# taz.de -- Studie zu subjektiver Sicherheit: „Der Kotti wirkt wenig geordnet… | |
> Stadtsoziologin Talja Blokland hat das Sicherheitsempfinden am Kottbusser | |
> Tor erforscht. Ein Gespräch über das Leben am „gefährlichen Ort“. | |
Bild: Werbung für den Volksentscheid am Kottbusser Tor | |
taz: Frau Blokland, Sie haben eine Studie zum Sicherheitsempfinden im | |
Quartier um das Kottbusser Tor veröffentlicht. Nun nimmt jede:r den | |
Stadtraum anders wahr. Wie lässt sich Sicherheit dann überhaupt messen? | |
Talja Blokland: In unserer Studie haben wir mit einer offenen Frage | |
begonnen: Wie bewerten Sie die Sicherheitslage auf einer Skala von 1 bis 10 | |
und erzählen Sie uns dann, warum. Dafür haben wir systematisch an | |
Wohnungstüren geklingelt, es wurden also nur Anwohner:innen befragt. | |
Aus den Antworten haben wir später Kategorien gebildet: „Einbruch“, | |
„Gewalt“ und „kriminell“ sind beispielsweise in der Kategorie | |
„Kriminalität“ gelandet. So konnten wir das Sicherheitsgefühl | |
quantifizieren und trotzdem die Befragten selbst die Gründe nennen lassen. | |
Welche Gründe haben die Anwohner:innen zum Beispiel genannt? | |
Die sind sehr unterschiedlich: Zwar nannten 18 Prozent der Befragten Drogen | |
oder Kriminalität als Unsicherheitsfaktor, aber 11 Prozent auch die | |
Hilfsbereitschaft, Bekannte und die soziale Kontrolle untereinander am | |
Kottbusser Tor als Gründe für ihr Sicherheitsempfinden. 15 Prozent haben | |
ihre Sicherheit als grundsätzlich positiv bewertet, weil sie persönlich | |
keine negativen Erfahrungen gemacht haben. | |
Das Sicherheitsempfinden hängt also nicht nur davon ab, wie auffällig ein | |
Ort in der Kriminalstatistik ist. | |
Genau. Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich zuerst in Frohnau | |
gewohnt. Und ich fand es echt gruselig, vom Bahnhof durch die Straßen zu | |
laufen, wo überall Bäume, schlechte Straßenbeleuchtung und keine Menschen | |
sind. Aber objektiv gesehen, nach den Statistiken, ist Frohnau kein | |
gefährlicher Ort. Das Sicherheitsempfinden hat also viel damit zu tun, wie | |
man Orte selbst erfährt, und weniger, was dort wirklich passiert. | |
Welche der Unsicherheitsfaktoren am Kottbusser Tor haben Sie überrascht? | |
Eine große Rolle spielt die unsichere Verkehrssituation. Das hatten wir | |
nicht so richtig auf dem Schirm. Aber tatsächlich ist der Kotti als Raum | |
wenig übersichtlich geplant. Wir haben uns auch spezifisch den U-Bahnhof | |
angeguckt. Fast 35 Prozent der Befragten finden, dass sich am Bahnsteig zu | |
viele Menschen aufhalten, die gar nicht ein- oder aussteigen – er ist | |
offenbar auch ein Aufenthaltsort. Etwa 40 Prozent gaben an, dass sie sich | |
in der Regel nicht wohl am Bahnhof fühlen. | |
Ihre Studie hat den Titel „Leben zwischen Dreck und Drogen“. Sind das die | |
anderen wesentliche Punkte, die das Sicherheitsempfinden beeinflussen? | |
Die Betonung liegt hier auf dem Leben. Der Titel greift also die Stereotype | |
des Kottbusser Tors auf – und bei vielem muss man gar nicht so tun, als | |
wären die überhaupt kein Problem: Drogendealer sind einer der wichtigsten | |
Faktoren für das Unsicherheitsgefühl der Anwohner:innen. Aber die Idee der | |
Studie war, zu schauen, wie das Zusammenleben zwischen dieser Kriminalität | |
