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# taz.de -- Kuraufenthalte von Kindern: Wir Verschickungskinder
> Millionen Mädchen und Jungen mussten bis Ende der 1990er allein auf Kur
> fahren. In den Heimen haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht.
Bild: Borkum, 1963, Kinderkurheim: Unsere Autorin, erste Reihe, Vierte von rech…
Die Erinnerung kam vor zwei Jahren bei einer Chorfreizeit zurück. Gundula
Oertel saß mit den anderen im Speisesaal der Unterkunft. Eine Mitsängerin
erzählte, wie sie als Kind zur Kur war und dort gezwungen wurde aufzuessen.
Egal was es gab. Wenn sie das Essen erbrach, musste sie so lange vor dem
Teller sitzen bleiben, bis sie auch das Erbrochene gegessen hatte.
Plötzlich war alles wieder da, sagt Oertel, die langen dunklen Tische im
Speisesaal, der Teller, vor dem sie als Fünfjährige stundenlang allein
hocken musste, der Geruch von Milchreis, von dem ihr bis heute schlecht
wird.
Ein Flashback, der blitzartig Licht auf etwas warf, das sich als Bild tief
in ihr Innerstes eingebrannt hatte. „Ich hatte lange keine Worte dafür“,
sagt Oertel, nur diese Bilder, eher Details von Bildern, die durch das
Gespräch mit der Mitsängerin hochgekommen waren. Weiße, auf einem breiten
grau gekleideten Rücken gekreuzte Schürzenbänder. Bunte Sandförmchen, die
ihr weggenommen wurden und die sie als Einziges in Farbe erinnert – alles
andere ist „eisgrau“. „Wie habe ich es bloß geschafft, diese Erlebnisse …
lange wegzudrücken?“, fragt sich Oertel.
Und wie soll man über etwas reden, woran man sich gar nicht richtig
erinnert, das man am liebsten schnell wieder vergisst? Wie kommt man einer
Erfahrung auf die Spur, die einen geprägt hat, ohne dass man sie genau
benennen könnte? Eine Erfahrung, die mit Angst und Scham einhergeht, in
[1][nicht wenigen Fällen auch mit Traumatisierung]. Trauma:
Verschickungskind.
Zwischen 8 und 12 Millionen Kinder sind in der Bundesrepublik von Anfang
der 1950er bis Ende der 1980er Jahre zur Kur geschickt worden. Weil sie zu
blass, zu dick, zu dünn waren, weil sie Asthma hatten, Tuberkulose oder
Neurodermitis. In der Regel verbrachten sie sechs Wochen, getrennt von
ihrer Familie, in Kinderkurheimen und Kliniken an der Nordsee oder in den
Bergen. Statt gesund, wurden sie oft krank, krank gemacht. Weil an diesen
Orten ein pädagogisches Regime herrschte, das sie schikanierte,
misshandelte, ihre gesundheitliche Verfassung und ihre natürliche Schwäche
ausnutzte. Ein Regime, das nicht das Kind und seine physische und
psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellte, sondern mit dessen
Konstitution und den Sorgen der Eltern Geld verdiente.
Ich habe Gundula Oertel in den letzten Monaten bei ihrem Versuch der
Aufarbeitung begleitet. Fragen, die sie sich stellt, stelle ich mir auch.
Ich stelle sie mir aber erst, seitdem ich auf ihren Fall und auf das
Phänomen der massenhaften Kinderverschickung aufmerksam gemacht wurde. Ihre
Geschichte ist bei Weitem nicht die schrecklichste, sondern exemplarisch.
Ich habe viele schreckliche Geschichten von ehemals als Kinder Verschickten
kennengelernt.
