| # taz.de -- 1. Mai-Nostalgie: Blutmai, Bratwurst, Barrikaden | |
| > Frühlingsluft und Revolutionsromantik: Kein anderer Feiertag ist | |
| > nostalgisch so aufgeladen wie der 1. Mai. Wie ein Vertriebenentreffen für | |
| > Linke. | |
| Bild: Endete mal wieder in einer Straßenschlacht: die „Revolutionäre 1. Mai… | |
| Hannover taz | Gerade habe ich noch einmal „Babylon Berlin“ gesehen, die | |
| [1][viel gelobte und preisgekrönte Serie], und wie hübsch sie ihn da | |
| inszeniert haben, den berüchtigten „Berliner Blutmai“ von 1929: wie eine | |
| epische Schlacht (Staffel 1, Folge 4). | |
| Zu sehen ist, wie die von der KPD aufgerufenen Arbeiter trotz | |
| Demonstrationsverbotes zur Kundgebung in Neukölln strömen – wo die Polizei | |
| schon vorfreudig die Knüppel auf die Handflächen klatschen lässt. | |
| Und mittendrin der ratlose Kommissar Gereon Rath, der mehr als einmal fast | |
| zwischen die Fronten gerät: erst, als er in der U-Bahn zwischen den | |
| Arbeitsmassen feststeckt; dann, als er mit seinem Kollegen zu willkürlichen | |
| Hausdurchsuchungen abgestellt wird, in den engen, vollen, dunklen | |
| Arbeiterwohnungen viel Porzellan zerschlägt und partout keine Waffen | |
| findet, dafür aber Zeuge wird, wie die völlig enthemmten Polizeitruppen | |
| durch den Stadtteil walzen, zwei unbeteiligte Frauen vom Balkon schießen | |
| und der Vorfall anschließend vertuscht wird. | |
| Über 30 Tote, viele davon völlig Unbeteiligte, fast 200 teils schwer | |
| Verletzte und über 1.200 Verhaftungen [2][standen am Ende dieser drei | |
| ersten Maitage 1929] in Berlin. | |
| ## Feiertag oder Kampftag – diese Kluft gibt es immer noch | |
| Die Serie verdichtet das Ganze in den Ereignissen eines einzigen Tages. Der | |
| Bibliothekar und Historiker [3][Olaf Guercke hat dazu bei der | |
| Friedrich-Ebert-Stiftung] im vergangenen Jahr eine hübsche kleine Studie | |
| vorgelegt ([4][„Babylon Berlin und der Anfang vom Ende der Weimarer | |
| Republik“]). | |
| Immer mal wieder geraten in den Szenen davor und danach liebevoll | |
| ausstaffierte Berliner Zeitungskioske in den Blick, in denen die | |
| Schlagzeilen der jeweiligen Parteipresse um die Deutung der Ereignisse | |
| rangeln. Und irgendwie steckt da alles schon drin, was diesen Tag über | |
| Jahrzehnte prägen wird. | |
| Die Ereignisse markieren auch einen weiteren Höhepunkt im Zerbrechen der | |
| Arbeiterbewegung. Auf der einen Seite die Sozialdemokraten, die den | |
| Polizeipräsidenten stellten und den Kommunisten vorwarfen, die | |
| Zusammenstöße bewusst herbeigeführt und provoziert zu haben – die KPD hatte | |
| zum Beispiel Flugblätter verteilt, auf denen wahrheitswidrig behauptet | |
| wurde, das Demonstrationsverbot sei aufgehoben. | |
| Auf der anderen Seite führten die Kommunisten vor, wie wenig die SPD gegen | |
| den militaristischen und antidemokratischen Ungeist bei den Uniformierten | |
| auszurichten wusste – sozialdemokratischer Polizeipräsident hin oder her. | |
| Die Differenz spiegelt sich bis heute im Vokabular: Wer den 1. Mai als | |
| „Feiertag“ begeht, gehört in die SPD- und Gewerkschafter-Ecke, wer | |
| „Kampftag“ sagt, verortet sich links davon. | |
| Am Ende gewannen bekanntlich die Rechten: Wenige Jahre später erklärten die | |
| Nazis den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag und ließen Belegschaften ganzer | |
| Betriebe in Reih’ und Glied aufmarschieren, während SPD- wie | |
| KPD-Funktionäre flüchteten oder ins Arbeitslager wanderten. | |
| ## Zwischen Langeweile und Ausnahmezustand | |
| Man vergisst fast, dass es mal um etwas ging an diesem Tag. Nach dem Krieg | |
| wurde er ja eher in gepflegter Langeweile zelebriert, im Osten gab es | |
| Produktionsleistungsschauen und Aufmärsche, im Westen ein bisschen | |
| Gewerkschaftsfahnenschwenken, ein paar Reden hören und anschließend | |
| Bratwurst, Live-Musik und vielleicht eine Hüpfburg. Same procedure as every | |
| year, Heinz. | |
| Ausnahmezustand gab es ab den späten 80er-Jahren und in den 90ern dann ab | |
| und zu wieder in Berlin und manchmal auch in Hamburg (die hannoverschen | |
