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# taz.de -- Rot-grün-roter Koalitionsvertrag: Das Handbuch fürs Regieren
> 152 Seiten ist der neue rot-grün-rote Koalitionsvertrag stark. Manches
> ist neu, anderes war schon einmal vereinbart worden. Ein Überblick.
Bild: Sie haben den Koalitionsvertrag mitgeschrieben: Klaus Lederer, Franziska …
## Bildung
Die Schulen sollen von einer Personaloffensive profitieren: 2.000
zusätzliche Stellen kündigte Franziska Giffey (SPD) für die Bereiche
Inneres, Bildung und für die Verwaltung an – pro Jahr, wohlgemerkt.
Allerdings muss das Personal erst mal gefunden werden. Angesichts eines
bundesweiten Fachkräftemangels ist das gar nicht so leicht.
Einen Wettbewerbsnachteil will Rot-Grün-Rot deshalb hinter sich lassen:
Berlin war bislang das einzige Bundesland, das seine Lehrkräfte nicht mehr
verbeamtet. Die Altersgrenze für die Verbeamtung der bereits in Berlin
angestellten LehrerInnen wird „temporär“ auf 52 Jahre angehoben.
Neueinstellungen werden sowieso verbeamtet. Bei der gebührenfreien Bildung
geht es einen Trippelschritt voran: Der Schulhort in der Grundschule wird
für einen weiteren Jahrgang, nämlich die 3. Klassen, beitragsfrei.
Die Schulbauoffensive wird ein Investitionsschwerpunkt bleiben. Es soll
verstärkt mit Holz gebaut werden – ein Zugeständnis an die Grünen. Auch der
Kitaplatzausbau soll weitergehen, unabhängig von Bundesmitteln. Die
Gebührenfreiheit wird, knapper Coronahaushalt hin oder her, nicht
angetastet. Kleiner, aber wichtiger Punkt für mehr Chancengerechtigkeit:
Die Gymnasien dürfen SchülerInnen nach der 7. Klasse bei schlechten Noten
nicht mehr „abschulen“. Dafür müssen die Kinder nach der Grundschule, wenn
sie keine Gymnasialempfehlung haben, eine Aufnahmeprüfung für die Gymnasien
bestehen. Das heißt: Auch Kinder, die nach der Grundschule keine Top-Noten
haben, können den Sprung aufs Gymnasium schaffen und dann dort bleiben –
wenn zum Beispiel ein*e LehrerIn Potenzial sieht. (akl)
## Inneres
Ohne mehr Polizei kommt kein [1][Koalitionsvertrag] aus, wobei unklar
bleibt, wie viele neue Beamte es werden sollen. Verdreifachen soll sich die
Zahl der Fahrradstreifen; dazu kommen Kontaktbereichsbeamte überall in der
Stadt. Mindestens 60 neue Blitzer sind geplant; die Videoüberwachung
kriminalitätsbelasteter Orte kommt partiell, soll aber alle sechs Monate
überprüft werden.
Auf der Bürgerrechtsseite dagegen werden anlasslose Kontrollen faktisch
unterbunden, in dem sie an das Verhalten geknüpft werden und Betroffene
Kontrollquittungen erhalten können. Die Stelle des Polizeibeauftragten wird
endlich besetzt, Racial Profiling gesetzlich verboten. Polizeidatenbanken
sollen überarbeitet werden, inklusive einer Benachrichtigungspflicht über
die Speicherung. Auch beim Verfassungsschutz wird die Datenspeicherung
überprüft und die Kontrolle mit einer parlamentarischen Beauftragten
gestärkt. Der Untersuchungsausschuss zum rechten Terror in Neukölln kommt.
(epe)
## Soziales
Dass der in der letzten Legislaturperiode erarbeitete „Masterplan zur
Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030“ umgesetzt werden
soll, steht tatsächlich im Koalitionsvertrag. So sollen die Behörden
künftig die Miete für wohnungslose Menschen auch dann übernehmen, wenn sie
teurer ist als die Regelsätze, aber günstiger als die Unterbringung nach
Tagessätzen im Obdachlosenheim oder Hostel. Die Neuregelung soll im ersten
Halbjahr 2022 umgesetzt werden und probeweise zwei Jahre gelten.
