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# taz.de -- Zehn Jahre Kunstraum Vierte Welt: Wo ein Versprechen war
> Im Neuen Zentrum Kreuzberg Kunst zu machen, ist eine Herausforderung. Die
> Vierte Welt feiert dort ihr zehnjähriges Bestehen.
Bild: In den Brüchen zu Hause: Szene aus „mach mir Angst! Komm näher“ von…
Es ist ein spröder Charme, mit dem die Vierte Welt im Neuen Zentrum
Kreuzberg für sich wirbt. „10 Jahre Vierte Welt“ steht auf einem Plakat
über der Fotografie eines Wohnwagens in einem struppigen Winterwald. Unter
dem Schriftzug „mach mir Angst“ ist ein Tannenwald zu sehen, beängstigend
gerade die Stämme. Ein Plakat schaut dahinter hervor, drei Worte auf rotem
Grund „Glaube Beischlaf Torsten“. Das Ungewisse, es lockt in der visuellen
Kommunikation der Vierten Welt.
Eigentlich wollte man 2020 das zehnjährige Bestehen auf der Galerie des
Neuen Zentrums Kreuzberg feiern, pandemiebedingt hat sich das verschoben.
[1][Annett Hardegen und Dirk Cieslak, freie Theatermacher und ein Paar],
hatten hier zunächst einen Probenraum gemietet. Die Atmosphäre am Kotti
gefiel ihnen, gutes Essen immer nah, die Räume zwar klein, die Miete aber
günstig. Sie entschieden sich, zu bleiben, inzwischen bespielen sie mit der
Vierten Welt drei Ladenlokale auf der Galerie, eingerichtet für Lesungen,
Gespräche, Performance, Musik, Installationen. Kleine, intime Orte, in die
die Geräusche der Straße eindringen.
Dirk Cieslak hat in den 1990ern mit freiem Theater in Berlin angefangen,
mit der Gruppe Lubricat in den Sophiensälen. Aber irgendwann erschienen ihm
die Strukturen der Szene zu sehr ein Versuchslabor des Neoliberalismus, in
dem Konkurrenz die Selbstausbeutung befeuert. Mit der Vierten Welt wollen
er und Hardegen einen anderen Weg gehen, in dem die Anschlussfähigkeit an
den Markt des Kulturbetriebs weniger eine Rolle spielt und dafür mehr das
Teilen von Ressourcen, Erfahrung, Raum.
## Im Wrack der Moderne
„Über das Leben im Wrack der Fortschrittsmoderne – Block # 1 bis 4“ hei�…
eine Reihe von Performances, Führungen und Filmen, die vom Standort, dem
Neuen Zentrum Kreuzberg selbst, inspiriert ist, schließlich knüpfen sich
daran viele Debatten um Moderne, Architektur, soziale Utopie und soziale
Brennpunkte.
Für ihr Block-Projekt recherchierten sie in Finnland, in Teheran und
zuletzt in Rom. Was ist passiert mit den Orten, die als ein Versprechen
neuer Gemeinsamkeit gebaut wurden und dann zur Szene der Verlierer wurden?
Ihre letzte Recherche galt dem Corviale am Rand von Rom, ein auf der Seite
liegender Wolkenkratzer, entworfen für 8.000 Menschen. Zu ihren Partnern an
der Arbeit mit großartigen Fotografien gehört die [2][Regisseurin Valentina
Primavera, deren Film „Una Primavera“], ein ungewöhnliches Porträt ihrer
Mutter und eine Dokumentation über Gewalt in der Familie, im Oktober in der
Vierten Welt gezeigt wird.
Von dem großen Universum des Wohnblocks zur Zelle der Familie: Die spielt
auch eine Rolle in der neusten Produktion von Annett Hardegen, „mach mir
Angst. komm näher“. Es ist ein intimes Puzzle von biografischen Splittern
von Annett Hardegen, ihrem Sohn Ari, Dirk Cieslak und einer vierköpfigen
Band, darunter der Songwriter Jakob Dobers, die den Abend letztendlich auch
zu einem Konzert werden lassen.
Die Stimmung ist weich, melancholisch, glitzernd. In den Videoprojektionen,
die über die Wände verteilt sind, fließt Wasser, Figuren verlieren sich
zwischen den Tannenstämmen eines Waldes, ein Haus steht im Schnee, zwei
Menschen in einer Küche. Alles atmet Einsamkeit.
## Was trennt, was verbindet
Dazu kommen Erzählungen aus dem Off. Annett Hardegen kehrt zurück zum Motiv
der Angst in ihrer Jugend im Harz, Angst, von dem Vater übernommen, Angst
vor dem Leben, die er mit Alkohol bekämpfte und sie mit Partys auf dem
Dach, später in der Stadt, trotz Höhenangst. Es sind harte Schnitte
zwischen den Ausblicken, die sie auf ihr Leben öffnet, und dem, was ihr
Sohn auf der Bühne erzählt.
Ari macht für das Publikum Frontalunterricht, er gliedert seine Vorträge
über Modeplattformen, das Internet und früh gestorbene Popstars wie ein
Referat. Dass sich wenig findet, was seine Gegenwart und ihre Erinnerung an
das Jungsein verbindet, ist das eine. Das andere aber ist, wie sie die
Musik teilen, das Aufgehen in der Persona, die sich in den Lyrics bilden,
wie viel an Schmerz, Verletzung und dem Verlust von Zugehörigkeit dann doch
formulierbar wird, wenn sie sich der Musik, der Band anvertrauen.
Es ist eine brüchige, aber auch eine anheimelnde Ästhetik, die aus den
Dissonanzen zwischen den Bildern, den literarischen Passagen und der Musik
entsteht. Ein Letztendlich-doch-geborgen-Sein-in-den-Brüchen.
Den Blick auf Jugendliche nimmt auch „Hecht“, eine Videoinstallation (ab
13. Juli) von der Fotografin Lysann Buschbeck und Julia Krause, auf. Lysann
Buschbeck war Ende der 1990er Jahre in das Hecht-Viertel in Dresden
gezogen, und bald bekam sie Besuch von Jugendlichen, deren Eltern oft ohne
Arbeit waren. Sie redeten, rauchten, schließlich begann Buschbeck die
jungen Frauen und Männer zu porträtieren, oft in leerstehenden Wohnungen,
vor Fototapete mit Sonnenuntergang, an Treffpunkten im Freien.
Es entstanden Serien, die die Gesten derer einfangen, die sich autonom und
unabhängig inszenieren, weil sie sich ausgestoßen fühlen. Ergänzt werden
die Bilder durch Interviews mit den Protagonisten, witzig manchmal, aber
auch geprägt von Perspektivlosigkeit.
So verzweigt sich das Netz der Themen in der Vierten Welt, die sich
schließlich wieder miteinander verknüpfen.
11 Jul 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Theater
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