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# taz.de -- Kochen nach dem Leaf-to-Root-Prinzip: „Kennen Sie Kohlbrockerl?“
> Salat aus Melonenschale? Esther Kern erklärt, wie man aus Blättern,
> Knospen und anderen verpönten Gemüseteilen leckere Gerichte zubereitet.
Bild: Nicht wegwerfen, aufessen: so wie diesen Melonenschalensalat
taz am wochenende: Frau Kern, warum reicht es nicht, einfach nur Karotten
zu essen? Jetzt muss es auch noch das Karottenkraut sein, also das Grünzeug
obendran.
Esther Kern: Weil Ihnen geschmacklich etwas entgehen könnte. Wir
konzentrieren uns beim Gemüse stark auf das, was ich „Filetstücke“ nenne.
Eben das, was traditionell auf den Teller kommt. Aber das andere – die
„Second Cuts“ – ist essbar und gut zubereitet auch schmackhaft. Wir
verfügen inzwischen über die Technik und hervorragende andere Zutaten, um
damit kochen zu können, nicht nur in Restaurantküchen.
Ab sofort also Karottenkraut in den Salat? Viele halten das für
Hasenfutter.
Für den Salat eignet es sich nicht unbedingt. Das Grün ist recht zäh. Aber
im Mixer lässt sich daraus Pesto zubereiten und frittiert schmeckt es auch
sehr gut.
Die Philosophie, vom Gemüse auch Teile zu verarbeiten, die man
normalerweise nicht isst, heißt „Leaf to Root“ – vom Blatt bis zur Wurze…
Ihre Erfindung?
Ich habe den Namen „Leaf to Root“ kreiert, nicht aber die Art, so zu
kochen. Ich bin Journalistin, stehe oft bei Spitzenköchen in der Küche, und
da war meine Beobachtung über die letzten zehn Jahre: immer mehr
verarbeiten spezielle Gemüseteile. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Und
so habe ich 2014 auf meiner Food-Website waskochen.ch die Aktion „Leaf to
Root“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, Wissen über die Essbarkeit und die
Verarbeitung von Gemüseteilen zu sammeln.
Die Bezeichnung erinnert an „Nose to Tail“, also das Bemühen, vom Tier
möglichst alles zu verarbeiten und nicht nur die Edelstücke. Beim Fleisch
gibt es dafür viele gute Argumente, aber bei Gemüse? Was übrig bleibt, ist
doch immer guter Kompost.
Natürlich, manchmal macht der Kompost Sinn. Mir geht es einfach darum,
Leuten zu zeigen, was Gemüse alles kann. Für mich gehört dazu auch, sich
mit der ganzen Pflanze zu beschäftigen. Wie sieht beispielsweise der
Brokkoli aus, wenn er wächst, gegenüber dem, was wir im Laden als Brokkoli
kaufen?
Wir essen normalerweise nur den Blütenansatz …
Genau, wenn man die ganze Pflanze sieht, bekommt man einen neuen Bezug zum
Lebensmittel. Das heißt nicht, dass man nichts wegwerfen soll. Wichtig ist,
dass es gut schmeckt.
Gibt es denn Teile vom Gemüse, die viel besser schmecken als das, was wir
normalerweise essen?
Kohlrabiblätter. Daraus kann man Chips machen, und ich habe noch niemanden
getroffen, ob Kind oder Erwachsene, die das nicht mochten, auch wenn sie
keine Kohlrabifans sind. Kennen Sie Kohlbrockerl?
Nein.
Das ist ein historischer Begriff, in Deutschland sagte man dazu auch
Sprutenkohl. Es ist Grünkohl. Wenn der geerntet ist, entwickelt die
Pflanze im späten Winter an den Bruchstellen noch kleine Triebe, wie
Knospen. Die darf man sich nicht entgehen lassen. Früher wussten das viel
mehr Leute als heute. Heute kennen wir Gemüse eigentlich nur noch in einer
bestimmten Wachstumsphase. Aber es gibt inzwischen wieder Bauern, die nach
der Ernte nicht sofort umpflügen, sondern die Brockerl ernten.
Auch die Gastronomie, vor allem Küchen, die sich mit regionalen Zutaten
beschäftigen, entdecken „Leaf to Root“. Das sind längst nicht mehr nur
Sternelokale.
Das ist auch meine Beobachtung. Das Schöne daran ist: Es ist alles so
exotisch, wächst aber vor der Haustür. Und je mehr ich mich mit dem Thema
beschäftige, umso mehr entdecke ich. Es ist endlos – ein großes Abenteuer.
Wollen Sie in erster Linie verschüttetes Wissen über Gemüse wieder
ausgraben? Oder gehört zum „Leaf to Root“-Konzept auch die
Experimentierfreude von Köchen, die aus allem etwas Essbares machen wollen?
Beides. Auch die Technik spielt eine Rolle. Vor hundert Jahren gab es noch
keine Hochleistungsmixer. Ich staune aber immer wieder, wie viel Wissen
über Gemüse ich in alten Büchern finde. In Asien dagegen ist das Wissen
darüber, wie Gemüseteile in der Küche verwertbar sind, viel lebendiger.
Zum Beispiel?
Melonenschale. In China macht man damit Salat, in Korea wird sie zu einem
Kimchi fermentiert. Für mich sind die Küchen anderer Länder eine
unglaubliche Inspiration. Ein weiteres Beispiel sind Kürbistriebe. Ich
habe inzwischen das Gefühl, die werden überall gegessen, nur bei uns nicht.
Kann man auch im Bioladen Zutaten für diese Gemüseküche finden?
Bioladen ist ein wichtiges Stichwort. Im konventionellen Landbau werden
Spritzmittel so eingesetzt, dass die Grenzwerte nur bei den Filetstücken
eingehalten werden. Ich empfehle immer, mit einfachen Gemüseteilen
anzufangen: Kohlrabiblätter, Rote-Bete-Blätter oder auch das
Radieschengrün. Das findet man oft, und kann es einfach in den Salat
reingeben. Wenn die Blätter schon etwas welk sind, eignen sie sich noch
immer für ein Pesto. Oder die Schale von Zitrusfrüchten. Damit lässt sich
auch viel machen.
Und hat das Radieschengrün auch die typische Schärfe?
Sie sind nicht ganz so scharf, aber das Radieschenaroma kommt schon raus.
Gleichzeitig ist der Geschmack etwas kohliger und grüner.
Ich bekomme den Eindruck, dass eigentlich jedes Gemüse von der Blüte bis
zur Wurzel essbar ist.
Für Kohlgemüse gilt das sicher, auch für Zwiebelpflanzen. Bei
Nachtschattengewächsen wäre ich vorsichtig, wie etwa beim Grün der Tomate,
von Kartoffeln oder Chilis.
Sie enthalten oft Solanin.
Ja, diese Pflanzen sind für uns Menschen unter Umständen nicht bekömmlich.
Ich finde zwar immer wieder Rezepte mit ungewöhnlichen Teilen von
Nachtschattengewächsen, auf den Philippinen etwa ist Chilikraut ein
Gewürz. Aber die Menschen dort haben lange Erfahrung damit. Uns hier fehlt
diese vollkommen. Mir auch – noch.
21 Aug 2018
## AUTOREN
Jörn Kabisch
## TAGS
Essen
Lebensmittel
Nachhaltigkeit
Gemüse
Restaurant
Ei
Essen
Kochen
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