Außerdem bestätigt der Koalitionsvertrag eine Ausweitung der innovativen
Housing-First-Angebote, sprich Wohnung statt Nothilfe. Wie die
Wohnungslosenhilfe auf Housing First umgestellt wird, wird vom knappen Gut
Wohnraum abhängig sein. Auch dafür stellt der Koalitionsvertrag die
Weichen: mit einem noch nicht genauer bezifferten „festen Korridor“ an
Wohnungen, den die landeseigenen Wohnungsunternehmen für obdachlose
Menschen zur Verfügung stellen sollen, und mit einem Investitionsprogramm,
das ab 2024 soziale Träger bezuschussen soll, die bestehende
Obdachlosenunterkünfte in Wohnungen umbauen oder neu bauen. (mah)
## Stadtentwicklung, Bauen, Mieten
Wie schon in den vergangenen Jahren will Berlin wieder 20.000 Wohnungen pro
Jahr neu bauen, diesmal aber wirklich, durch Förderprogramme und
beschleunigte Genehmigungen. Möglichst die Hälfte davon soll im bezahlbaren
Segment entstehen. Um in zehn Jahren 200.000 Wohnungen zu errichten, wird
der Stadtentwicklungsplan Wohnen überarbeitet; 16 definierte Quartiere
sollen entstehen, dazu kommen fünf neue wie die Elisabeth-Aue und der
Zentrale Festplatz, nicht aber das Tempelhofer Feld. In bestehenden
Quartieren wird verdichtet und aufgestockt, möglichst nachhaltig.
35.000 Wohnungen sollen die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften (LWU)
bauen, auch durch verbesserte Kooperation, den Rest Genossenschaften und
Private. Mieterschutz steht dagegen deutlich hinten an, ist aber zumindest
enthalten: Soziale Vermietungsregeln der LWU sollen beibehalten werden,
versprochen werden neue Milieuschutzgebiete, Ausbau von Mieterberatung und
Engagement gegen Eigenbedarfskündigungen. Eine Kommission prüft den
Enteignungs-Volksentscheid auf Umsetzungsmöglichkeiten. (epe)
## Migration
Die Koalition will ein zentrales Landeseinbürgerungszentrum (LEZ) schaffen,
um Einbürgerungen schneller zu machen. Um mehr Menschen das Hierbleiben zu
ermöglichen, soll das Landeseinwanderungsamt (LEA) alle Spielräume nutzen,
um Aufenthaltsrechte zu vergeben, etwa für langjährig Geduldete aus
Dauerkrisenregionen (etwa Afghanen). Allerdings stand das schon im alten
Koalitionsvertrag und hat nicht wirklich geklappt. Vielleicht wird es mit
konkreten Vorgaben nun besser: Um bei Aufenthaltsbeendigungen „humanitär“
vorzugehen, sollen Nacht-Abschiebungen (heute fast die Regel) und
Handywegnahme (dito) in der Regel unterbleiben.
Wichtige Neuerung: Den WBS gibt es künftig für alle Geflüchteten,
unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Und Menschen, die in Wohnheimen des
Bezirke leben oder in Frauenhäusern oder Kältehilfe-Einrichtungen,
bekommen den WBS mit „höchster Dringlichkeit“. Zudem will RGR mehr
Geflüchtete über die eigenen beiden Landesaufnahmeprogramme aufnehmen. Im
Bund will man sich „für die Aufnahme von Schutzsuchenden auch von den
EU-Außengrenzen“, etwa Polen/Belarus, einsetzen. (sum)
## Kultur
Die künftige Koalition verspricht den pandemiegebeutelten
Berliner*innen nicht weniger als einen Supersommer: 2022 soll es einen
stadtweiten „Kultursommer“ geben, um die Trübsal der Wintermonate vergessen
zu lassen. Ähnlich wie im Bereich Wirtschaft wird es für die Kulturbranche
ein landeseigenes Neustartprogramm geben, dazu Hilfen durch
Sonderstipendien, Mietzuschüsse und bei Kredittilgungen. Der alte und wohl
auch künftige Kultursenator Klaus Lederer (Linke) kann damit erneut Akzente
bei der auch finanziellen Wertschätzung des Kulturbereichs setzen, und das
eben nicht nur bei der Hochkultur.
