# taz.de -- Veraltete Ess-Regeln in Kindergärten: „Da wird Druck aufs Kind a… | |
> Kinder zum Essen zu zwingen, ist unzulässig, sagt die Kita-Fortbilderin | |
> Bianca Hofmann. Sie verlernten so, auf ihr Sättigungsgefühl zu hören. | |
Bild: Hier scheint es zu schmecken: Aber wenn sie satt sind, müssen die Kinder… | |
taz: Frau Hofmann, in einer Kita in Duderstadt bei Göttingen wurden zwei | |
Betreuer freigestellt, die Kinder zum Essen gezwungen haben sollen. Warum | |
darf man das nicht? | |
Bianca Hofmann: Aus rechtlichen Gründen und weil wir heute besser wissen, | |
wie Kinder Essen lernen. Früher galt zum Essen zwingen als pädagogisch | |
richtig. Aber heute wissen wir, dass Kindern durch das Probierenmüssen ein | |
Lebensmittel auch verleidet wird, sodass sie es gar nicht mögen. Fast jeder | |
hat etwas, was er gar nicht mehr mag, das er als Kind probieren musste. Bei | |
mir ist es Rosenkohl. Probierenmüssen verfehlt seinen Zweck. | |
Ist das in Kitas noch üblich? | |
Früher sehr, inzwischen haben sich viele Kitas weiterentwickelt. | |
Und was heißt Probierlöffel? | |
Da wird eine Speise auf den Löffel gelegt, die das Kind nicht essen möchte. | |
Und die Betreuer sagen: „Probier das und wenn du das probiert hast, dann | |
kriegst du auch Nachtisch“ oder „Dann kriegst du noch das Fleisch“, also | |
eine Speise, die das Kind sehr gerne mag. Aber damit wird [1][Druck auf das | |
Kind ausgeübt]. Probiere ich jetzt nicht diese eine Sache, die ich gar | |
nicht mag, bekomme ich ja auch nicht die tolle Sache, die ich gerne hätte. | |
Wie Nachtisch? | |
Eben. Und dieser Druck [2][widerspricht den UN-Kinderrechten] und unserem | |
aktuellen Verständnis von Partizipation. Beteiligung der Kinder am Alltag | |
heißt für jede Fachkraft, auch ein „Nein“ eines Kindes zu akzeptieren. | |
Wo steht das im Gesetz? | |
Ein „Nein“ des Kindes zu akzeptieren, ist Teil des aktiven Kinderschutzes. | |
Das fußt auf dem Kinderbetreuungsgesetz (KibeG) von 2004 und findet sich | |
auch in den Landesgesetzen. Im Bayrischen KibeG steht zum Beispiel, alle | |
Kinder werden darin unterstützt, ihr Recht auf Selbstbestimmung in | |
persönlichen Angelegenheiten wahrzunehmen. | |
Also den Löffel abzulehnen? | |
Ja. In Wirklichkeit probieren wir auf sieben Arten. Probieren ist nicht das | |
In-den-Mund-Nehmen und Runterschlucken, sondern auch: Ich beschäftige mich | |
mit einem Lebensmittel, ich koche vielleicht was damit, ich probiere auch | |
mit den Augen. Sieht ein Lebensmittel nicht appetitlich aus, dann haben wir | |
schon mit den Augen probiert und uns dadurch entschlossen, es nicht weiter | |
über die anderen Sinne zu tun. Wir probieren auch mit der Nase durch den | |
Geruch. Dieses Runterschlucken ist erst die letzte Stufe, das ist wenig | |
bekannt. | |
Also ist die Mahnung „mit Essen spielt man nicht“ überholt? | |
Mit Essen spielen ist für die Kinder wichtig. So können sie etwas erst mit | |
den Fingern fühlen, bevor sie es in den Mund nehmen. Unser Mund ist eins | |
der sensibelsten Organe. | |
Usus ist auch, Kinder so lange sitzen zu lassen, bis ihr Teller leer ist. | |
Ist das zulässig? | |
Das ist auch nicht erlaubt. Denn Kinder sollen in der Kita lernen, Essen | |
als Genuss wahrzunehmen. Sie sollen auch unterscheiden: Habe ich Hunger? | |
Habe ich Appetit, bin ich satt? Sie sollen Anzeichen von Sättigung | |
erkennen. Das ist ganz wichtig und in den Bildungsplänen festgeschrieben. | |
Und das wird damit ja unterlaufen. Also es ist heutzutage nicht in Ordnung, | |
