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# taz.de -- Regisseurin über häusliche Gewalt: „Das Schweigen brechen“
> Am Beispiel der eigenen Familie: Die Regisseurin Valentina Primavera
> untersucht in ihrem ersten Film „Una Primavera“ Gewalt gegen Frauen.
Bild: Fiorella Primavera musste erst lernen, ihre Freiheit zu gebrauchen
Für Valentina Primavera ruft das Wort „Frühling“ zwei Assoziationen
hervor: Neuanfang und Familie. Erstere ist für die meisten nachvollziehbar,
Letztere eine persönliche Angelegenheit, denn sie hat mit ihrem
Familiennamen „Primavera“ (auf Italienisch: Frühling) zu tun. Dass die in
Berlin lebende Regisseurin ihren Debütfilm „Una Primavera“ betitelt hat,
ergibt Sinn. Die Dokumentation handelt nämlich zum einen von dem Neuanfang,
den Primaveras Mutter anstrebt, nachdem sie ihren Mann nach der letzten
Episode häuslicher Gewalt verlassen hat, und zum anderen von der
Familienkonstellation der Regisseurin, [1][deren patriarchale Strukturen]
sie in den Blick nimmt.
taz: Frau Primavera, was hat Sie dazu bewegt, einen Dokumentarfilm über
Ihre Familie zu drehen?
Valentina Primavera: Der Auslöser war die Entscheidung meiner Mutter,
meinen Vater nach vierzig Jahren Ehe und unser Familienhaus in Roseto degli
Abruzzi (Kleinstadt in der italienischen Region Abruzzen, Anm. d. Red.) zu
verlassen. Denn mit diesem Schritt hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben
ihre eigenen Bedürfnisse als Individuum in den Vordergrund gestellt und
gleichzeitig all das, worüber sie ihre Identität bis dahin definiert hatte,
hinter sich gelassen. Das hat viele Fragen sowohl für sie als auch für mich
als Tochter aufgeworfen, in Bezug auf ihr Selbstverständnis und die
Bedeutung der Familie. So habe ich beschlossen, sie in dieser
Selbstfindungsphase mit der Kamera zu begleiten.
Dabei geben Sie tiefe Einblicke in Ihre Familiengeschichte: Es geht um
häusliche Gewalt und tief sitzende patriarchale Strukturen. Wie trifft man
die Entscheidung, all das öffentlich zu machen?
Den Film habe ich erst drehen können, als ich begriffen habe, dass es eben
nicht nur um die Geschichte meiner Familie geht, nicht nur um meine Eltern
Fiorella und Bruno, sondern um patriarchale Dynamiken und
Rollenvorstellungen, die strukturell und somit universell sind. Diese gehen
auch über die italienische Gesellschaft hinaus, wie leider die Statistiken
zur häuslichen Gewalt in verschiedenen Ländern zeigen.
Enthält Ihr Film also keine Kritik an der italienischen Gesellschaft im
Besonderen?
Doch. Ich halte die Art und Weise, wie in Italien mit Genderfragen
umgegangen wird, für besonders problematisch. Es geht vor allem darum, wie
über solche Themen geredet wird. Die Diskursebene ist komplett verschoben.
Man denke nur an den Fall von Nilde Iotti (die erste Frau, die das Amt der
Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer übernahm, Anm. d. Red.),
die an ihrem 20. Todestag von der Zeitung Libero als „wohlgeformte
Emilianerin, gut in der Küche und im Bett“ bezeichnet wurde; oder an die
Diskussion, die an dem vermeintlich zu auffälligen Kleid der Ministerin
Teresa Bellanova entflammte. Diese verrohte Sprache zementiert patriarchale
Rollenbilder in der kollektiven Mentalität und wirkt sich unmittelbar auf
das Selbstverständnis von Frauen aus.
Das führt zurück zum Film.
Richtig, denn [2][unter diesen Bedingungen ist es für Frauen schwierig,
patriarchale Dynamiken und sogar Gewalt zu erkennen.] Im Film wird meiner
Mutter stets gesagt, sie habe die Freiheit, zu entscheiden, sie könne sich
neu erfinden. Das stimmt so nicht, denn um selbstbestimmt zu agieren,
bedarf es Mittel, die ihr weder von der Schule noch vom Fernsehen oder von
der Gemeinschaft, in der sie lebt, vermittelt wurden.
Hatten Sie während der Filmarbeit keine Angst, zu nah dran an der
Geschichte zu sein, um deren politische Dimension zu abstrahieren?
Das war in der Tat das Schwierigste an der Realisation des Films, auch weil
ich die Kameraarbeit selbst übernommen habe. Dies war unabdingbar, denn
meine Familie hätte sich einer Person von außen gegenüber nicht geöffnet.
Doch deswegen habe ich ständig meinen Blick reflektieren müssen und nach
den Dreharbeiten das Material lange nicht gesichtet, um einen emotionalen
Abstand zu schaffen. Aber die echte Distanzierung konnte erst in der
Schnittphase erfolgen. Mit dem Cutter Federico Neri habe ich versucht,
Persönliches und Privates im Material zu trennen. Ersteres ist intim, hat
dennoch einen politischen Wert. Letzteres befriedigt hingegen den
Voyeurismus, ist jedoch kontraproduktiv für eine ernste inhaltliche
Auseinandersetzung. Deshalb war unser Ziel, das Private aus dem Film
auszuschließen.
Im Film beziehen Sie fast nie Stellung zu dem, was Ihre Protagonist*innen
sagen oder tun, nicht mal, wenn zum Beispiel Ihr Onkel Mussolini zitiert
(„Es ist besser, einen Tag als Löwe zu leben, als hundert Jahre ein Schaf
zu sein“), um Ihren Vater in Schutz zu nehmen. Ist das auch Distanzierung?
Um Stellung zu nehmen, hätte es nicht des Films bedurft, denn das tue ich
täglich als Privatperson. Es wäre viel zu einfach gewesen, im Film meinen
Vater zu verurteilen oder einen Streit mit der*dem einen oder anderen zu
führen. Stattdessen habe ich meinen Blick auf die Kommunikationslücken
innerhalb der Familienkonstellation und auf den Empathiemangel gerichtet,
die sie erzeugen. Ich wollte die Gesten und die Reaktionen beobachten, zum
Beispiel den Gesichtsausdruck meiner Schwester und dessen Wirkung auf meine
Mutter, ohne zu kommentieren.
Wiederum zeugt die Entscheidung, im Film die Perspektive Ihrer Mutter
vorzuziehen, von einer klaren Haltung.
Das war für mich wesentlich, denn meine Mutter wurde von Anfang an mit der
Herabsetzung ihrer Bedürfnisse, Gefühle und Probleme konfrontiert. Das
passiert vielen Frauen, die zunächst als Mütter und nur dann als Frauen
gesehen werden. Das führt dazu, dass sie in eine Art von Schweigen
zurückfallen. Als meine Mutter den fertigen Film gesehen hat, hat sie mich
zum Beispiel gefragt: „Wen soll meine Geschichte interessieren?“ Mit dem
Film wollte ich in erster Linie ihr die Gelegenheit geben, erstmals das
Schweigen über sich zu brechen. Das ist für mich die wichtigste Stellung,
die ich hätte beziehen können.
2 Jan 2020
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## AUTOREN
Gloria Reményi
## TAGS
Film
häusliche Gewalt
Gewalt gegen Frauen
Patriarchat
Italien
Familie
Soundtrack
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Prostitution
Schwerpunkt #metoo
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