## Nur zwei Erinnerungen
Auch ich war ein Verschickungskind. Anders als Gundula Oertel fühle ich
mich nicht traumatisiert. Zumindest bei unserer ersten Begegnung bin ich
davon überzeugt. Ich habe nur zwei Erinnerungen an meinen Heimaufenthalt
auf Borkum, die liegen wie Fotografien unter Glas. Sie haben mich mein
Leben lang begleitet. Ich befinde mich auf der Fähre nach Borkum, mir ist
schlecht, ich kotze, ich sitze auf dem Boden unter einem Tisch. Ich bin
fünfeinhalb Jahre alt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich meine Eltern in Köln zum
Bahnhof gebracht oder dort wieder abgeholt haben. Ich kann mich nicht an
den Speisesaal oder Essensgerüche auf Borkum erinnern. Ich kann mich nicht
an die Namen der anderen Kinder oder an die Betreuerinnen erinnern. Ich
kann mich aber erinnern, dass ich im Freien stand, die anderen Mädchen
aufgereiht mir gegenüber, vor ihnen eine Nonne, die mir befahl, vor ihren
Augen in einem Eimer mit kaltem Wasser mein Bettlaken auszuwaschen. Ich
hatte nachts ins Bett gekackt. Die Szene habe ich gestochen scharf in
Erinnerung.
Nicht nur Bestrafung, sondern auch öffentliches Beschämen, Zurschaustellung
gehören zum klassischen Instrumentarium der Schwarzen Pädagogik. Ich weiß
inzwischen, dass es in den Heimen verboten war, nachts aufs Klo zu gehen.
Oft waren die Schlafsäle abgeschlossen. Ich besitze vier Fotos aus unserem
Familienalbum, die zeigen: Unsere Gruppe bestand aus Mädchen, es gab
Betreuerinnen (vermutlich Praktikantinnen), Nonnen. Draußen Dünen,
Frühjahr. Alle Mädchen tragen Jacken und die Haare kurz, reißen den Mund
zum Lachen grotesk weit auf. Ich besonders. „Sabine auf Borkum 1963“ hat
mein Vater notiert. Mehr habe ich nicht.
Wie viele Verschickungskinder habe ich das Problem, dass die Eltern tot
sind und nicht mehr befragt werden können. „Ich werfe es ihnen nicht vor“,
sagt Gundula Oertel, „dass sie mich auf Kur geschickt haben. Aber wirklich
in Ordnung war es nicht.“ Der Kinderarzt hatte unseren Müttern das
Zauberwort „Reizklima“ eingeflüstert, gut für Bronchien, Haut und das
Immunsystem. Die [2][Schriftstellerin Felicitas Hoppe], mit fünf ebenfalls
an die Nordsee verschickt, beschreibt ihre Ankunft in einer kleinen
Erzählung, die den Titel [3][„Fieber 17“] trägt:
„Auf der Insel lernte ich im Handumdrehen alles, was fühlen muss, wer nicht
hören kann: die Ohrfeige und den Morgenappell, wie man zum Frühstück eine
Tasse Salzwasser leert, wie sich ein Vorschulkind nachts durch die Betten
prügelt und am Morgen danach in der Strafecke steht; dass, wer schwimmen
kann, nur langsamer umkommt; dass man weder ungestraft Geschichten
erfindet, noch ungestraft bei der Wahrheit bleibt: den Betrug beim Diktat
von Ansichtskarten, die zu Hause den Eindruck vermitteln sollten, ich sei
hier auf Urlaub und auf dem glücklichen Weg der Genesung. In Wahrheit war
ich längst auf dem Weg, erwachsen zu werden, wenn ich jeden Montag von
Neuem einer der Wärterinnen diktieren sollte, was sie auch ohne mein Zutun
geschrieben hätte: Mir geht es gut. Und wie geht es euch?“
## Prinzip der totalen Institution
Viele Verschickungskinder berichten, dass sie gezwungen wurden, ihren
Familien Postkarten mit positiven Nachrichten zu schicken. „Wir waren
eingekerkert in einem System, das von außen nicht zu sehen war“, sagt
Gundula Oertel. Das Prinzip der totalen Institution, nennt es die
Sozialforschung, die den Begriff für Gefängnisse und Psychiatrien erfand,
der aber auch auf Heime zutrifft, wie die Sozialwissenschaftlerin
Birgit Behrensen sagt: von außen auferlegte Regeln, ein Ort der Isolation,
Entmündigung und Ohnmacht.
