| # taz.de -- Entschuldigungsbriefe an Lebensmittel: Meine Suppe ess ich jetzt | |
| > Einst schüttelte es unsere AutorInnen, wenn sie an Zwiebeln, Pils oder | |
| > Kalbszunge dachten. Heute sehen sie es anders. | |
| Bild: Brokkoli ist wie Kapern, nur größer | |
| Liebe Zwiebel, | |
| ich könnte heulen, wenn ich an die vielen Jahre denke, in denen ich dich | |
| geschnitten habe. Also, im metaphorischen Sinn, du weißt schon. Jetzt weine | |
| ich dafür umso öfter. Jedes unserer Treffen, bei denen du nackt und | |
| verletzlich vor mir liegst, ist wie ein neues, aufregendes Blind Date: Ich | |
| kann nichts sehen, aber du gibst mir dennoch das Gefühl, dass ich | |
| ungeschminkt verdammt hübsch bin. Jedenfalls hübscher als mit | |
| Wimperntusche, die über Wangen rinnt und vom Kinn aufs hölzerne | |
| Schneidebrett tropft. | |
| Ich weine dann auch um meine Eltern, die bestimmt 15 Jahre auf dich | |
| verzichtet haben – meinetwegen. Wenn das Liebe ist, werde ich nie wirklich | |
| lieben können. Nur dunkel erinnere ich mich daran, warum ich dich als Kind | |
| nicht mochte. Es war nicht mal ein geschmacklicher Dissens, sondern ein | |
| Konsistenzproblem, wie bei Shrimps (zu quietschig) und Pilzen (zu | |
| schwammig). Du, tja, du warst irgendwie zu glasig. | |
| Und ich definitiv zu schleckig. Einmal, als meine Eltern es vor Verlangen | |
| nicht mehr aushielten und dich heimlich in die Tomatensoße gaben, fand ich | |
| beim mutwilligen Herumstochern eins deiner mikroskopisch kleinen Stücke. | |
| Großes Drama, Vertrauensbruch, Lügeneltern! Und wieder: Tränen. Dabei | |
| hatten weder sie das verdient, noch du. | |
| Aber so bist du eben, du öffnest binnen Sekunden alle Schleusen, reißt | |
| meine Mauern ein und löst den Rotz in meiner Nase. Natürlich nur, damit ich | |
| dich besser riechen kann, sobald du dich im heißen Fett windest. Wer da | |
| nicht augenblicklich Hunger bekommt, ist nicht normal. Es heißt, manche | |
| lüften danach sogar, aber das sind auch die, die für die Zigarette danach | |
| auf den Balkon gehen. | |
| Bitte entschuldige, du köstlichstes aller Lauchgewächse. Auch im Namen der | |
| Jugendlichen, die den Lauch zum Schimpfwort erkoren haben, dabei sind | |
| selbst deine Kosenamen ein Gedicht: Bolle, Zipolle, Zipel, Ulch. Ach, meine | |
| hotte, flotte Schalotte. Ich hab dich zum Fressen gern. | |
| Deine Franziska | |
| * * * | |
| Liebes Pils, | |
| es war im Sommer eines noch jungen Jahrtausends, als wir uns zum ersten Mal | |
| begegneten. Ich saß auf einem Campingstuhl an der südfranzösischen | |
| Atlantikküste, mein Vater gab mir eine schatzsuchergrüne Bierflasche und | |
| sagte: „Probier mal.“ Der Name auf dem Etikett las sich irgendwie | |
| norddeutsch. | |
| Was dann passierte, war nicht schön. Ich habe mal einen Schnaps getrunken, | |
| aus Chili und ungefähr 71 bitteren Bergkräutern, da fing ich sofort | |
| unkontrolliert zu weinen an. Ungefähr so schmeckte mein erstes Pils. | |
| Gallig. Aschig. Ätzend. | |
| Wie das Land, so das Jever? Wer soll da denn wohnen? Ich bin in München | |
| aufgewachsen, dort scheint die Sonne, der Himmel ist mittelmeerblau, das | |
| Bier heißt „Helles“,und so schmeckt es auch, leicht, und sanft und weich | |
| wie das Wasser, das aus den Bergen zu uns fließt. Ein Land, das einem Pils | |
