# taz.de -- Geschichte der Hamburger Anarcho-Szene: Postkarten für eine besser… | |
> Ein Sammelband präsentiert selbst gedruckte Postkarten der Hamburger | |
> Arbeiterbewegung und erzählt darüber ihre Geschichte zwischen 1900 und | |
> 1945. | |
Bild: Postkartenmotiv mit wehender roter Fahne: Das besetzte Gewerkschaftshaus … | |
Im Jahr 1911 verfügt die „Anarchistische Föderation Hamburg und Umgebung“ | |
(AFH) endlich über eine eigene Druckmaschine. Sie kann nun nicht nur | |
Plakate und Broschüren herstellen, sondern auch Postkarten. Die verschickt | |
werden, die hinausgehen in die Welt, die auch gesammelt werden, als Zeichen | |
der Verbundenheit mit der anarchistische Sache. Etwa eine Postkarte, die | |
eine Herde Rinder zeigt, die auf eine Art Kübel zuströmen, auf dem wiederum | |
das Wort „Wahlurne“ prangt, gedruckt im Mai 1913. | |
Das Motiv ist schlicht gehalten. Um künstlerische Raffinesse geht es dieser | |
Art von Postkarten nicht. Es geht um Eindeutigkeit und um Zugehörigkeit, um | |
plakative Botschaften. In diesem Fall um die grundsätzliche Haltung, dass | |
der sich langsam etablierende Parlamentarismus nichts anderes sei als der | |
Verrat an der Arbeiterklasse, die um ihre Befreiung ringe und der man so in | |
den Rücken falle. | |
Folkert Mohrhof und Jonnie Schlichting haben diese Postkarte entdeckt, und | |
sie nehmen sie zum Anlass, einmal ausführlicher über die anarchistische | |
Szene im Deutschen Reich von 1900 bis Ende der Weimarer Jahre zu erzählen – | |
mit Schwerpunkt auf Hamburg. | |
Eine wechselhafte Geschichte hat die: Kaum hatte man sich seinerzeit zu | |
einer Organisation zusammengeschlossen, spaltete man sich bald wieder: so | |
wie Teile der AFH zuvor als „Anarchistischer Lese- und Debattierclub | |
Hamburg-Altona“ unterwegs waren, sich zwischendurch die „Anarchistische | |
Föderation Deutschland“ gründete, erwächst daraus nach Ende des Ersten | |
Weltkrieges die „Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands“ in | |
schroffer Abgrenzung zu anderen Strömungen. | |
Enthalten ist Mohrhofs und Schlichtings Text in dem Buch „Mit | |
revolutionären Grüßen – Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900 – | |
1945“, herausgegeben von René Senenko. Es ist ein Bilderbuch, und es ist | |
ein Lesebuch, das Beiträge von 27 Autoren und 14 Autorinnen versammelt. | |
Viele entstammen der Community der [1][Hamburger Geschichtswerkstätten] | |
oder sind überhaupt in der Erinnerungsarbeit unterwegs. | |
Zentral dabei ein Beitrag von Senenko selbst, der mit einem Abriss der | |
Geschichte der Arbeiterfotografie Grund in die Sache bringt. Ihren | |
entscheidenden Impuls bekommt diese, als die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung | |
– Auflage immerhin flotte 500.000 Exemplare – 1926 die Arbeiterschaft | |
aufruft, selbst zur Kamera zu greifen, um die eigene Sicht auf die Welt in | |
Bildern festzuhalten. | |
Damit so etwas dauerhaft gelingen kann, braucht es nicht nur Schulung in | |
Theorie und Praxis des Klassenkampfes, sondern auch der Fotografie. Im | |
selben Jahr noch gründet sich daher die „Vereinigung der | |
Arbeiter-Fotografen Deutschlands“ (VdAFD). Die unterhält ein eigenes | |
Monatsmagazin, den Arbeiter-Fotograf, zudem entstehen reichsweit | |
Regionalgruppen, und auch ein Sujet wie das des Dunkelkammerwartes | |
etabliert sich. | |
Wer damals alles aus der Hamburger VdAFD-Ortsgruppe fotografierend | |
unterwegs war, wie aus der Schar der mit einfachen Kameras ausgerüsteten | |
Amateure schon bald einzelne mit je ganz eigener Bildsprache hervorstachen, | |
die zugleich mit dem Image des bürgerlichen Foto-Künstlers haderten, das | |