2019 brachte [4][das ARD-Politikmagazin „Report Mainz]“ einen Bericht über
Verschickungskinder und -heime, der eine Lawine in Gang setzte. Im gleichen
Jahr gründete sich die bundesweite [5][Initiative Verschickungskinder], die
inzwischen zahlreiche Landes- und Heimort-Gruppen hat. Auf der Webseite der
Initiative können Betroffene Zeugnis ablegen von ihren Erfahrungen, über
5.000 Menschen haben bereits einen Fragebogen ausgefüllt.
Oertel schloss sich in diesem Frühjahr einer Gruppe von
Verschickungskindern an, die wie sie in St. Peter-Ording waren. Sie
tauschten sich in Videokonferenzen aus. „Je mehr Details ich erfahre, je
mehr Parallelen ich ziehen kann, desto mehr formt sich ein Bild.“ Im Juni
2021 trafen sie sich in St. Peter-Ording, spazierten gemeinsam zu den
einstigen Heimorten. In welchem Heim sie untergebracht war, weiß Oertel
nicht. „Ich fuhr dorthin mit der Vorstellung, vielleicht findet mein Körper
das Heim.“ Sie fanden es nicht, sie und ihr Körper, zu dem sie seit
Kindheitstagen ein gebrochenes Verhältnis hat.
„Ich stehe im Leben“, sagt die heute 67-Jährige, die Biologie und
Germanistik studiert hat, zum BUND als Campaignerin ging und sich später
als Journalistin für Ernährungs- und Umweltthemen selbssttändig machte.
„Ich habe kein verpfuschtes Leben. Aber die Beschäftigung mit diesem Thema
fängt an, ein Licht auf Dinge zu werfen, die ich mir nie erklären konnte.“
Stereotype Albträume, Mobbing in der Schule, Vertrauensverlust in
menschlichen Beziehungen. Eine Gesprächstherapie konnte „die Dämonen
bändigen“, weg sind sie nicht. „Ich würde das gerne unterscheiden“, sagt
Oertel. „Was sind meine persönlichen Macken, wie sie jeder hat, und was ist
konkret auf die Kinderverschickung zurückzuführen?“
Themen, die Oertel und ich bei unseren Treffen immer wieder diskutieren:
Was gehört zur individuellen Veranlagung, was sind später erworbene
psychische Schwierigkeiten? Wie unterscheidet sich Erinnerung von Trauma?
Warum sage ich, ich fühle mich nicht traumatisiert, sie dagegen schon?
Es reicht ein Blick auf die Seite der Initiative Verschickungskinder, um zu
sehen, dieser Eingriff in kindliche Leben hat großes Leid zugefügt. Fast
alle berichten von: Esszwang, nächtlichem Toilettenverbot, haarsträubenden
hygienischen Zuständen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit,
Kontaktverbot zur Familie, Einschüchterung, die zu Angst- und
Schuldgefühlen führten: Haben mich meine Eltern verstoßen, sehe ich sie je
wieder, was habe ich falsch gemacht? Eine Atmosphäre, in der „seelische
Grausamkeit“ gedieh. Aber auch Fälle von Prügel, Eisduschen, Strafmaßnahmen
wie nächtlichem Wegsperren in dunkle, kalte Kammern oder Dachböden, also
physischem – aber auch sexuellem – Missbrauch sind bekannt.
Viele Kinder haben geschwiegen, sind dort verstummt. Das Wort „Verstummung“
bringt bei mir etwas zum Klingen.
Es gibt Menschen, die ihre Zeit im Kinderkurheim gut oder zumindest nicht
brutal erinnern. Doch es reicht zu sehen, dass andere bis heute unter den
Folgen leiden. Weit über tausend Heime hat es in der Bundesrepublik in der
Hochzeit gegeben, etwa die Hälfte in privater Hand. An manchen Orten, auf
Borkum zum Beispiel, waren es 30. Viel für eine kleine Insel.
Anja Röhl nennt es eine „Kinderverschickungsindustrie“. Industrie, weil ein
System dahinterstand, das ineinandergriff. Industrie, weil Millionen von
Kindern betroffen waren. Und weil Menschen und Einrichtungen damit viel
Geld verdient haben.
