |
Aufarbeitung. Wir brauchen Selbsthilfegruppen, Telefonberatung, | |
Sozialarbeiter, Historiker. Es geht uns um die individuelle und | |
gesellschaftliche Aufarbeitung. | |
17 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643 | |
[2] /Misshandlung-eines-Verschickungskindes/!5820835 | |
[3] /Studie-zu-Missstaenden-in-Kinderkuren/!5767186 | |
[4] https://verschickungsheime.de/ | |
## AUTOREN | |
Lenard Brar Manthey Rojas | |
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