Kinder so lange sitzen zu lassen. | |
Aber genau das soll in vielen Kitas noch die Regel sein. | |
Da bin ich mir ziemlich sicher. Weil ich davon immer wieder in unseren | |
Fortbildungen höre. | |
Sie machen genau zu dieser Frage Fortbildungen? | |
Ja. Es ist wichtig, zu wissen, wie Kinder Essen lernen. Zum Beispiel gibt | |
es die Neophobie-Phase, da meiden Kleinkinder alle neuen Lebensmittel. Das | |
dauert vielleicht ein halbes Jahr. Danach fangen die Kinder wieder an, | |
etwas zu probieren. Wenn wir die missachten, dann missachten wir diese | |
natürlichen Entwicklungsschritte der Kinder. | |
Wissen denn Kinder selbst, was sie essen müssen? | |
Ja, das ist untersucht. Alle haben immer dieses Bild vor Augen, dass die | |
Kinder, wenn man sie ließe, nur noch Nudeln mit Soße und Pommes essen. Das | |
stimmt nicht. Stellt man den Kindern [3][eine gesunde Auswahl zur | |
Verfügung], dann greifen sie automatisch zu dem, was ihr Körper auch gerade | |
für die Entwicklung braucht. Und da kann es sein, dass ein Kind wochenlang | |
viel Fleisch isst, weil der Körper das braucht. Und dieses Gefühl geht bei | |
den Kindern kaputt, wenn sie lernen: Ich muss meinen Teller leer essen, | |
vorher darf ich nicht aufstehen. Und das führt später [4][bei Erwachsenen | |
zu Fettleibigkeit]. Manche hören nicht auf zu essen, bevor der Teller leer | |
ist, weil sie Sattsein nicht merken. | |
Der [5][aktuelle Fall bei Göttingen] betraf eine Krippe. Gilt, was Sie | |
sagen, auch für Kinder im Fütteralter? | |
Ja. Kinder, die man füttert, zeigen auch, dass sie satt sind. Die öffnen | |
nicht mehr den Mund. Viele Erzieher sorgen sich, dass die Kinder schnell | |
wieder Hunger haben. Da reicht aber ein Apfel bis zur nächsten Mahlzeit. | |
Die Kinder essen in der Kita mit Frühstück, Mittag und Nachmittagssnack | |
alle zwei, drei Stunden, die können nicht verhungern. Es lässt sich gut | |
überbrücken, wenn ein Kind doch wieder Hunger hat. | |
Spielt hier auch der [6][Personalmangel] eine Rolle? | |
Das ist [7][ein Problem]. Es kann sein, dass eine Fachkraft aus dem Wunsch | |
heraus „Ich möchte jetzt schnell alle Kinder satt kriegen, damit schnell | |
alle Kinder im Bett sind“, dem Kind Essen in den Mund schiebt, was nicht | |
erlaubt ist. Nur hält man auch Personen, die nicht für den Beruf geeignet | |
sind, um den Kita-Rechtsanspruch zu erfüllen. | |
Von Essenszwang hört man öfter. Was muss passieren? | |
Jede Kita braucht ein gutes Kinderschutzkonzept. In den meisten | |
Bundesländern sind die Kitas dazu verpflichtet, ein solches Konzept zu | |
haben, in dem auch ganz klar hinterlegt ist: „Wir zwingen kein Kind zum | |
Essen.“ Dann brauchen wir in den Teams eine gute Gesprächskultur. Damit | |
Kollegen, so ein Verhalten auch ansprechen können. Und die dritte Säule ist | |
Fortbildung. | |
Wirkt auch noch die Sorge vor Hunger der Nachkriegszeit nach? | |
Sicher. Deswegen ist es wichtig, dass Fachkräfte auch ihre Erziehung | |
reflektieren. Meistens geben wir weiter, was wir als Kind lernten. | |
30 Jul 2022 | |
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[1] /Berufsschullehrerin-ueber-Paedagogik/!5857796 | |
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[4] /OECD-Studie-zu-Adipositas/!5632553 | |
[5] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/niedersachsen_1800/Nesselroeden-Kind… | |
[6] /Debatte-um-Krippenpersonal/!5474201 | |
[7] /Kitabetreuung-im-Laendervergleich/!5791449 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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