Ich besuche Anja Röhl im Sommer in Fürstenwalde bei Berlin. Wir sitzen in
ihrem Garten am Stadtrand, die Zucchini in ihrem Gemüsebeet gedeihen üppig,
die eingefrorene Torte ist noch nicht ganz aufgetaut. Röhl, Jahrgang 1955,
Tochter des gerade verstorbenen Publizisten Klaus Rainer Röhl und
Stieftochter von Ulrike Meinhof, zweimal verschickt, hat im Frühjahr
[6][ihr erstes Buch] zum Thema veröffentlicht, das Grundlagenforschung
betreibt. Im Herbst wird das zweite Buch erscheinen, das Lebensgeschichten
von Verschickungskindern protokolliert.
## Täglich Dutzende neue Mails von Betroffenen
Die Sozial- und Heilpädagogin mit den langen grauen Haaren, die sie mit
einem Band aus dem Gesicht fernhält, ist zur Aktivistin geworden. Sie war
es auch, die die Initiative Verschickungskinder gegründet hat. Täglich
treffen Dutzende neuer E-Mails von Betroffenen ein, die auf Antwort hoffen.
Was ist Verschickung?
„Das sind Institutionen, die sich Kindertagesstätte, Kinderheim,
Kindererholungsheim, Kinderkurheim oder Kindersanatorium nannten. Allen
gemeinsam ist, dass sie bis zu Sechs-Wochen-Kuren durchgeführt haben, mit
Kleinkindern ab dem zweiten Lebensjahr, die allein dorthin verschickt
wurden. Es war immer ein Arzt im Haus oder dem Haus angliedert. Es gab
immer eine ärztliche Diagnose und sie wurde oftmals vom Gesundheitsamt
verfügt.“ Die Kosten dafür trug die gesetzliche Krankenversicherung oder
die Rentenversicherung, die zum Ausgleich Steuergelder bekamen. Die
sogenannten Entsendestellen waren vertraglich an die Heime gebunden und
verpflichtet, pro Jahr eine bestimmte Anzahl an Kindern aufzunehmen. Die
Aufsicht über die Einrichtungen oblag normalerweise den
Landesjugendämtern.
Bei ihren Recherchen fiel Röhl jedoch auf, dass viele Kinderkurheime sehr
darum bemüht waren, als „medizinisch-pflegerische Einrichtungen“ anerkannt
zu werden, weil die Jugendämter dann nicht mehr zuständig für sie waren.
Die lokalen Behörden schalteten sich selten ein – zumal die Kurkliniken ein
wirtschaftlicher Faktor für die kleinen Nordseeinseln oder Luftkurorte
darstellten. „In der Kinderheilkunde und Kinderkrankenpflege von damals
muss sich etwas Unzeitgemäßes festgesetzt haben“, sagt Röhl, „abgekoppelt
von der pädagogischen Entwicklung der Zeit. Etwas, das noch aus der Zeit
des Nationalsozialismus und davor herrührte.“
Auch die Nationalsozialisten praktizierten, solange es der Krieg zuließ,
Kinderlandverschickung. Sie reaktivierten Erziehungsmethoden, die mit viel
Gefühlskälte auf Drill und Leistung setzten und eine lange Tradition
hatten. Protestantische Ethik, katholische Doppelmoral. Man denke nur an
den Film von Michael Haneke „Das weiße Band“, der noch im deutschen
Kaiserreich spielt.
## Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen
„Wir haben ganz viele Hinweise auf NS-ähnliche Nachinszenierungen“, stellt
Röhl fest. „Manchen Kindern wurden am ersten Tag die Haare geschoren,
woanders war es üblich, der ganzen Gruppe auf einmal die Mandeln
herauszunehmen. Manchen wurde eine Nummer auf den Unterarm geschrieben,
manche wurden die ganze Zeit mit einer Nummer angesprochen. Es ist
gruselig.“
Röhl will das Argument, in den 50er und 60er Jahren seien härtere
Erziehungsmethoden gängig gewesen, nicht gelten lassen. „Das geht teilweise
weit über schwarze Pädagogik hinaus.“ Sie sieht inhaltliche und personelle
Kontinuitäten, die in die NS-Zeit zurückreichen und sich in den wenig
kontrollierten und oft isolierten Kinderkurheimen eine Nische und
einträgliche Existenz schufen.