| Chaostage sehen so ähnlich aus, spielen aber an anderen Tagen). Auch das | |
| war – so ungefähr zehn, fünfzehn Jahre lang – ein seltsames Ritual: Eine | |
| Nacht lang spielten Autonome und andere mit der Polizei Katz und Maus und | |
| am nächsten Tag diskutierte die ganze Republik, wessen Eskalations- oder | |
| Deeskalationskonzept denn dieses Mal nicht oder doch aufgegangen war. | |
| Und mit Inbrunst diskutierten viele Linke, welche Botschaft denn nun | |
| eigentlich von dieser Art von Aufruhr noch ausging oder ob es letztlich | |
| nicht doch bloß ein paar besoffene Jungs auf der Suche nach Krawall waren, | |
| schwarz gewandete Hooligans mit pseudo-politischem Anstrich – und ob die | |
| nicht wenigstens die kleinen Läden mal in Ruhe lassen könnten. | |
| Die Mutter aller Mai-Krawalle, die legendäre Kreuzberger Nacht vom 1. Mai | |
| 1987, als fast der ganze Kiez in Schutt und Asche gelegt wurde, [5][jährt | |
| sich im kommenden Jahr zum 35. Mal.] Und sicher werden wir uns wieder über | |
| minutiöse Rekonstruktionen beugen und die verbliebenen Veteranen befragen: | |
| [6][Wie war das noch,] wo fing das an, wer war dabei, wo hört das auf? | |
| ## Diese eine legendäre Kreuzberger Nacht | |
| Es muss – glaubt man diesen Erzählungen – eine seltsame Mischung aus | |
| Volksfest, Happening und Kampfgetümmel gewesen sein, damals. Zusammenstöße | |
| zwischen Hausbesetzern und Polizei hatte es schon vorher öfter gegeben, | |
| doch dass die Polizei ausgerechnet an jenem Morgen um 4.45 Uhr das | |
| Vobo-Büro, aus dem der Volkszählungsboykott organisiert wurde, im linken | |
| Mehringhof durchsuchte, wurde allgemein als Provokation aufgefasst. | |
| Die Stimmung war ohnehin angespannt: Die Stadt veranstaltete mit großem | |
| Tamtam 750-Jahr-Feiern, im östlichen Kreuzberg tummelten sich derweil die | |
| abgehängten und gelangweilten Jugendlichen – bei 50 Prozent lag die | |
| Jugendarbeitslosigkeit, eher 70 unter den Migrantenkindern. | |
| Es gehörte dann wohl nicht mehr viel dazu, das traditionelle – und in | |
| weiten Teilen erst einmal friedliche – Straßenfest auf dem Lausitzer Platz | |
| entgleisen zu lassen, und die Polizei lieferte auch das. Nach einigen | |
| kleineren Zusammenstößen räumte sie das Fest mit Tränengas und | |
| Schlagstöcken. Daraufhin eskalierte die Lage. | |
| Barrikaden wurden errichtet, die Polizei musste den Rückzug antreten. 30 | |
| Geschäfte wurde im Lauf der Nacht geplündert, der Bolle-Supermarkt am | |
| Görlitzer Bahnhof brannte danach aus und wurde zum auch international | |
| beachteten Symbolbild für diese Nacht – auch wenn sich Jahre später | |
| herausstellte, dass [7][eigentlich ein Pyromane ihn] angezündet hatte. | |
| Es brannte noch mehr in jener Nacht, selbst ein Feuerwehrauto, die | |
| Feuerwehr selbst wurde am Löschen gehindert. Die dunklen Rauchsäulen, das | |
| rhythmische Getrommel Hunderter Menschen an den Streben der Hochbahn, die | |
| Live-Radioübertragung durch Radio 100 lockte immer mehr Sympathisanten und | |
| Schaulustige an. Erst in den frühen Morgenstunden gelang es der Polizei, | |
| den Anschein von Kontrolle zurückzugewinnen. | |
| ## Wer gewonnen hat, ist noch lange nicht ausgemacht | |
| In den Tagen danach begann das große Rätselraten, wer oder was da | |
| explodiert war. Unter den 47 Festgenommenen war nur eine Minderheit | |
| eindeutig der Szene zuzuordnen. Von frustrierten Jugendlichen aus der | |
| ganzen Stadt war die Rede, es kursierten aber auch Erzählungen von „ganz | |
| bürgerlich aussehenden Leuten“ und „Damen in Stöckelschuhen“, die beim | |
| Plündern beobachtet worden seien. | |
| Hier wurzelt die „Revolutionäre 1. Mai Demo“, die in den folgenden Jahren | |
| dann immer wieder für Diskussionen und Schlagzeilen sorgte. Wobei die | |
| Frage, wann das denn eigentlich wieder aufhörte – zumindest in dem Umfang | |
| und der Intensität – vielleicht noch am wenigsten diskutiert und durchdacht | |
| erscheint. | |
| An der Oberfläche scheinen ja die Kiez-Bewohner gewonnen zu haben, die | |
| endgültig die Schnauze voll hatten und sich die Plätze mit ihrem Volksfest | |
