# taz.de -- Streitgespräch zwischen Linksradikalen: „Der Klassenfeind ist or… | |
> Halil Simsek ist beim antiimperialistischen Roten Aufbau, Christoph | |
> Kleine bei der postautonomen Interventionistischen Linken. Ein | |
> Streitgespräch. | |
Bild: Beide wollen Kommunismus, aber einig sind sie sich deshalb nicht: Halil S… | |
taz: Herr Kleine, Herr Simsek, ist die außerparlamentarische Linke als | |
gesellschaftliche Kraft in Deutschland noch ernst zu nehmen? | |
Christoph Kleine: Da ist viel Luft nach oben. Die Linke darf nicht nur in | |
den Subkulturen oder Kiezen eine Rolle spielen. Das war schon vor Corona | |
ein Problem, aber die Leerstelle ist mit der Pandemie deutlicher geworden. | |
Halil Simsek: Wir haben die Hausaufgaben der letzten Jahre nicht gemacht. | |
Die Leute suchen Antworten, die radikale Linke hat sie ihnen nicht gegeben. | |
Die Rechten sind uns immer ein paar Schritte voraus, allerdings mit | |
falschen Antworten, aber sie holen teilweise die Leute ab. | |
Wie kam es zu dem Versagen von links? | |
Simsek: Alle wurden von der Pandemie und den Maßnahmen überrollt. Manche | |
haben sich versteckt und versucht zu analysieren, was passiert. Wobei wir | |
schon im letzten Jahr den 1. Mai organisiert haben und auch in diesem Jahr | |
auf die Straße gehen. Aber für die Zukunft müssen wir eine kritische | |
Bewegung gegenüber den Coronamaßnahmen aufbauen, die nicht der Regierung | |
hinterherläuft. | |
Kleine: Ich weiß nicht, wer sich versteckt haben soll, ich war während des | |
ersten Lockdowns auf so vielen Demonstrationen, wie selten zuvor, zum | |
Beispiel für die Seebrücke. Wir sind nicht gegen Maßnahmen wie Abstand | |
halten und Kontaktreduzierungen, sondern wollen Infektionsschutz für alle. | |
Die Leute, die an Covid-19 sterben, gehören auch zu unserer Klasse. | |
Macht die Bundesregierung das meiste richtig in der Bekämpfung der | |
Pandemie? | |
Kleine: Nein, natürlich nicht. Es ist völlig offenkundig, dass die | |
Einschränkungen auf den Privat- und Freizeitbereich abgewälzt werden. Die | |
Produktion soll trotz der vielen Toten weiterlaufen, dahinter stehen | |
mächtige Interessen, vor allem der Exportwirtschaft. | |
Was müssten Linke tun, um mehr Menschen zu erreichen? | |
Simsek: Wir müssen langfristig denken und die Leute da abholen, wo sie | |
sind: in den Stadtteilen, den Betrieben, auch kulturelle Angebote machen. | |
Klar braucht man gute Kommunikationskanäle und Symbole. Aber wichtiger als | |
eine rote Fahne ist es, ins Gespräch zu kommen. Das ist mühsam, aber | |
Jugendbewegungen kommen und gehen. Was wir brauchen, ist eine langfristige | |
Organisierung. | |
Wenn Sie das Rezept haben, wieso setzen Sie es nicht um? | |
Simsek: Wir sind in letzter Zeit stark von Repression betroffen, darunter | |
haben wir gelitten. Die Innenbehörde hat uns zwei Zentren in drei Jahren | |
geschlossen, drei Mal haben sie meine Wohnung gestürmt, zwei Mal mit | |
gezogenen Maschinengewehren. Auch das Terrorverfahren gegen uns ist nicht | |
lapidar. Die Polizei hat die Telefone meiner Mutter abgehört, das macht | |
schon was mit einem. Die Leute haben Angst, aber das wird weniger, wenn man | |
langfristig mit ihnen arbeitet. Es zeigt aber auch, dass der Staat unsere | |
Politik ernst nimmt. | |
