| # taz.de -- Kapitalismuskritik am Wohnungsmarkt: „Das Problem an der Wurzel p… | |
| > Ist „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ eine sozialistische Bewegung? Eine | |
| > Standortbestimmung mit dem Historiker und Kampagnensprecher Ralf | |
| > Hoffrogge. | |
| Bild: Macht laufend Werbung für Volksbegehren: Ralf Hoffrogge unterwegs in Neu… | |
| taz: Herr Hoffrogge, kehrt mit der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co | |
| enteignen“ die Arbeiterbewegung zurück? | |
| Ralf Hoffrogge: Ja und nein. Wir sind keine Arbeiterbewegung, vertreten | |
| keine Arbeiteridentitäten; bei uns kann jeder unabhängig von der | |
| beruflichen Tätigkeit mitmachen. Aber wir vertreten die Leute, die | |
| lohnabhängig sind und ihren Lohn in Form der Miete an die Konzerne | |
| abdrücken müssen. Die Eigentumsfrage, die wir stellen, ist der Kern von | |
| Klassenpolitik: Welche Gruppe kann über den Wohnraum verfügen? Die Mehrheit | |
| der Bevölkerung oder die Minderheit, die einen Eigentumstitel hat? | |
| Es geht Ihnen um den Kapitalismus als System? | |
| Der Witz ist, dass die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt gar nicht mehr | |
| industriekapitalistisch, sondern feudalistisch sind. Im Feudalismus konnten | |
| jene, die die Landrechte besaßen, die Leute ausbeuten und etwa die Bauern | |
| vom Land vertreiben. Aus dieser ursprünglichen Enteignung, die die Bauern | |
| in die Produktion zwang, ist der Kapitalismus erst entstanden. Im heutigen | |
| Spätkapitalismus haben wir dieses Feudaleigentum im Grunde wieder, weil die | |
| Konzentration von Eigentum so enorm hoch ist. Mit dem kapitalistischen | |
| Mythos, dass Eigentum und Leistung zusammenhängen, hat das nichts mehr zu | |
| tun. | |
| In welcher geschichtlichen Tradition stehen Sie mit der Forderung nach | |
| Enteignung? | |
| Schon in der Novemberrevolution von 1918/19 wollten die Arbeiter- und | |
| Soldatenräte enteignen, den Bergbau etwa, auch ohne Gesetz. Das ist dann | |
| nicht gemacht worden. Es folgte der Kompromiss der Weimarer Verfassung von | |
| 1919: Das Eigentum wird geschützt, aber es darf vergesellschaftet werden, | |
| wenn es ein Gesetz und eine Mehrheit dafür gibt. 1949 wurde dieser | |
| Kompromiss auf Druck der SPD ins Grundgesetz übernommen. Politisch gibt es | |
| also eine direkte Linie von der Arbeiterbewegung der alten Sozialdemokratie | |
| bis zum Vergesellschaftungsartikel 15. Auch wenn sich die | |
| Mieter*innenbewegung heute auf das „rote Wien“ bezieht, wo zwar nicht | |
| enteignet, aber der Markt so stark reguliert wurde, dass die Stadt günstig | |
| kaufen konnte, steht sie in der Tradition reformsozialistischer | |
| Vorstellungen. Daher ist es auch kein Zufall, dass Verdi und die IG Metall | |
| Berlin uns unterstützen. | |
| Ist die Kampagne eine sozialistische Bewegung? | |
| Es gibt viele von uns, die mit Sozialismus nichts zu tun haben. Man muss | |
| kein politisches Bekenntnis ablegen, um bei uns mitzumachen, nur das Ziel | |
| der Vergesellschaftung von Wohnraum teilen. Auch zur sozialen | |
| Marktwirtschaft gehört ein öffentlicher Sektor, der Grundbedürfnisse | |
| versorgt. Dieser muss erst wieder hergestellt werden. | |
| An Enteignung hat aber seit Bestehen des Grundgesetzes niemand gedacht. | |
| Niemand hat den Vergesellschaftungsartikel angewendet. Die Möglichkeit dazu | |
| hatten lange ausschließlich die Bundes- und Landesregierungen. Da gab es | |
| nicht die nötigen Mehrheiten oder den Mut. Auch Rot-Rot-Grün würde von sich | |
| aus nicht an Sozialisierungen denken. Unsere neue Situation ist, dass wir | |
| diese gesetzgeberische Möglichkeit mit dem modernen demokratischen Mittel | |