| ähnelt, stellte ich mir vor wie Mordor. Und mein Weltbild sah damals so | |
| aus: Warum soll man an die Nordsee fahren, wenn man ans Mittelmeer kann? | |
| Warum soll man aus der Sonne gehen, wenn sie scheint? Warum soll man | |
| laufen, wenn man keinem Ball hinterherläuft? Warum etwas anderes essen als | |
| Fertigpizza? Ich mochte keinen Winter, keinen Frühling und keinen Herbst. | |
| Ich mochte nur eine Art Bier. Ich war glücklich, dachte ich. | |
| Ab der Mitte meiner Zwanziger passierte etwas. Ich ging joggen. Ich machte | |
| Pizza selbst. In Düsseldorf trank ich ein Alt. In Nürnberg trank ich ein | |
| Rotbier. Auf Rügen, beim Zelturlaub, spülte ich sehr vorsichtig ein | |
| Fischbrötchen mit einem Pils weg. | |
| In diesen Jahren lernte ich, dass man manchmal etwas Raues erleiden muss, | |
| damit das Leben hinterher süßer ist. Liebes Pils, entschuldige. Ich habe | |
| mich danebenbenommen, ich war wohl betrunken. Ich habe dir so viel zu | |
| verdanken. Du hast mir die Welt aufgesperrt. | |
| Prost! Dein Philipp | |
| * * * | |
| Liebe Kalbszunge, | |
| so lange gehörtest du zur Dreifaltigkeit der Ungenießbarkeit. Der Vater war | |
| die Blutwurst, der Sohn die Avocado, und der Geist, der warst du. | |
| In meiner Kindheit war vieles igitt, aber für euch drei war dieses Wort | |
| viel zu schwach. Wenn meine Mutter einmal im Jahr, höchstens, sich auf das | |
| Abenteuer einließ, Kalbszunge zu machen, erfüllten Würggeräusche die | |
| Wohnung, stundenlang. Drei Jungen, eigentlich eingefleischte Fleischesser, | |
| überboten sich in Widerlichkeitsdarbietungen. | |
| Als einer meiner Brüder tatsächlich mal ein Stück von dem Fleisch probierte | |
| und sagte, es schmecke ihm, überlegte ich tagelang, ob es nicht möglich | |
| sei, dass wir gar keine leiblichen Geschwister wären. Ich ließ mir weiter | |
| nur von der Mehlschwitze geben, in der die Fleischstücke schwammen, | |
| zerdrückte Unmengen von Kartoffeln darin, und aß den Quetsch mit | |
| zusammengebissenen Zähnen, wobei ich versuchte, nicht zu atmen. | |
| Wie kann man Zunge essen, dachte ich damals. Ein Organ, dass zeit seines | |
| Lebens Futter im Maul hin und her geschoben hat, und noch schlimmer: | |
| Halbverdautes, das die Kuh aus zum Wiederkäuen aus ihrem Pansen wieder | |
| hochgedrückt hatte. Essen, das schon einmal Essen berührt hatte? Nie im | |
| Leben. Beim Fleischer musste ich wegsehen, wenn du in der Vitrine lagst. So | |
| übergroß und überhaupt so ähnlich mit dem, was ich auch im Mund hatte, | |
| warst du. | |
| Aber es musste sein. Wenn ich noch Fleisch essen will, hieß vor zehn Jahren | |
| mein Beschluss, dann von der Schnauze bis zum Schwanz. Als ich dich dann | |
| endlich probierte, musste ich sofort Abbitte leisten. Was ich da auf der | |
| Zunge hatte, war so fleischig, so wunderbar, hatte so sehr den perfekten | |
| Biss. Widerstandsfähiger als Leber bist du, und zugleich mager und mürbe. | |
| Zunge, heute bist du mir lieber als jedes Filet. Und nur für ein anderes | |
| Stück vom Tier kann ich von dir lassen: gegrilltes Herz. | |
| In ewiger Treue, Jörn | |
| 18 Mar 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Seyboldt | |
| Jörn Kabisch | |
| Philipp Daum | |
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