Welche Rolle spielt Basisarbeit für die Interventionistische Linke? | |
Kleine: Natürlich machen wir auch Basisarbeit. Was mir aber nicht | |
einleuchtet, ist, warum Nachbarschaften und Betriebe privilegierte Orte | |
sein sollten. Im Gegensatz zum Roten Aufbau ist die IL in so gut wie allen | |
Bewegungen, wo Kämpfe geführt werden. Wir sind in der Klima- und | |
antirassistischen Bewegung, bei der Seebrücke, in Antifa-Bündnissen, | |
arbeiten mit Mieter*innen, in den Krankenhausbündnissen, unterstützen | |
Sexarbeiter*innen. Der Rote Aufbau ist nicht gerade für eine offene und | |
einladende Kultur bekannt. | |
Simsek: Unser Antifaschismus verfolgt nicht diesen bürgerlichen Ansatz, mit | |
den Grünen und der SPD gegen Nazis zu sein. Wir begreifen den Faschismus | |
als einen Auswuchs des Kapitalismus. Deshalb finden wir es falsch, ganz | |
breite Bündnisse einzugehen. Aber wir sind auch in den meisten Bereichen | |
aktiv, die du genannt hast. Und wir erreichen Leute, die ihr nicht | |
erreicht, zum Beispiel Pfleger*innen und migrantische Jugendliche. | |
Kleine: Das, was ihr macht, nehme ich als ziemlich subkulturell und | |
geschlossen wahr. | |
Simsek: Unser Ansatz ist nicht, unsere Inhalte zu negieren, um breite | |
Bündnisse zu schließen. Wir haben Grundsätze, nach denen suchen wir uns | |
unsere Bündnispartner aus. Eure Prinzipienlosigkeit führt schnell in den | |
Opportunismus. Wir würden keine antifaschistische Arbeit mit der SPD | |
machen. Sie hat den Asylkompromiss mitgetragen, Krieg geführt und ist keine | |
antifaschistische Organisation. | |
Wo verläuft für die IL die Grenze – kann sie mit der SPD Bündnisse | |
eingehen? | |
Kleine: Wenn es darum geht, einen Naziaufmarsch zu verhindern, | |
selbstverständlich. Das Kriterium ist dann zum Beispiel, ob das Bündnis | |
einen Blockadeaufruf trägt. Klare Standpunkte sind wichtig und viele von | |
uns würden sich, wie ihr, als Kommunist*innen bezeichnen. Aber wir | |
fordern keine formalen Bekenntnisse von anderen, bevor wir uns mit ihnen an | |
einen Tisch setzen. | |
Was ist wichtiger: in die Gesellschaft hinein zu wirken oder auf Prinzipien | |
zu beharren? | |
Kleine: Ich finde es wichtig, dass die radikale Linke ein relevanter Teil | |
des politischen Kräfteverhältnisses wird. Da kommt es mir nicht so sehr | |
drauf an, mit wem man sich an einen Tisch setzt. Abgrenzung allein bringt | |
uns nicht weiter. Wir sollten selbstbewusst und stark genug sein, | |
Auseinandersetzungen zu bestehen,und uns nicht in unserer eigenen Blase | |
einschließen. | |
Simsek: Wir wollen auch gesellschaftsfähige Politik machen, aber gegen das | |
Establishment arbeiten und nicht ein Teil davon werden. Der Antagonismus | |
ist eine Grundsäule unserer Arbeit. Wir werden uns nicht als bessere | |
Sozialdemokrat*innen anbiedern, um dann am Katzentisch zu sitzen. | |
Kleine: Das führt dazu, dass es leichter ist, einen Pudding an die Wand zu | |
nageln, als euch in ein Bündnis zu kriegen. Eigentlich geht es doch darum, | |
mit anderen politischen Kräften gemeinsam was auf die Beine zu stellen, | |
sich als verlässlicher Bündnispartner und relevanter Faktor zu erweisen, | |
ohne sich zu verleugnen. Ich glaube, niemand ist sich im Unklaren darüber, | |
wofür die IL steht, nämlich den Kapitalismus revolutionär zu beseitigen. | |