ist spannend zu lesen und macht vor allem Lust auf mehr an Hintergründen | |
und Informationen und nicht zuletzt an Bildern. | |
In diesem Sinne fungiert das Postkartenthema immer wieder als Katalysator, | |
um die Geschichte der Hamburger [2][Arbeiterbewegung] in Geschichten zu | |
erzählen, wobei die Spannbreite vom braven SPDler über den Hardcore-KPDler | |
bis ins linksbürgerliche Lager reicht. Die Stärke des Bandes liegt in | |
seiner thematischen Vielschichtigkeit mit Blick auf lokale Akteure. | |
Hier gibt es einiges zu entdecken: Denn wer weiß schon Näheres übers | |
Naturfreundehaus Maschen, in dem nicht nur die Freiheit zum Wandern | |
gefördert wurde, das zudem eine eigene Fotogruppe hatte – und das bis heute | |
existiert? Wer hat schon mal vom Hoym-Verlag gehört, wiederum der später | |
strenggläubigen Komintern verpflichtet und in dem nicht nur | |
Postkarten-Serien und der „Arbeiter-Kalender“ erschien, sondern anfangs | |
auch in deutscher Übersetzung Werke von Lenin und Trotzki? | |
Oder von dem Theologen Arnold Frank (1859-1965) – einer äußerst | |
ambivalenten Figur: Frank, selbst vom Judentum zum Christentum konvertiert, | |
war ein Vertreter der Judenmission. Später aber ist er einer der wenigen, | |
der sich offensiv um die bedrängten, dann bedrohten Hamburger Juden kümmert | |
und vielen bei ihrer Auswanderung hilft. Auf seine Spur kommt man über eine | |
Art Werbepostkarte aus dem Jahr 1925, auf der die Segnungen der damaligen | |
Judenmission gepriesen werden. | |
Lesenswert ist auch der leider etwas kurze Beitrag von Jens Ziegenbalk von | |
der Geschichtswerkstatt Billstedt, der sich dem Industrie-Soziotop | |
Billstedt widmet, einem Hort der Hamburger Arbeiterschaft. | |
Besonders, weil eigensinnig, ist zudem ein Beitrag von Andre Rebstock. | |
Rebstock ist Mitglied der Gruppe ‚Kinder des Widerstandes‘, zu der sich vor | |
gut fünf Jahren Kinder und Enkelkinder von WiderstandskämpferInnen der | |
[3][NS-Zeit] zusammengeschlossen haben. Er verlässt endgültig die Ebene der | |
politisch absichtsvollen und von heute aus allzu demonstrativen | |
Darstellungen mit gereckter Faust und gesprengten Eisenketten. | |
Stattdessen stellt er eine private Postkarte in das Zentrum seiner | |
Geschichte: eine scheinbar harmlose Kunstpostkarte, die uns auf einen | |
beschatteten Weg in einen Wald-Hain führt. Entscheidend ist die | |
handgeschriebene Notiz am Bildrand: „Ich bin frei!“ ist da zu lesen. Und | |
dann ein Name: „Herta“. | |
Den Adressaten namens „Werner Stender“ erreichte diese Karte im | |
Untersuchungsgefängnis Fuhlsbüttel, wo er wegen des vermeintlichen | |
Verdachts der „Vorbereitung zum Hochverrat“ einsaß. Stender war zuvor | |
Leiter einer kleinen, konspirativen Gruppe überwiegend kommunistisch | |
orientierter junger Leute aus dem Wandervogelmilieu gewesen. Diese wurden | |
nacheinander im Frühsommer 1934 von der [4][Gestapo] entdeckt und dann | |
festgenommen. Eine von ihnen war Herta Winzer, damals 17 Jahre alt. Die | |
schreibt ihm nun – auf Bewährung entlassen – am 25. Oktober 1934: „Du, s… | |
Dir die Karte nur genau an und denke daran, wie wir mit frohem Gesang durch | |
solche schönen Gegenden gewandert sind.“ | |
Und: „Ich habe mich über jeden grünen Zweig gefreut, den ich vom | |
Zellenfenster aus sehen konnte.“ So wird hier aus einer vielfach | |
reproduzierten Postkarte zum Zwecke der Erbauung ein lebensgeschichtlich | |
wichtiges und einzigartiges Dokument über den Widerstand gegen die | |
Nazi-Barbaren. | |
Was Rebstock in seinem Text nicht verrät: Herta Winzer wird später Herta | |
Rebstock heißen. Sie war seine Mutter. | |
30 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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