| # taz.de -- Ernährungsexperte über Kinderessen: „Geschmack reift eben auch�… | |
| > Der Ernährungswissenschaftler Christoph Bier weiß, was Kindern schmeckt. | |
| > Ein Gespräch über Suppenkaspar, Brokkoli und Akzeptanz der Eltern. | |
| Bild: Gebackener Brokkoli mit Kapern und Dill. Oft ist ein Prozess, bis man Bit… | |
| taz am wochenende: Herr Bier, was Kinder gern essen und was nicht, ist | |
| Erwachsenen oft ein Rätsel. Schmecken Kinder anders? | |
| Christoph Bier: Nein, aber auch Geschmack ist ein Lernprozess. Kinder haben | |
| einen geringeren Erfahrungsschatz und sind weniger gewohnt. Sie prüfen | |
| deswegen viel intensiver, was sie in den Mund nehmen. Und sie sind absolut | |
| in der Lage, das auch zu reflektieren. Ich führe gerade Interviews mit | |
| Dritt- und Viertklässlern. Es ist verblüffend, wie kleinteilig und | |
| differenziert sie Geschmackswahrnehmung formulieren können. | |
| Sie haben schon eine eigene Sprache dafür? | |
| Das nicht. Aber sie können sehr differenziert umschreiben, was sie im Mund | |
| haben. Und sie sind bei der genauen Betrachtung weniger beim Geschmack, | |
| wenn sie beschreiben. Sie sind viel stärker beim Tastsinn, beim | |
| Schmerzsinn, beim Mundgefühl. | |
| Als Kind habe ich Fruchtstückchen im Joghurt gehasst. Wegen der Konsistenz. | |
| Ich behaupte, das ist für Kinder viel wichtiger als das, was wir als | |
| Erwachsene unter Geschmack verstehen. Da ist was glibberig im Mund. Da sind | |
| Partikel. Da ist ein Fettfilm auf der Suppe, das geht gar nicht. Da sind | |
| Stückchen in der Soße, was manche Kinder einfach nicht ertragen. Das muss | |
| man schlicht und ergreifend ernst nehmen. | |
| Und mit dem bitteren Gemüse Brokkoli war es bei mir auch so, als ich Kind | |
| war. Bitter ist doch ein Signal, dass etwas gefährlich sein könnte. | |
| Grundsätzlich ja. Deshalb lehnen wir den Geschmack zunächst ab oder gehen | |
| vorsichtig damit um. | |
| Ein angeborener Unwillen? | |
| Kann man so sagen. Genetisch haben wir allerdings nur eine Präferenz für | |
| Süßes. Die bleibt uns auch das ganze Leben lang erhalten. Beim | |
| Bittergeschmack ist das differenzierter. Es gibt Phasen. Neugeborene etwa | |
| sind noch gar nicht so empfindlich gegen bitter. Sie lehnen bitter nur in | |
| hohen Konzentrationen ab. Kurz nach der Geburt, wenn das Kind gestillt | |
| wird, geht der kindliche Organismus davon aus, dass in der Muttermilch | |
| alles Schädliche herausgefiltert ist. Die Empfindlichkeit erhöht sich erst | |
| einige Wochen nach der Geburt. | |
| Kann man sagen, dann erst entwickelt sich überhaupt so etwas wie Geschmack? | |
| Die Innenreize, also Hunger, Durst, Sättigung, spielen schon kurz nach dem | |
| Abstillen keine Rolle mehr. Unser gesamtes Essverhalten ist kulturell | |
| determiniert. Geschmack entwickelt sich in einem soziokulturellen | |
| Lernprozess, in dem es verschiedene Mechanismen gibt. Neophilie oder | |
| Neophobie beispielsweise … | |
| … also die Lust auf oder die Abwehr gegen neue Lebensmittel … | |
| … sind dabei angeborene Muster, auch hier gibt es Phasen. Die Neophobie ist | |
| bei Kindern am wenigsten zwischen dem 4. und dem 6. Lebensmonat ausgeprägt. | |
| Das ist der Zeitpunkt, in dem üblicherweise Beikost gefüttert wird. Es ist | |
| sinnvoll, wenn das Kind erst einmal möglichst viel von dem, was die Eltern | |
| anbieten, akzeptiert. | |
| Und wann kommt die Neophobie? | |
| Wenn das Kind mobil wird, zwischen dem 18. und dem 24. Monat, ist sie am | |
| stärksten ausgeprägt. Was auch sinnvoll ist, damit das Kind nicht alles in | |
| den Mund steckt, wenn es anfängt zu krabbeln und zu laufen. Das sind | |
| Prozesse, die bleiben bestehen. Die Neophobie schwächt sich allerdings mit | |
| dem Alter ab, parallel mit der Entwicklung unseres Erfahrungsschatzes. | |
| Unser Geschmack altert also. | |
| Ja, in zweierlei Hinsicht. Einmal dahingehend, dass unsere | |
| Geschmacksknospen weniger werden, also brauchen wir im Alter intensivere | |
| Eindrücke. Aber Geschmack reift eben auch mit dem Erfahrungsschatz, den wir | |
| aufbauen, und den Einstellungen, die wir entwickeln. Wein oder Kaffee | |
| genießen zu können ist ein Prozess, der manchmal Jahre dauert. Vor allem, | |
| bis man die Fähigkeit hat, Nuancen festzustellen und das wertzuschätzen – | |
| auch Bitteres. Und darin liegt auch die Chance bei Kindern. | |
| Etwa bei dem Kind, das den Brokkoli ausspuckt? | |
| Ja, wobei es hier noch einen Spezialfall gibt. Vielleicht gehört es zu den | |
| „Supertastern“. | |
| Sind das Menschen mit dem perfekten Geschmackssinn? | |
| Nein, das sind Menschen mit einem besonders ausgeprägten Empfinden für | |