Sehen Sie auch nur die kleinste Chance, den Kapitalismus in absehbarer | |
Zukunft revolutionär zu beseitigen? | |
Simsek: Ist die IL überhaupt revolutionär? Ich sehe das in der täglichen | |
Praxis nicht. Es fehlt der Antagonismus, gegen das System zu sein. Als | |
Revolutionäre würdet ihr mit euren Antworten in die Gesellschaft | |
reinwirken, nicht indem ihr so breite Bündnisse wie möglich eingeht. | |
Dafür nehmen Sie ein noch marginaleres Dasein in Kauf als die | |
Interventionistische Linke. | |
Simsek: Die IL ist kein Gradmesser für politische Relevanz, und klar kann | |
sich unsere noch verbessern, daran arbeiten wir täglich. Aber in Hamburg | |
würde ich die IL nicht als größer einschätzen als uns. Unser | |
Mobilisierungspotenzial ist deutlich höher. | |
Wie müssen sich Linke heute organisieren – streng wie eine kommunistische | |
Partei oder wie ein lockerer Zusammenschluss mit Eventcharakter? | |
Simsek: Für uns ist die kommunistische Partei die effektivste Form, wie | |
sich Kommunist*innen organisieren. Das funktioniert nach Prinzipien, | |
zum Beispiel dem demokratischen Zentralismus von Lenin. Es ist aber nichts | |
Starres, sondern muss weiterentwickelt werden. Langfristig gehört auch eine | |
zum Teil illegale Strukturierung dazu. Schließlich sitzen die Rechten schon | |
jetzt in den Sicherheitsbehörden. | |
Sie werben für eine Organisierung im Untergrund? | |
Simsek: Nein, nur dafür, dass nicht bekannt ist, wer sich organisiert. Wenn | |
du etwa Lehrer bist und sagst, dass du Kommunist bist, bist du nicht lange | |
Lehrer. Man muss die Leute, die bereit sind zu kämpfen und gewisse Opfer zu | |
bringen, versuchen, dabei zu behalten, und das funktioniert am ehesten in | |
einer verlässlichen und streng organisierten Struktur. | |
Also Anwesenheitspflicht beim Plenum? | |
Simsek: In einer neuen kommunistischen Partei gäbe es kein wöchentliches | |
Plenum, das ist eine autonome Arbeitsweise. | |
Was gäbe es stattdessen? | |
Simsek: Es würden Leute freigestellt um herumzureisen, Kämpfe zu vernetzen, | |
in Kontakt zu treten. Das müsste in einen globalen Prozess von | |
Betriebskämpfen, Streiks, Kulturkämpfen eingebettet sein. Alles müsste | |
darauf zielen, die Kämpfe zu vereinen. Das funktioniert im Moment ja gar | |
nicht, alle kämpfen getrennt. Man bräuchte eine Gruppe oder Struktur, die | |
das straff organisiert, von der aber nicht jeder weiß, wer dabei ist. Wir | |
brauchen beides: offene Strukturen, wo Leute andocken können, und feste | |
Organisationsformen. | |
Herr Kleine, gruselt Sie dieses Szenario? | |
Kleine: Nein, eine bundesweite Struktur, die Kämpfe vereint – das haben wir | |
schon. Kritik habe ich an den Punkten „straff, streng, geheim“. Der | |
Kommunismus des 21. Jahrhunderts kann nicht der Kommunismus der | |
1920er-Jahre sein. Wir brauchen einen Kommunismus, der demokratisch ist, | |
dezentraler als in Lenins Modell, er muss feministisch sein, queer, | |
ökologisch, um den Kapitalismus zu überwinden und einen radikalen Bruch mit | |
dem Bestehenden zu vollführen. Mit den historischen Parolen der | |
Vergangenheit ist nichts mehr zu holen. | |
Klebt der Rote Aufbau zu sehr an Lenin? | |
Kleine: Ich würde mich ja schon freuen, wenn er keine halbernsten | |
Stalin-Witze machen würde. Scherze mit einem der größten Kommunistenmörder | |