Um kulturelle Zwischennutzung in landeseigenen Liegenschaften zu
ermöglichen, soll ein Kulturkataster erstellt werden und es sollen mehr
Räume für Kultur angemietet werden. Ein Großprojekt soll kurz vor Ende der
Legislatur noch starten: die Planung für den Neubau der Zentral- und
Landesbibliothek soll 2026 beginnen. Generell sollen Bibliotheken in der
ganzen Stadt stärker als Kulturorte genutzt werden. Rot-Grün-Rot verspricht
den Berliner*innen zudem einen – wenn auch einmaligen – weiteren
Feiertag: den 80. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 2025. (bis)
## Justiz
Im Bereich Justiz setzt RGR seine bisherige Politik weitgehend fort: Der
Anteil derjenigen, die nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Haftstrafe
entlassen werden, soll erhöht werden; man will hier „zu anderen
Bundesländern aufschließen“. Resozialisierung soll „gesetzlich weiter
gestärkt“ werden. Auch die Digitalisierung von Hafträumen „zur Verbesseru…
von Resozialisierungsbedingungen wird zügig vorangetrieben. Im Bund will
man sich für eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrkarte sowie des
Containerns einsetzen.
Bei einem wichtigen Streitpunkt der alten Koalition hat man sich
gegenseitig goldene Brücken gebaut: Das Neutralitätsgesetz, das unter
anderem LehrerInnen das Tragen religiöser Zeichen im Dienst verbietet und
das die SPD behalten will, Grüne und Linke aber ändern wollen, soll nun „in
Abhängigkeit von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
angepasst“ werden. Das Urteil aus Karlsruhe zu einem Berliner Fall wird
irgendwann kommen – dann haben die Sozialdemokraten ein gutes
Verkaufsargument, warum sie ihre bisherige Haltung aufgeben. (sum)
## Verkehr
In Sachen Mobilität unterscheidet die neue Koalitionsvereinbarung wenig von
der alten. Der Umweltverbund – ÖPNV, Rad und Fuß – soll gestärkt werden,
Netze und Takte verdichtet, die Elektrifizierung vorangetrieben. Ein
Offenbarungseid sind die Aussagen zum Tram-Ausbau: Von drei Strecken, die
schon in der vergangenen Legislatur in Betrieb genommen werden sollten,
werden nun zwei bis 2026 fertig. Andere, die in der aktuellen Legislatur
eröffnet werden sollten, hängen weiter in der Planung fest.
Festgelegt haben sich die KoalitionärInnen auf drei Elemente, mit denen sie
die „dritte Säule der ÖPNV-Finanzierung“ errichten wollen: 1. Erhöhung d…
Kurzzeitparkgebühren, 2. Verteuerung der AnwohnerInnenvignette auf 10 Euro
im Monat (das entspricht fast einer Verzwölffachung), 3. verpflichtendes
ÖPNV-Ticket für TouristInnen, die ein Hotel- oder AirBnB-Zimmer buchen.
Beim Auto fällt auf, was fehlt: die Aussage, dass beziehungsweise wie der
Kfz-Anteil zurückgedrängt werden soll. Die A100 will RGR erst einmal in
Treptow enden lassen, der mögliche 17. Bauabschnitt bleibt eingefroren.
(clp)
## Gesundheit
Wie schlecht die Zustände für viele Beschäftigten der Krankenhäuser sind,
hat sich in der Pandemie gezeigt. Der Gestaltungsspielraum auf Landesebene
ist da nicht riesig, viel hängt am Finanzierungssystem der
Krankenversorgung. Aber immerhin steht nun im Koalitionsvertrag, dass die
Investitionen in die landeseigenen Krankenhäuser ausgeweitet und
stabilisiert werden sollen – bisher werden vor allem bei Vivantes auch ein
guter Teil der notwendigen Investitionen aus den knappen Eigenmitteln
bestritten. Außerdem soll die Pflegeausbildung attraktiver gestaltet
werden, um die hohe Abbrecherquote zu senken. Ebenfalls eine Lehre aus der
Pandemie: Die Gesundheitsämter sind desolat ausgestattet. Hier sieht der
Vertrag vor, dass „konsequent digitalisiert“ und das Mustergesundheitsamt
weiterentwickelt wird. (mah)
30 Nov 2021
## LINKS
[1] http://dielinke.berlin/rotgruenrot/vertrag/
## AUTOREN
Erik Peter
Anna Klöpper
Manuela Heim
Bert Schulz
Susanne Memarnia
## TAGS
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