| bitter schmeckende Substanzen, ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung. Hier | |
| kann es zu unheimlich frustrierenden Momenten kommen. Die Eltern sagen: | |
| Komm, stell dich nicht so an. Sie verstehen nicht, warum ihr Kind ein | |
| bestimmtes Lebensmittel vehement ablehnt, und sprechen dem Kind ab, dass es | |
| bitter schmeckt, weil sie selbst es nicht so wahrnehmen. Das Kind fühlt | |
| sich in dem Moment überhaupt nicht ernst genommen. Und dann sind wir beim | |
| „Suppenkaspar-Problem“. Das ist an dieser Stelle aber ein systematisches | |
| und keines des Kindes. | |
| Was sollen Eltern tun, die das Gefühl haben, dass ihr Kind mäkelig ist und | |
| sich zum „Suppenkaspar“ entwickelt? | |
| Das Kind ernst nehmen und mit Genuss weiter essen, was ihnen schmeckt. Das | |
| heißt nicht, dass das Kind auch genau zu dem Essen greift. Aber irgendwann | |
| wird es dazu führen, dass es auch andere Dinge probiert. Wir nennen das | |
| Imitationslernen. Zu sehen, dass die Eltern genießen, ist ein ganz | |
| wesentliches Motiv dafür. Dann ist die Chance auch groß, dass sich | |
| spätestens beim Auszug aus der elterlichen Wohnung eine eigene Esskultur | |
| etablieren kann. | |
| Ist das Bewusstsein für die kindliche Ernährung bei den Eltern gestiegen? | |
| Bei einem bestimmten Teil, ja. Aber es ist auch Sorge, die sie antreibt. | |
| Sie wollen, dass sich ihr Kind [1][gut und „gesund“ ernährt] – und schie… | |
| bisweilen übers Ziel hinaus. Wenn man mit Geduld, Gelassenheit und viel | |
| Empathie herangeht, dann entwickelt sich das schon gut. | |
| Beobachten Sie auch Kinder, die mit Appetit essen, aber dann das Besteck | |
| hinknallen, obwohl der Teller noch nicht leer ist, sagen, dass sie satt | |
| sind, aber fünf Minuten später Nachtisch haben wollen? Als Koch fragt man | |
| sich, ob das Essen wirklich geschmeckt hat. | |
| Hat es. Wir nennen das sensorisch-spezifische Sättigung. Das kennen alle | |
| Eltern. Aber das Gefühl von Sättigung ist kein absolutes Gefühl von | |
| Sattheit, sondern es ist ein spezifisches Gefühl auf die | |
| Geschmacksqualität. Das Kind hat eben nur satt, was gerade vor ihm auf dem | |
| Teller liegt. | |
| Und darf es Nachtisch haben? | |
| Ja, natürlich. | |
| 24 Jun 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5504415/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jörn Kabisch | |
| ## TAGS | |
| Essen | |
| Kinder | |
| Ernährungswissenschaft | |
| Lesestück Interview | |
| Schwarze Pädagogik | |
| Babys | |
| Essen | |
| Japan | |
| Essen | |
| Ernährung | |
| DDR | |
| Brot | |
| Kochen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Veraltete Ess-Regeln in Kindergärten: „Da wird Druck aufs Kind ausgeübt“ | |
| Kinder zum Essen zu zwingen, ist unzulässig, sagt die Kita-Fortbilderin | |
| Bianca Hofmann. Sie verlernten so, auf ihr Sättigungsgefühl zu hören. | |
| Beikost-Trend Baby-led Weaning: Freiwilligkeit statt Brei-Fahrplan | |
| „Baby-led Weaning“ ist eine Alternative zum ewigen Brei. Babys essen bei | |
| den Eltern mit und sollen so früh lernen, Essen als Genuss zu begreifen. | |
| Entschuldigungsbriefe an Lebensmittel: Meine Suppe ess ich jetzt | |
| Einst schüttelte es unsere AutorInnen, wenn sie an Zwiebeln, Pils oder | |
| Kalbszunge dachten. Heute sehen sie es anders. | |
| Autor über japanische Hochküche: „Die Dinge sind, wie sie sind“ | |
| Saisonal, regional, reduziert: Die japanische Hochküche Kaiseki feiert die | |
| Einfachheit. „Es geht darum, die Jahreszeiten zu essen“, sagt der Philosoph | |
| Malte Härtig. | |
| Kochen nach dem Leaf-to-Root-Prinzip: „Kennen Sie Kohlbrockerl?“ | |
| Salat aus Melonenschale? Esther Kern erklärt, wie man aus Blättern, Knospen | |
| und anderen verpönten Gemüseteilen leckere Gerichte zubereitet. | |
| Kolumne Fremd und befremdlich: Dumme Eltern | |
| Wenn Kinder sich schlecht ernähren, dann müssen die Eltern Einfluss nehmen. | |
| Aber was soll man machen, wenn auch die Eltern nicht wissen, was gesunde | |
| Ernährung ist? | |
| Kolumne Behelfsetikett: Erinnerungen: süß und fruchtig | |
| Die Erinnerung kann einen ganz schön trügen. Das betrifft Orte genauso wie | |
| Geschmäcker. | |
| Deutscher Bäcker in Amsterdam: Sauerteig für die Niederlande | |
| Die Niederländer sind mindestens so brotfixiert wie die Deutschen – greifen | |
| aber zu schwammigem Toast. Ein Mann will das ändern. | |
| Die Schönheit des Kochens: „Zeit ist die wertvollste Zutat“ | |
| Wir müssen wegkommen vom linearen Kochen, fordert Claudio Del Principe. Im | |
| Gespräch verrät er das Geheimnis des perfekten Ossobuco. |