# taz.de -- Spielfilm über sexuelle Belästigung: Italien war erschüttert | |
> Wer sich wehrt, verliert seinen Arbeitsplatz: Marco Tullio Giordana | |
> erzählt in „Nome di donna“ von sexueller Belästigung in einem Altershei… | |
Bild: Nina (Cristiana Capotondi) muss sich gegen sexuelle Belästigung wehren | |
Nachdem die Restaurierungswerkstatt, in der sie bisher gearbeitet hat, | |
schließen musste, bekommt die Mittdreißigerin Nina Martini eine neue Stelle | |
in einem Altersheim in der Umgebung von Mailand vermittelt. Die Arbeit als | |
Pflegerin erlaubt es ihr, unabhängig von ihrem Partner zu bleiben und das | |
Leben mit ihrer Tochter selbst zu bestimmen. Martini lebt sich schnell ein | |
und fasst vor allem zu Ines, einer der Heimbewohnerinnen, Vertrauen. Direkt | |
nach dem Ende der Probezeit bestellt der Leiter des Heims sie zu sich und | |
belästigt sie sexuell. | |
Regisseur Marco Tullio Giordana erzählt in „Nome di donna“ gemeinsam mit | |
der Koautorin des Drehbuchs, Cristina Mainardi, von Martinis Kampf, als sie | |
beschließt, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Zunächst hilflos, | |
sucht sie die Freundin und Kollegin auf, die ihr geholfen hat, die begehrte | |
Stelle in dem renommierten Altersheim zu bekommen. Einige Tage später | |
bittet Ines sie, ihre Post auszusortieren, und sie entdeckt inmitten der | |
Werbepost eine Wurfsendung der Gewerkschaft gegen Gewalt gegen Frauen. | |
Martini vereinbart ein Treffen mit einer Gewerkschafterin und erfährt, dass | |
es schon einmal eine Beschwerde über sexuelle Belästigung gab, die aber im | |
Sande verlaufen ist. Zunächst bleibt sie unsicher, wie sie am besten | |
vorgehen soll. Nach einigem Zögern beschließt sie, den Leiter des Heims | |
anzuzeigen – nicht zuletzt in der Hoffnung, so eine Untersuchung der | |
Staatsanwaltschaft in Gang zu setzen. | |
## Verleugnen, verleumden | |
Sobald die Anzeige bekannt wird, wird Martini von ihren Kolleginnen | |
geschnitten und der Reifen ihres Fahrrads zerstochen. Das Verfahren wird | |
kurz darauf wieder eingestellt. Mehr noch: Sie wird auf Betreiben des | |
Personalchefs vom Dienst suspendiert und das Heim überzieht sie mit einer | |
Verleumdungsklage. Martini beginnt den früheren Vorwürfen nachzugehen. | |
Marco Tullio Giordana und Cristiana Mainardi greifen in diesem Film einen | |
Fall auf, der Anfang der 1990er-Jahre Italien erschütterte und sich vier | |
Jahre lang durch die Instanzen zog. Vor Kurzem nahmen die Anwältin Maria | |
Virgilio und die Soziologin Pina Lalli den Fall als Ausgangspunkt für eine | |
Untersuchung zur Geschichte sexueller Gewalt am Arbeitsplatz in Italien. | |
Lalli und Virgilio arbeiten heraus, dass [1][sexuelle Belästigung in | |
Italien erst Anfang der 1990er-Jahre] überhaupt zum Gegenstand von | |
Gesetzesvorhaben wurde. | |
Regisseur und Drehbuchautorin haben den Fall, der die Vorlage für den Film | |
bildete, örtlich verlegt. Statt in der Umgebung von Cremona spielt der im | |
Film in der Umgebung von Mailand. Der wichtigste Unterschied ist jedoch, | |
dass im ursprünglichen Fall immerhin drei Frauen gemeinsam gegen den Leiter | |
des Heims vorgingen. Die Figur Nina Martini ist also eine dramaturgische | |
Zuspitzung. | |
## Chronist der italienischen Gegenwart | |
Während Cristina Mainardi vor allem als Produzentin arbeitet und die | |
Mitarbeit am Drehbuch von „Nome di donna“ bisher eine Ausnahme darstellt, | |
ist Marco Tullio Giordana eine feste Instanz im politischen Kino Italiens. | |
Seit Giordana 1980 mit seinem Film „Maledetti vi amerò“ den Goldenen | |
Leoparden in Locarno gewann, gehört er zu den interessantesten Chronisten | |
der italienischen Gegenwart. | |
„Maledetti vi amerò“ blickte zurück auf das Jahrzehnt der Proteste. | |
Protagonist Riccardo, genannt „Svitol“, kehrt nach einigen Jahren aus | |
Venezuela zurück und erkennt seine ehemaligen Genoss_innen nicht wieder. | |
Der Einzige, mit dem er noch eine Sprache spricht, ist ein Kommissar der | |
Polizei. Mitte der 1990er-Jahre arbeitete Giordana den von Legenden | |
umwobenen Mord an Pier Paolo Pasolini in einem Film auf, kurz darauf nahm | |
er sich mit Peppino Impastato eines frühen Anti-Mafia-Vorkämpfers an. | |