auch Sicherheit schafft. | |
Was haben Sie da genau herausgefunden? | |
Unsere Studie zeigt, dass eine sogenannte „vertraute Öffentlichkeit“ einen | |
großen Einfluss hat: Wenn Anwohner:innen am Kottbusser Tor immer wieder | |
ihre Einkäufe erledigen und Menschen wiederholt begegnen, dann fühlen sie | |
sich sicherer. Wenn da jemand Drogen verkauft oder laut mit sich selbst | |
redet, dann stört dich das nicht mehr so sehr. Du kennst diese Menschen | |
dann schon und kannst Risiken besser einschätzen. Das heißt natürlich | |
nicht, dass man auf nichts mehr achten muss. Aber es bedeutet schon, dass | |
man ein besseres Gefühl dafür hat, wie man mit dieser Realität im Alltag | |
umgeht. | |
Lassen sich unter den Anwohner:innen unterschiedliche Gruppen | |
ausmachen, die sich unterschiedlich sicher gefühlt haben? | |
Weniger als erwartet, komischerweise kommt da nicht so viel heraus. Was | |
aber auffällt: Menschen mit Kindern unter 18 Jahren haben ein niedrigeres | |
Sicherheitsempfinden als andere Menschen. Das finde ich spannend, weil das | |
Kottbusser Tor tatsächlich wenig auf diese Gruppe ausgerichtet ist. | |
Wie schneidet der Kotti im Vergleich zu anderen Nachbarschaften ab? Haben | |
Sie da ebenfalls Zahlen zum Sicherheitsempfinden? | |
Der Durchschnittswert des Sicherheitsempfindens in stark gentrifizierten | |
oder traditionell bürgerlichen Teilen Berlins ist ein höherer. In der | |
Studie zum Kottbusser Tor gab es aber auch eine Frage, was wohl passiert, | |
wenn eine alte Dame zusammenbricht. Und da haben ganze 94 Prozent der | |
Anwohner:innen angegeben, dass ihr sicherlich geholfen wird. Da | |
unterscheidet sich der Kotti nicht von anderen Vierteln. | |
Sicherheit und Ordnung sind oft Forderungen aus dem politisch konservativen | |
Lager, oft verbunden mit dem Wunsch nach mehr Polizeipräsenz oder | |
Videoüberwachung. Gibt es da noch eine Art Gegenentwurf, um das | |
Sicherheitsgefühl zu erhöhen? | |
Will man an die positiven Aspekte der Sicherheitserfahrung am Kottbusser | |
Tor anknüpfen, ist die Antwort nicht: mehr Polizei oder mehr | |
Videoüberwachung. Dass man durch ein strafferes Regime ein bestimmtes | |
Verhalten aberziehen kann, ist ziemlich hoffnungslos. Klar: Dass die | |
Polizei schnell da ist, wenn etwas passiert, ist natürlich wichtig. Aber | |
man sollte am Kottbusser Tor eher die Potenziale von nicht-staatlicher | |
Kontrolle und Achtsamkeit verstärken: Wie bleiben dort unterschiedliche | |
Gruppen durchmischt? Wie verhindern wir, dass eine Gruppe dominiert, sodass | |
andere den Ort meiden? Für den Bahnsteig könnte ein durchgehend betriebener | |
Kiosk oder ein fester Platz für Musiker eine Lösung sein. | |
Was müsste sich noch verändern? | |
Es ist offensichtlich, dass eine andere Drogenpolitik das Kottbusser Tor | |
sicherer machen würde. Wenn Marihuana legalisiert verkauft wird, sinkt die | |
Gewalt unter den Drogendealern und das Sicherheitsgefühl insgesamt steigt. | |
Für mich als ehemalige Niederländerin liegt das auf der Hand. Und man | |
braucht viele verschiedene Angebote für unterschiedliche Gruppen. Es gibt | |
ein niederländisches Konzept, dass man Spielcontainer auf Plätzen | |
aufstellt, betrieben von Sozialhilfeempfänger:innen. Kinder können dort | |