Die Ämter wurden oft erst aufmerksam, wenn jemand zu Tode kam. In acht
Akten fand Röhl fünf ungeklärte Todesfälle. Sie wurden untersucht, aber
niemand zur Rechenschaft gezogen. Die [7][Diakonie Niedersachsen, die eine
unabhängige Studie in Auftrag geben hat], hat in Obduktionsberichten zu
Todesfällen in ihren Heimen Angaben zu einer möglichen „Erstickung durch
Speisebreieinatmung“ gefunden. Die Staatsanwaltschaft, die diese Fälle
untersucht hat, sah dennoch andere Gründe als todesursächlich an und
schloss die Akten. So gesehen ist der Teller mit dem Milchreis, vor dem
Gundula Oertel stundenlang sitzen musste, vielleicht doch nicht harmlos.
Ich bin 1963 auf Borkum gewesen, ich vermute nach einer Hepatitis. Bis vor
Kurzem wusste ich nicht, in welchem Heim. Ich beschließe, mit Gundula
Oertel gemeinsam nach Borkum zu fahren, wo im November ein Kongress der
Initiative Verschickungskinder stattfindet. Was erwartet sie vom Kongress?
Zwei Punkte hat sie. Einen persönlichen: „Ich möchte gern wissen, wie
frühkindliche Traumatisierung geschieht, welche Langzeitfolgen sie hat.“
Einen allgemeinen: „Welche Systematik steckt hinter der Kinderverschickung,
und wie konnte es geschehen, dass die Würde von Kindern so eklatant
verletzt wurde?“
## Ich stehe davor – und fühle nichts
Etwa 80 ehemalige Verschickungskinder sind zum Kongress gekommen, alle mit
einer individuellen Geschichte. Es gibt Lesungen, wissenschaftlichen Input,
Arbeitsgruppen. Silke Ottersberg, eine der Koordinatorinnen, hilft mir
anhand meiner Fotos, das Heim zu identifizieren, in das ich als kleines
Mädchen verschickt wurde. Es ist das Kinderkurheim Sancta Maria, das heute
eine Mutter-Kind-Klinik ist. Ich stehe davor – und fühle nichts.
Ich bin erstaunt, dass die Klinik unmittelbar an ein Wohngebiet angrenzt.
Ich hatte mir die Lage isolierter vorgestellt. In der Borkumer Kulturinsel,
wo der Kongress auf Einladung des Bürgermeisters stattfinden kann, gibt es
eine kleine Ausstellung im Foyer, die Informationen zu den einzelnen Heimen
zusammengetragen hat. Zu Sancta Maria hat jemand ein Aktenzeichen notiert.
1953 sind dort zwei Mädchen verstorben.
Aber wo fängt man mit der Suche an, wenn einem beim Kongress in Bezug auf
den eigenen Aufenthaltsort keiner weiterhelfen kann? Gundula Oertel, von
Berlin aus nach St. Peter-Ording verschickt, hat bei der Berliner AOK
nachgefragt – keine Antwort. Ich hake nach – keine Antwort. Könnten Akten
zur Kinderverschickung im Landesarchiv Berlin gelandet sein? Oertel hat
einen Platz im Lesesaal beantragt. Sechs Wochen Wartezeit derzeit, nur zehn
Akten auf einmal. Vieles ist noch nicht digitalisiert. Sie beginnt mit den
Jahren ab 1945.
Oertel stößt auf ein Schreiben von 1949 an alle Berliner Schulen, in dem
darum gebeten wird, „erholungsbedürftige Kinder“ zu entsenden. Sie findet
die Kostenaufstellung für ein vom Hilfswerk Berlin betriebenes Heim in St.
Peter-Ording, 1949. Sie stellt fest, dass zigtausende Kinder aus Westberlin
zur Erholung ausgeflogen worden sind. „Alles lose Fäden“, sagt sie. Oertel
hat erneut Archiveinsicht beantragt, der Archivleiter eine lange Fundliste
geschickt. Mut hat man ihr dort dennoch nicht gemacht.