| der Volksabstimmungen anstoßen können. | |
| Wie kam es zu der Idee, Wohnungskonzerne zu vergesellschaften? | |
| Als Erstes hat das Kotti und Co. formuliert, 2016 in einer Broschüre und | |
| [1][einem Gastbeitrag für die taz]. Die Interventionistische Linke hat das | |
| aufgenommen in ihrer Broschüre „Das rote Berlin“. Und im Protest der | |
| Deutschen-Wohnen-Mieter gab es auch immer wieder Stimmen: „Eigentlich | |
| müsste man mal …“ Aus diesen Gruppen und Resten des Mietenvolksentscheids | |
| von 2015 entstand „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. | |
| Was ist Ihre Rolle dabei? | |
| Ich war ein wenig beim Mietenvolksentscheid engagiert, und die | |
| Enteignungsidee spukte mir wie vielen anderen auch schon im Kopf herum. | |
| Nach dem Tegel-Volksentscheid der FDP stand dann die Frage im Raum, ob es | |
| statt dieses undurchführbaren Etikettenschwindels auch eine sinnvolle | |
| Möglichkeit gäbe, das Mittel „Beschluss-Volksentscheid“ zu nutzen. Ich | |
| gehörte da zu der Fraktion, die darauf gedrungen hat, dass man das nicht | |
| als Diskurskampagne macht, sondern mit einer gesetzlich umsetzbaren | |
| Perspektive verbindet. Befreundete JuristInnen haben uns dann bestärkt in | |
| dem Plan, uns ausschließlich auf Artikel 15 zu beziehen. Als Historiker | |
| habe ich mich später in die programmatische Arbeit eingebracht und mit der | |
| Frage beschäftigt, [2][was nach der Enteignung kommt]. | |
| Und? | |
| Wir knüpfen an das Konzept der Gemeinwirtschaft an, also demokratisch | |
| verwaltete Unternehmen im öffentlichen Eigentum. Bis in die 1980er Jahre | |
| war das die Antwort der bundesrepublikanischen Gewerkschaften auf die | |
| Frage, wie Wirtschaft eigentlich aussehen sollte. Das hört man nicht mehr | |
| seit dem Doppelschlag aus der Pleite der „Neuen Heimat“ 1981 und der | |
| Entpolitisierung nach dem Fall der DDR. Danach traute sich die | |
| sozialdemokratische, gewerkschaftliche Linke nicht mehr, so etwas zu | |
| fordern. | |
| Darüber, wie Wohnungen anders verwaltet werden könnten, wird kaum | |
| gesprochen. | |
| Es stimmt, das spielt in der Debatte eine zu geringe Rolle. Die Leute, die | |
| der Mietenwahnsinn betrifft, sind verzweifelt. Die wollen einfach diese | |
| Last der drückenden Miete und die Angst vor der Obdachlosigkeit loswerden. | |
| Und die Leute, die gegen unsere Initiative sind, wollen natürlich nicht, | |
| dass es Alternativen zum Markt gibt. Sobald das denkbar ist, käme ja | |
| vielleicht jemand auf die Idee, das umzusetzen, und dann verlieren die | |
| Leute, die vom jetzigen System profitieren, ihre Privilegien. | |
| Wird die entscheidende Debatte jene über die Entschädigungskosten sein? | |
| Ja, auch wenn die konkrete Auseinandersetzung bislang vermieden wird. Kein | |
| Wirtschaftswissenschaftler hat auch nur versucht, unser Kostenmodell | |
| nachzurechnen. Wir sagen: Wenn man die Entschädigung nicht nach | |
| Verkehrswert ansetzt, sondern niedriger, dann finanziert sich das Ganze | |
| durch Mieteinnahmen von selbst. Wir würden uns auf eine Konfrontation mit | |
| Gegenpositionen freuen, aber da kommt nichts. Stattdessen wird mit dieser | |
| unsinnigen Zahl von 36 Milliarden Euro Entschädigungssumme hantiert, die | |
| eigentlich durch eine Manipulation in die Welt gekommen ist. | |
| Wieso das? | |
| Die Kostenschätzung des Senats von 2019 enthielt diesen Wert als | |
| rechnerische Anfangsgröße für den Fall einer Entschädigung des kompletten | |
| Marktwerts. Sie kam aber zu dem Schluss, dass spekulative Wertsteigerungen | |
| abzuziehen sind, und landete dann bei 28,8 Milliarden. Statt der | |
| Kostenschätzung wurde aber den Medien zunächst nur eine Zusammenfassung | |