Spielzeuge wie etwa Bälle ausleihen, und wenn sie beim Aufräumen des | |
Platzes helfen, auch mal die Rollschuhe. Das gibt es schon seit 20 Jahren | |
und hat sich bewährt, denn es bringt eine soziale Kontrolle mit sich – so | |
wie übrigens auch von Personal betreute Fahrradparkplätze. | |
In welchem Verhältnis steht das Sicherheitsgefühl zu Ordnung und | |
Sauberkeit? | |
Etwa 82 Prozent der befragten Anwohner:innen sagen, dass sie Müll auf | |
der Straße schlimm bis sehr schlimm finden. Ob es ohne Müll sicherer wird, | |
darüber kann man lange diskutieren. Es gibt die These der Broken Windows, | |
dass, wenn ein Viertel ungepflegt aussieht, Straftaten begangen werden. | |
Dass das nicht zutrifft, ist seit Jahren bewiesen. Trotzdem irritiert | |
Dreck. Ich glaube nicht, dass man Graffiti entfernen sollte. Aber ich | |
glaube auch nicht, dass man in eine übrig gebliebene Pommes treten muss. | |
Hat es also einen Effekt auf das Sicherheitsempfinden, wenn die | |
Stadtreinigung häufiger durch das Viertel fährt? | |
Mehr Sauberkeit kann das Unsicherheitsgefühl verringern – nicht weil so die | |
Kriminalität abnimmt, sondern weil vermittelt wird: Hier ist man achtsam | |
füreinander, hier nimmt man einander wahr. | |
Ist es nicht auch eine Eigenheit von Städten, unordentlich zu sein, und | |
macht das nicht auch den Charme bestimmter Viertel aus? | |
Auf jeden Fall! Ordnung ist da aber auch ein kompliziertes Wort. Auf der | |
einen Seite gibt es Orte wie Marzahn: Da ist es ordentlich in dem Sinne, | |
dass alles gerade ist – selbst wie Autos auf dem Parkplatz stehen. Auf der | |
anderen Seite gibt es Orte, die wenig geordnet und eher unübersichtlich | |
geplant sind. Sie sind oft wenig einsehbar, ich kann also schwer darauf | |
achten, was um mich herum passiert. Trotzdem ist das Sicherheitsempfinden | |
bei der planerischen Ordnung wie in Marzahn nicht per se höher – denn die | |
beschränkte Infrastruktur ermöglicht kaum Alltagsbegegnungen, die eine | |
vertraute Öffentlichkeit schaffen. | |
Was bedeutet das für das Kottbusser Tor, das zwar viel Infrastruktur | |
bietet, aber doch eher unübersichtlich ist? | |
Das Kottbusser Tor wirkt tatsächlich wenig geordnet – was auch gut ist. | |
Allerdings: Das heißt nicht, dass alle alles machen dürfen. Es braucht also | |
soziale Ordnung für Sicherheit. Denn soziale Ordnung bedeutet auch, als | |
Frau nachts nicht von einer Gruppe betrunkener Männer angesprochen zu | |
werden. | |
In Ihrer Studie erwähnen Sie auch die Angst vor einer beschleunigten | |
Gentrifizierung, sollte das Quartier rund um das Kottbusser Tor zu einem | |
sicheren Ort umgewandelt werden. Zugespitzt gefragt: Sollte Berlin | |
unsichere Orte in Kauf nehmen, um die Anwohner:innen vor Verdrängung zu | |
schützen? | |
Nein, das wäre ein Umweg. Wenn man nicht will, dass die Mietpreise steigen, | |
dann muss man die Mietpreise bremsen. Man kann ja nicht sagen: Wir lassen | |
Berlin extra dreckig in der Hoffnung, dass nur die Preise in Potsdam | |
steigen. Die Mieten am Kotti steigen natürlich trotzdem. Es gibt | |
Initiativen und gute Ideen, was man dagegen machen kann. | |
27 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hartmann | |
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