der Geschichte verbieten sich. Aber ich glaube, im Grundsatz sind wir uns | |
einig. | |
Simsek: Ich glaube nicht, dass wir uns einig sind. Die Zentralisierung der | |
Struktur ist unerlässlich. Der Klassenfeind ist gut organisiert, | |
ideologisch, militärisch, polizeitaktisch, sodass er jede ernst zu nehmende | |
Struktur im Keim erstickt, die die Kräfteverhältnisse infrage stellen | |
könnte. Deswegen funktioniert es nicht mit offenen Strukturen. | |
Was ist denn jetzt mit Stalin? | |
Simsek: Ich denke nicht, dass Stalin der größte Kommunistenmörder der | |
Geschichte war. Als Stalin Generalsekretär war, wurden viele Fehler gemacht | |
und Verbrechen begangen. Aber in dieser Zeit wurde Deutschland auch unter | |
seiner Führung von der Roten Armee vom Faschismus befreit. Ihm wird in | |
Deutschland eine andere Rolle zugeschrieben, weil Deutschland als Verlierer | |
vom Feld ging und hier ein wüster Antikommunismus herrscht. Ich bin in der | |
türkischen Linken sozialisiert, da ist die Position zu Stalin eine andere. | |
Kleine: Wir sind uns einig, dass die Rote Armee Deutschland von Faschismus | |
befreit hat, aber das war nicht Stalins Verdienst. Die Rote Armee wäre | |
stärker gewesen, hätte Stalin sie nicht mit Säuberungen geschwächt. An der | |
Tatsache, dass kaum jemand in der Geschichte so viele Kommunisten | |
umgebracht hat wie Stalin … | |
Simsek: Hitler hat mehr Kommunisten umgebracht. Aber das ist ein beklopptes | |
Niveau. | |
Kleine: Eeey! Die Geschichte der deutschen Kommunisten, die ins Exil nach | |
Moskau gegangen sind und von denen viele in Lagern starben, andere | |
hingerichtet wurden – das ist ein Teil linker Geschichte, mit dem wir uns | |
auseinandersetzen müssen. | |
Simsek: Klar, aber nicht so emotionalisiert. Ich habe mich in den sozialen | |
Medien über den Begriff Stalinismus lustig gemacht, weil es eine | |
bürgerliche Herangehensweise an Geschichte ist. Nicht einzelne Männer | |
machen Geschichte. | |
Welche Rolle spielt Klassenkampf in der Linken derzeit? | |
Kleine: Die Bundesrepublik ist eine kapitalistische Klassengesellschaft, in | |
der einige über gewaltige ökonomische Macht verfügen und ein Maß an | |
politischem Einfluss haben, das sämtlichen demokratischen Prinzipien Hohn | |
spricht. Für uns spielt Klassenkampf deshalb eine wichtige Rolle, wir | |
beteiligen uns an Kämpfen im Gesundheitswesen und in Betrieben. Ich glaube | |
aber nicht, dass Klassenpolitik der eine, zentrale Schlüssel zur | |
Veränderung von Gesellschaft ist. | |
Simsek: Da unterscheiden wir uns. Eine Grundsäule der Kommunistischen | |
Theorie ist, dass das Proletariat die Triebkraft von Entwicklungsprozessen | |
ist. Klassenkampf ist das Bindeglied zwischen Kämpfen. Wenn man Kämpfe etwa | |
für Frauenrechte oder gegen Rassismus separat führt, macht das den | |
Kapitalismus nur diverser. Das ist nicht unser Ziel. Entlang des | |
Klassenwiderspruchs kann man Mehrheiten organisieren. Wenn wir von Klasse | |
reden, meinen wir nicht die weiße, biodeutsche Arbeiterklasse, sondern eine | |
diverse, auch weibliche und migrantische Klasse. | |
Warum sind beim Roten Aufbau mehr Migrant*innen organisiert als bei der | |
IL? | |
Kleine: Ich weiß gar nicht, ob das stimmt, aber nehmen wir es mal an. Zum | |