| „Myfest“ zurückeroberten, das allerdings auch – bitterer Treppenwitz der | |
| Geschichte – schon längst zur Partytouristenfalle mutiert war, bevor Corona | |
| kam. Und wer in dem mittlerweile kaum noch bezahlbarem Stadtteil am Ende | |
| wirklich gewonnen hat, ist vielleicht auch die zweite Frage. | |
| Das Phänomen „Mai-Krawall“ ist allerdings auch anderswo auf dem Rückzug, | |
| abgeebbt, klein gekocht, müde und alt. | |
| ## Neue Akteure und Aktionen – kommt der Mai zurück? | |
| Und stattdessen? Der 1. Corona-Mai im letzten Jahr machte noch weniger Spaß | |
| als sonst schon. Die Gewerkschaften haben viele Veranstaltungen ins | |
| Virtuelle verlegt – da fallen vielleicht auch die sinkenden | |
| Teilnehmerzahlen nicht ganz so unangenehm auf. Ob sie insgesamt von der | |
| Pandemie profitieren können – weil Arbeitnehmer*innen sehen, wie | |
| wichtig eine starke Lobby ist –, bleibt abzuwarten. | |
| [8][Nun versuchen Querdenker und Rechte verstärkt, den 1. Mai für sich zu | |
| vereinnahmen], was wiederum dazu führt, das viele linke Gruppen aufwachen | |
| und Zulauf erfahren, wenn sie Gegendemos organisieren – manche lassen sich | |
| davon sogar in ganz andere Stadtteile locken, abseits der üblichen | |
| Spielwiesen und Demorouten. | |
| Immerhin lassen sich aber auch zaghaft ein paar neue Akteure und | |
| Aktionsformen erahnen. In Berlin zieht [9][die Spaßguerilla durchs | |
| Villenviertel], in mehreren Städten laufen feministische Aktionen unter dem | |
| Motto „reclaim the night“. Vielleicht kommt er ja doch noch mal wieder, der | |
| 1. Mai. | |
| 1 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Krimiserie-Babylon-Berlin/!5536521 | |
| [2] /Roter-Wedding--rot-wie-Blut/!667134/ | |
| [3] https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite-adsd/fiktion… | |
| [4] http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/16464.pdf | |
| [5] /30-Jahre-Maikrawalle/!5401407 | |
| [6] /25-Jahre-1-Mai/!5094884 | |
| [7] /Feuer-laesst-mich-heute-kalt/!287674/ | |
| [8] /Politische-Bewegungen-in-Corona-Zeiten/!5674569 | |
| [9] /1-Mai-in-Berlin/!5592035 | |
| ## AUTOREN | |
| Nadine Conti | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| Tag der Arbeit / 1. Mai | |
| Babylon Berlin | |
| Arbeiterbewegung | |
| Weimarer Republik | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| Hamburg | |
| Polizei Berlin | |
| Berlin-Wedding | |
| IG | |
| Protest | |
| Klassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wieder kein MyFest in Kreuzberg: Bye bye, Fest am 1. Mai | |
| Das MyFest fällt wieder aus. Das ist ganz im Sinne der Grünen. Veranstalter | |
| und Linke beklagen die heimliche Beerdigung der Befriedungsfete. | |
| Geschichte der Hamburger Anarcho-Szene: Postkarten für eine bessere Welt | |
| Ein Sammelband präsentiert selbst gedruckte Postkarten der Hamburger | |
| Arbeiterbewegung und erzählt darüber ihre Geschichte zwischen 1900 und | |
| 1945. | |
| Aktuelle Nachrichten zum 1. Mai: „MyGruni“-Demo wird aufgelöst | |
| Am Berliner Hermannplatz ist die „Demonstration zum revolutionären 1. Mai“ | |
| gestartet. In Paris kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Der | |
| Überblick. | |
| Walpurgisnacht in Berlin: Klassenkämpferischer Auftakt | |
| Die Walpurgisnachtdemo im Wedding gab den Startschuss in den Berliner 1. | |
| Mai. Kritisiert wurden eine neoliberale Krisenpolitik und die | |
| Immobilienkonzerne. | |
| Streitgespräch zwischen Linksradikalen: „Der Klassenfeind ist organisiert“ | |
| Halil Simsek ist beim antiimperialistischen Roten Aufbau, Christoph Kleine | |
| bei der postautonomen Interventionistischen Linken. Ein Streitgespräch. | |
| Demoverbot in Hamburg zum 1. Mai: Hey, Repressionsbehörde! | |
| Monatelang die Querdenker*innen demonstrieren lassen, dann aber linke | |
| Proteste am 1. Mai rigoros verbieten? Momentchen mal, so geht es nicht! | |
| Rückkehr des Klassenbegriffs: Klasse ohne Kampf | |
| Wer heute Klasse sagt, meint meist Klassismus. Von links gibt's Kritik: | |
| Wenn die Zugehörigkeit zur Klasse nur angenehmer wird, schafft niemand sie | |
| ab. |