| durchgestochen. So wurde aus einer rechnerischen Grenze eine tatsächlichen | |
| Zahl. Gleichzeitig werden die Mieteinnahmen verschwiegen – die | |
| Senatskostenschätzung liest sich, als ob die Wohnungen Minus machen. Wenn | |
| das so wäre, warum haben Vonovia und Deutsche Wohnen sie dann gekauft? | |
| Wir hart wird der Gegenwind für Sie noch? | |
| Unsere Gegner*innen wollen keine sachliche Auseinandersetzung. In einer | |
| Sachdebatte haben sie nicht viel auf der Hand. Die Deutsche Wohnen hat | |
| nicht gebaut, nichts für die Mieter*innen getan, sie verwaltet nicht | |
| effizienter. Die neoliberale Argumentation, dass privat besser wäre, greift | |
| nicht. Es ist teurer, das Angebot ist schlechter, der Service ist im Eimer, | |
| man erreicht niemand. Wieso sollte jemand dieses Produkt kaufen? Nur weil | |
| man muss, weil man gezwungen ist zu wohnen. | |
| Ist Ihre Forderung radikal? | |
| Radikal in dem Sinne, dass wir das Problem an der Wurzel packen. Während | |
| der Mietendeckel ein Symptom kuriert und verbietet, zu viel Miete zu | |
| nehmen, wollen wir die Ursachen kurieren, also dass die Wohnungen an der | |
| Börse gehandelt werden. Dieses grundsätzliche Nachdenken über andere | |
| Wirtschaftsformen wird oft als illegitim abgetan, obwohl es ja | |
| Verfassungsrang hat. Dass unsere Forderungen, die eher aus der Tradition | |
| der Sozialdemokratie kommen, nun als linksradikal bezeichnet werden, sagt | |
| wenig über uns aus – aber viel über die Entpolitisierung der Gesellschaft | |
| nach 30 Jahren Neoliberalismus. | |
| Ihre Forderungen werden von der SPD aber nicht unterstützt. | |
| Die SPD von heute hat Identitätsprobleme und muss sich ihre eigenen Ideale | |
| von der Mieter*innenbewegung hinterhertragen lassen. Große Illusionen | |
| hatte ich da auch nicht, aber ein bisschen mehr müsste schon noch kommen. | |
| Immerhin haben 2019 40 Prozent der SPD-Delegierten auf dem Landesparteitag | |
| unser Begehren unterstützt, also stimmt es nicht, dass die ganze SPD das | |
| ablehnt. Von diesen 40 Prozent erhoffe ich mir jetzt ein bisschen mehr Mut. | |
| Gerade haben die Jusos mit einem Unterstützungsbeschluss ein bisschen den | |
| Kopf herausgestreckt – vielleicht kommt da noch was. | |
| Wer muss gewonnen werden, um schlussendlich erfolgreich zu sein? | |
| Da ist schon viel passiert, aber wir müssen noch weiter raus aus | |
| Neukölln/Kreuzberg und der aktivistischen Blase. Wir gewinnen auch nur quer | |
| zu den Parteien, also wenn wir auch die 30 Prozent der CDU-Wähler*innen | |
| ansprechen, die uns laut einer Umfrage auch gut finden. Diese Aufgabe, in | |
| die Breite der Stadt zu gehen, ist durch Corona extrem erschwert. Es fehlen | |
| die großen Demos, die Stadtfeste, alles was Straßen- und Basispolitik | |
| ausmacht. Die Zahl bislang gesammelter Unterschriften stimmt mich aber | |
| optimistisch. | |
| Was wäre die gesellschaftspolitische Bedeutung eines Sieges? | |
| Es wäre ein wirklicher Schritt in Richtung demokratischer Deglobalisierung; | |
| dass man Kapital von den Finanzmärkten herunternimmt und in einen lokalen | |
| Wirtschaftskreislauf einspeist, wo es als Gebrauchswert dem Bedürfnis nach | |
| Wohnen dient. Aus Geld mehr machen ist kein Bedürfnis, sondern eine | |
| Perversion, ein Leerlauf, der niemandem nützt. Unser Erfolg würde Berlin | |
| davor retten, eine Stadt des Kapitals zu werden, und hätte eine | |
| Signalwirkung, dass man eine weltoffene Stadt auch als regionale | |
| Geneinwirtschaft denken kann. Ein Leuchtturmprojekt. | |
| 10 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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