Mit „La meglio gioventù“ (Die besten Jahre) folgte 2003 ein Geschichtsepos, | |
das von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart reichte. Im Jahr 2012 nahm | |
sich Giordana des Schlüsselereignisses des Jahrzehnts der Proteste | |
schlichthin an: des Anschlags auf eine Bank in Mailand 1969, der von | |
Rechtsradikalen mit Unterstützung des italienischen Geheimdiensts begangen | |
und zunächst Anarchisten angelastet wurde. Giordanas Kinofilme werden oft | |
vom italienischen Fernsehen koproduziert. | |
„Nome di donna“ ist – wie die meisten Filme Giordanas – stark von der | |
Erzählung getragen, auf der Bildebene gibt es wenig Überraschungen. Die | |
spektakulärsten Kulissen verdankt der Film den Gerichtssälen Paduas und | |
Mailands. Die Einstellungsgrößen der Kamera bewegen sich, obwohl der Film | |
für das Kino produziert wurde, fernsehtypisch fast durchgehend im Bereich | |
zwischen mittlerer und halbnaher Einstellung. | |
## Lange in Planung, vor der #MeToo-Bewegung | |
Auch schauspielerisch ist der Film eher solide als überragend, | |
Protagonistin Cristiana Capotondi belässt es weitgehend bei einem | |
durchgängigen Gesichtsausdruck und Valerio Binasco als Leiter des | |
Altersheims tut es ihr gleich. Am wenigsten uninteressant spielt noch Laura | |
Marinoni als Anwältin des Leiters des Altersheims. | |
Filmisch ist „Nome di donna“ also keine Offenbarung, sondern eher eine | |
lobens- und insgesamt durchaus sehenswerte Annäherung an das Thema sexuelle | |
Belästigung. Das Timing der Produktion ist wiederum ziemlich beeindruckend: | |
Der Film war lange in Planung, bevor die [2][#MeToo-Bewegung rund um die | |
von Harvey Weinstein] begangenen Übergriffe und Vergewaltigungen | |
Schlagzeilen machte. | |
Mit am beeindruckendsten sind denn auch die geschickt gesetzten | |
Brückenschläge in die Gegenwart und die Situierung in einem Milieu der | |
unangefochtenen Selbstsicherheit. Als die Leitung des Altersheims über den | |
Vertrag der Protagonistin diskutiert, bemerkt einer am Tisch süffisant, | |
dass das ja alles Italienerinnen seien, man habe wohl schon alle | |
Ausländerinnen der Region eingestellt. Nina Martinis Tochter schnappt in | |
der Schule mehr und mehr des Rassismus auf, der in der Lombardei im Schutze | |
der Lega grassiert, und gibt immer öfter „den Fremden“ die Schuld an allem. | |
Als Martinis Fall schließlich vor Gericht landet und die Presse berichtet, | |
fragt eine der Journalistinnen ihren Begleiter am Ende, ob alles gut | |
gelaufen ist. Der greift ihr kommentarlos unters Jackett. Auch fast 30 | |
Jahre nachdem der Fall, der die Vorlage für den Film gebildet hat, vorbei | |
ist, sind die Veränderungen in Bezug auf sexuelle Belästigung sehr | |
graduell. | |
## Strukturen bestehen weiter | |
Selbst der Brückenschlag des Films in die Vergangenheit evoziert die | |
Gegenwart: Beim ersten Treffen mit Martini erzählt etwa die | |
Gewerkschafterin, deren Vorfahren Land bewirtschafteten, von der Figur des | |
collocatore, der Erntehelfer und Erntehelferinnen einteilte und sexuelle | |
Gefälligkeiten einforderte. Wie die Recherche der Journalistinnen Pascale | |
Müller und Stefania Prandi zu Erntearbeiterinnen in Spanien, Marokko und | |
Italien vergangenes Jahr zeigte, bestehen ähnliche Strukturen bis heute | |
fort. | |
Trotz einiger filmischer Schwächen ist „Nome di donna“ eine gelungene | |
Fiktionalisierung eines Falls von sexueller Belästigung, die geeignet wäre, | |
die Diskussion darüber, wie die bestehenden Strukturen und Regelungen zu | |
ändern sind, in Gang zu halten. Die breite Empörung über die Fälle von | |
Übergriffen, die in den letzten Jahren bekannt wurden, scheint sich aktuell | |
wieder zu legen. | |
Wenn „Nome di donna“ nur ein klitzekleines bisschen dazu beitrüge, die | |
Empörung als Motor der Veränderung am Leben zu halten, wäre das kein | |
kleines Verdienst. Wie sagt die Gewerkschafterin so richtig beim ersten | |
Treffen mit der Protagonistin: „Ich habe beschlossen, da anzusetzen, wo | |
alles anfängt: an unserer Toleranzschwelle.“ | |
5 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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