Anders als Gundula Oertel weiß ich, in welchem Heim ich war. Geleitet wird
es noch immer von den Franziskanerinnen vom Heiligen Märtyrer Georg zu
Thuine im Emsland, Niedersachsen. Schwester Maria Cordis Reiker ist
Generaloberin und telefonisch zu erreichen. Sie wirkt ernsthaft bekümmert
und mauert doch. Der Orden habe eine Dokumentation bei einer unabhängigen
Historikerin in Auftrag gegeben, nachdem sich einzelne Verschickungskinder
gemeldet hätten. Sie soll Anfang 2022 erscheinen, mehr will sie vorab nicht
sagen.
Ob sie Kenntnis von den 1953 in Sancta Maria gestorbenen Mädchen hat?,
frage ich mich und beschließe, der Sache selbst nachzugehen. Bei der
[8][Suche im Archivinformationssystem] stoße ich auf kurze Inhaltsangaben
der Archivare: „Personalsachen; Bericht und Zeitungsausschnitt zum Tod der
12-jährigen Margret aus Ochtrup und der 14-jährigen Carola aus Dortmund
beim Baden (1953); Druckschrift: Flyer mit Fotos des Heimes und des
Heimlebens; Grundriss; Postkarte; Beschwerdebrief einer Mutter über Gewalt
an ihren Söhnen 1970; darauf basierend ein Zeitungsausschnitt zu einer
gewalttätigen und die Post zensierenden Ordensschwester im Heim 1970.“
Allein diese Notizen belegen, dass zwischen 1953 und 1970 im Kinderkurheim
Sancta Maria Vernachlässigung und Repression dazu gehörten. Zumal es
Berichte aus anderen Heimen darüber gibt, dass Kinder, die nicht schwimmen
konnten, zum Baden im Meer gezwungen wurden.
Ab Anfang der 80er Jahre änderte sich die Gesetzgebung, Heime mussten
zumachen, weil Diagnosen nicht mehr so leichtfertig erteilt wurden. Ihre
Leitungen schrieben Bettelbriefe an Kommunen, Träger, Ämter, ihnen bitte
Kinder zu überweisen, sagt Röhl. Die verbliebenen Heime haben sich in
Mutter-Kind-Kurkliniken verwandelt. In der Inselbahn von Borkum-Hafen nach
Borkum-Ort sitzt uns eine Mutter mit ihrer Tochter gegenüber. Das Mädchen
ist fröhlich, ihr Koffer eine Sensation: ein Londoner Bus, auf dem sie wie
auf einem Bobbycar fahren kann. Ab dem Moment, als die Mütter mit ihren
Kindern zur Kur fuhren, änderte sich die Atmosphäre in den Kurheimen.
Plötzlich waren da Angehörige, die aufpassten, Ärger machen konnten.
Bei dem Kongress auf Borkum sehe ich Tränen fließen. Ich lerne Menschen
kennen, die eine Traumatherapie machen, aber auch andere. Jörn, der
manisch-depressiv ist und sein Leben lang falsch therapiert worden ist.
Friedhelm, der ein Bild mitbringt, das er vor Kurzem von seinem Jahrzehnte
zurückliegenden Aufenthalt in Sancta Maria gemalt hat: schwarze
gesichtslose Gestalten, der Nonnenhabit, säumen den Weg zum Strand, den wir
Kinder in Zweierreihen marschieren mussten. Regina, die weggesperrt wurde
und der man zu Hause nicht geglaubt hat. Stefan, den seine Eltern nicht
wiedererkannten. Silke, die mit dem Gehstock der „Tante“ verprügelt wurde.