einen gibt’s viele Migrant*innen, die sich separat in den entsprechenden | |
Zusammenschlüssen organisieren. Aber klar mangelt es uns an Diversität. Ich | |
sehe ein Problem in der überakademisierten Sprache. Ich möchte aber noch | |
was zum Klassenkampf sagen. | |
Bitte. | |
Kleine: Einerseits gibt es den Widerspruch zwischen dem obszönen Reichtum | |
weniger und dem Elend vieler. Gerade im globalen Maßstab ist das ein | |
schreiender Gegensatz, aber nur einer von mehreren. Zum Beispiel die | |
Klimafrage: Sie hat wie keine andere Frage unserer Zeit dem Kapitalismus | |
ein Verfallsdatum aufgestempelt. Deswegen ist es nötig, dass die radikale | |
Linke an den Kämpfen um Klimagerechtigkeit aktiv teilnimmt. | |
Wie wollen Sie „Fridays for Future“ radikalisieren? | |
Simsek: In Hamburg haben wir es nicht geschafft. Da sind immer die Grünen | |
dabei, die Politkader schicken und die Jugendlichen indoktrinieren. Eine | |
Karriere bei ihnen ist attraktiver, als den Klassenkampf zu führen. Man | |
müsste da organisierter reingehen. Wenn wir es nicht schaffen, die Leute zu | |
organisieren, werden bürgerliche Kräfte es machen. Die lösen aber die | |
Probleme nicht. | |
Kleine: FFF ist der Beweis, dass junge Menschen, wenn sie anfangen, sich | |
mit der Welt auseinanderzusetzen, und sehen, was die Probleme sind, in | |
hohem Maße mobilisierbar sind und sich engagieren. An irgendeiner Stelle | |
gehen die Aktivist*innen natürlich auseinander – die einen werden von | |
den Grünen eingekauft oder bilden sich ein, sie können den Kurs der Grünen | |
ändern, was eine Illusion ist. Aber die anderen radikalisieren sich, gehen | |
auf Ende Gelände zu oder kommen zu uns. | |
Ist es das, was Sie daran glauben lässt, dass es irgendwann zum | |
revolutionären Umbruch kommen wird? | |
Simsek: Das hat nichts mit Glauben zu tun. Ich sitze nicht zu Hause und | |
bete, dass die Revolution kommt, ich arbeite täglich daran. Eine | |
revolutionäre Situation würde entstehen, wenn die Beherrschten nicht mehr | |
wollen und die Herrschenden nicht mehr können. Aber die Leute glauben noch | |
an das System. Unsere Aufgabe ist es, den Glauben zu brechen. Das | |
funktioniert aktuell besser, weil die Pandemie zeigt, dass das | |
kapitalistische System die Probleme der Menschheit nicht lösen kann. Die | |
Leute werden für die Konzerne geopfert. | |
Kleine: Es wird nicht immer so weitergehen wie jetzt. Gesellschaftliche | |
Brüche kommen häufig überraschend. Im Nachhinein wird man die Ursachen | |
feststellen, aber in der Situation selbst kommt es plötzlich. Das letzte | |
große Beispiel war der Arabische Frühling. Dann stellt sich die Frage: Gibt | |
es politische Kräfte, die in der Lage sind, in so einer Situation zu | |
handeln und Orientierung zu geben? Darauf müssen wir vorbereitet sein. | |
Simsek: Aber wir sind einem rechten Putsch näher als einer revolutionären | |
Bewegung. Wir müssen aus dem linken Szenesumpf heraus und die normalen | |
Leute agitieren. | |
Glauben Sie, die fühlen sich angesprochen, wenn sie Ihren vermummten Block | |
auf einer Demo sehen, Herr Simsek? | |
Simsek: Es geht dabei um den Schutz vor Repression, außerdem sind Demos | |
nicht alles. Klar brauchen wir eine gewisse Offenheit, aber man muss den | |
Leuten den Kampf nicht als Party verkaufen. Politik ist kein Einhornreiten, | |
sondern Repression, wenn man es ernst meint. Man lernt kämpfen, indem man | |
kämpft. | |
Kleine: Ich finde ein so ausschließendes und identitäres Auftreten nicht | |
hilfreich, der Schutz vor Repression ist oft nur ein Vorwand. Viele der | |
schwarz-roten Blöcke sind nicht einladend, sondern wirken abschreckend. Und | |
sie strahlen Mackerigkeit aus. Diese Ausstrahlung ist ein Problem und ein | |
Widerspruch zu allem, was du gesagt hast über das Abholen der Leute. | |
Manche werfen der IL Kampagnenaktivismus und Eventtourismus vor. Wie viel | |
Event braucht linker Aktivismus? | |
Kleine: Linker Aktivismus braucht eine Verankerung im Alltag, nicht nur | |
Riesen-Kampagnen. Aber hin und wieder braucht es ein Ereignis, wo viele | |
zusammenkommen. Wie ein Leuchtturm, der weithin sichtbar ist. | |
Einen Gipfelprotest? | |
Kleine: Es muss nicht immer der Gipfel sein. Das sind singuläre Ereignisse, | |
der Gipfel-Wanderzirkus reist an und wieder ab. Es gibt andere Kampagnen, | |
die auch mit dem Vorwurf des Events belastet sind, aber es nicht sind. Ende | |
Gelände etwa hat mit Gruppen in vielen Städten dazu beigetragen, die | |
Klimagerechtigkeitsbewegung zu stärken und zu radikalisieren. Dass wir | |
jetzt überhaupt über Kohleausstieg reden und das Kraftwerk Moorburg vom | |
Netz gegangen ist, 13 Jahre nachdem wir hier in Hamburg das erste Klimacamp | |
gemacht haben, ist ein messbarer Erfolg. | |
Simsek: Man verliert sich schnell in Events. Das sehe ich bei der IL. | |
Events haben immer das Problem, dass sie einen Widerstand inszenieren, den | |
es in der Stärke gar nicht gibt. Wenn man eine Großdemo macht, denkt man, | |
man sei der Revolution nahe, aber die Leute sind in der alltäglichen Arbeit | |
gar nicht da. Man flieht in die Inszenierung. | |
Kleine: Das andere Extrem ist nur Basisarbeit: Wenn du mit deinen Nachbarn | |
redest, dann redest du mit 10 oder 20 Leuten. Wenn du was machst, das auch | |
in den Medien ein Ereignis ist, redest du potenziell mit Millionen. Es | |
macht aber keinen Sinn, das gegeneinander auszuspielen. | |
Sie beide wollen den Kommunismus ins 21. Jahrhundert transportieren. Wo | |
unterscheidet sich Ihr Kommunismus? | |
Kleine: Ich finde manches von dem, was Halil gesagt hat, sehr altbacken. | |
Ich sehe mich als Kommunisten, natürlich. Aber das muss im 21. Jahrhundert | |
etwas anderes bedeuten, die 1920er taugen nicht als Abziehbild. Aber klar, | |
es geht uns beiden darum, den Kapitalismus zu stürzen. Das ist eine ernste | |
Aufgabe. | |
Simsek: Wir sehen uns nicht als Abziehbildchen der 20er, das ist Unsinn. | |
Wir sehen aber auch Ansätze, wo die Bewegung damals weiter war als heute, | |
daran knüpfen wir an. Wir müssen ehrlich sein: Für uns bedeutet die | |
sozialistische Demokratie eine Demokratie für die Mehrheit. Das schließt | |
ein, dass man die Minderheit der Kapitalisten enteignen und unterdrücken | |
muss – zum Wohle vieler. Kämpfen ist nicht immer ein geiles Event, sondern | |
man muss sich die Hände schmutzig machen. Wollt ihr überhaupt Sozialismus? | |
Kleine: Klar. Aber ich würde dich nicht zum Innenminister machen. | |
Simsek: Das wird wahrscheinlich nicht in deiner Verantwortung liegen. | |
30 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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