Gundula Oertel reichte es irgendwann nicht mehr, ihrer persönlichen
Geschichte hinterher zu recherchieren, auch wenn sie damit noch lange nicht
abgeschlossen hat. Sie engagiert sich jetzt in der Berliner Aktivengruppe
der Initiative Verschickungskinder, wo es um Strukturen, Sichtbarkeit, die
politische Ebene geht. Im Zug sagt sie: „Alle sind wir von der Verschickung
betroffen, aber unterschiedlich intensiv. Doch jetzt verschiedene
Betroffenheiten gegeneinander aufzurechnen, führt nur dazu, die
schwerwiegenden Fälle wie Einzelfälle erscheinen zu lassen. Was uns alle
eint, ist doch, dass wir dem Risiko ausgesetzt waren.“
Marie Luise Schreiter, Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Uni
Tübingen, beim Kongress live zugeschaltet, unterscheidet zwischen dem
plötzlichen „Schocktrauma“ und dem „Entwicklungstrauma“, das sich über
einen längeren Zeitraum in der Kindheit bildet. Bei Kindern sei das Gehirn
noch sehr formbar, und traumatische Erlebnisse könnten sowohl die
Entwicklung kognitiver als auch die emotionaler Verarbeitungsprozesse im
Gehirn beeinträchtigen. Normalerweise stehen diese Prozesse in sensibler
Balance, aber wenn das junge Gehirn in emotionalen Stress gerät, werden
Botenstoffe ausgeschüttet, die zu langfristigen Veränderungen führen
können. Zu Angstzuständen, Blockaden, Konzentrationsproblemen oder
Depressionen. Jeder kennt es: Kein klares Denken ist mehr möglich, die
Emotionen bestimmen das Verhalten, oder es herrscht Schreckensstarre.
Werden die zugrunde liegenden traumatischen Erlebnisse später getriggert,
kann dies das Gehirn in den gleichen physiologischen Zustand versetzen wie
damals. Das Gehirn vermag dies nicht zu kontrollieren. Es muss lernen zu
differenzieren.
In einer speziellen Therapie können Menschen lernen, die physiologischen
Signale unter Kontrolle zu bringen. Die herkömmlichen Therapieformen seien
dafür allerdings teils unzureichend oder ihre Konzepte veraltet, sagt die
Tübinger Neurowissenschaftlerin eine Woche später am Telefon. Schreiters
Abteilung wird den Fragebogen der Initiative auswerten, den das Berliner
Nexus Institut in Zusammenarbeit mit Anja Röhl konzipiert hat. Von den
5.000 Mitmachenden haben sich 2.500 zu weiteren Untersuchungen bereit
erklärt.
Schreiter begrüßt, dass der Koalitionsvertrag der neuen Regierung auch
Bürgerforschung gezielt zu fördern verspricht. Bei der Bürgerforschung –
auch Citizen Science genannt – nehmen Betroffene die Forschung selbst in
die Hand, indem sie, unterstützt von wissenschaftlichen Einrichtungen,
selber Daten sammeln und ihre eigene Expertise einbringen. Dies war auch
eine wesentliche Forderung der Initiative, verschiedene Institute haben
bereits mit Forschungsvorhaben angedockt, eine Studie zu
Medikamentenmissbrauch ist in Arbeit.
Ich frage Marie Luise Schreiter: Haben wir nicht alle unser Trauma? Wird
der Begriff zu verschwenderisch benutzt?
„Als Faustregel gilt“, sagt sie, „wenn Leidensdruck da ist, der durch
hochemotionale Erinnerungen entstanden ist, kann man von Traumatisierung
sprechen. Diese können, müssen aber nicht in der Kindheit oder durch ein
einziges Erlebnis ausgelöst worden sein.“
„Natürlich ist es so“, sagt Anja Röhl, „dass wir alle mit bestimmten
Traumamischungen leben lernen müssen. Die Kinderverschickung ist dabei
manchmal eine ungute Grundierung im Leben, weil sie schon sehr früh erfolgt
ist.“
Entscheidend ist, sagt eine befreundete Psychologin, dass sich Erlebnisse
zu einer traumatischen Erfahrung verdichten, wenn sie nicht mitgeteilt
werden können, wenn man damit allein bleibt. Weil Eltern ihren Kindern
nicht glaubten oder Kinder sich ihren Eltern nicht anvertrauten.
Ich bin mir sicher, dass ich mit meinen Eltern nicht über das eingekackte
Bettlaken gesprochen habe. Nicht über die Scham, öffentlich vorgeführt
worden zu sein. Fällt es mir deswegen schwer, für mich einzutreten, vor
anderen zu sprechen?
„Meine Erinnerung ist körperlos“, sagt Gundula Oertel. „Ich habe nur den
Gefühlsgehalt der Bilder, an die ich mich erinnere, im Kopf. Ich war
distanziert, vielleicht sogar sediert.“ Anders als Erinnerungen haben
Traumata kein Narrativ. Sie ändern, sie verformen sich nicht.
## Bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele
Sie bleiben bleischwer irgendwo am Grund unserer Seele liegen. „Es ist ein
schwarzes Loch“, sagt ein Kongressteilnehmer. „Das verunsichert, weil man
nicht weiß: Welche Programmierung habe ich damals bekommen, die ich nicht
kenne?“
Der Kongress beschließt eine Resolution, die auf die Webseite der
Initiative wandert. Gundula Oertel versucht, eine Formulierung
einzubringen, die mehr auf das Politische, die Gemeinsamkeiten aller
Verschickungskinder hinweist. „Spätestens, sobald Entschädigung gefordert
wird, erweist sich die Verengung auf individuelle Schicksale als
schwieriges Terrain.“
In Berlin verabredet sie sich mit dem 72-jährigen Historiker Karl
Pechatscheck und anderen ihrer Ortsgruppe zum Videogespräch. Pechatscheck
hat ein internes Papier verfasst, Oertel hat es aufgegriffen und
weitergeschrieben. Dem Historiker liegt daran, die Kinderrechte allgemein
in den Fokus zu stellen, nach vorne und nicht zurück zu blicken. Oertel
hingegen will den eigentlichen Skandal aufarbeiten, der hinter dem System
Kinderlandverschickung stand.
Auf Landesebene hat sich etwas getan. In Nordrhein-Westfalen,
Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein hat es Anhörungen im Landtag
gegeben. Baden-Württemberg hat einen runden Tisch eingerichtet,
Nordrhein-Westfalen hat am 30. November einen solchen beschlossen.
## In zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch
Auf Bundesebene geht es langsamer. Dort fand zwischen der Initiative und
den zuständigen Ministerien in zweieinhalb Jahren nur ein Gespräch statt.
Die angekündigte Fortsetzung des „Fachaustauschs“ sei „bislang nicht
möglich gewesen“, schreibt ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums auf
Anfrage der taz, „da sich die Bundesregierung im Sommer intensiv den
gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona
gewidmet hat und derzeit die Regierungsneubildung ansteht“. Immerhin wollte
der SPD-Bundesparteitag am vergangenen Wochenende über einen Antrag zur
Aufarbeitung der Kinderverschickung abstimmen.
Die Initiative hat einen Forschungsverein gegründet, Vorsitzende ist Anja
Röhl. „Wir streben kollektive Wiedergutmachung an“, sagt sie, „in Form v…
Beratungsstellen und Unterstützungsangeboten bei der Heimort-Recherche und
Bürgerforschung. Wir brauchen runde Tische, individuelle Entschädigungen
sind nicht unser vordringlichstes Thema. Wer will 12 Millionen
entschädigen? Wir wollen einen Skandal aufklären!“
Auch Gundula Oertel erwartet kein Geld, sondern wünscht sich tatkräftige
Unterstützung auf allen Ebenen. „Menschen haben keinen Wert, sie haben
Würde“, sagt sie, ein Zitat von Immanuel Kant.
Und Kinder haben Rechte. Auch diejenigen, die mal Kinder waren. Und das
Kind, das ich mal war, sagt mir, dass ich vielleicht mit einer anderen
Traumamischung zu tun habe, als ich bisher dachte.
14 Dec 2021
## LINKS
[1] /Verschickungskinder-in-Westdeutschland/!5687801
[2] http://www.felicitas-hoppe.de
[3] https://doerlemann.com/6492
[4] https://www.ardmediathek.de/video/report-mainz/wie-kinder-in-kurheimen-syst…
[5] https://verschickungsheime.de
[6] https://www.psychosozial-verlag.de/3053
[7] https://www.evangelisch.de/inhalte/179131/30-11-2020/diakonie-verschickungs…
[8] https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/einfachsuchen.action?pageNam…
## AUTOREN
Sabine Seifert
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