# taz.de -- Historiker über Mietenkrawalle 1872: „Symbol der Klassengegensä… | |
> Vor 150 Jahren gab es erste größere Mietenkämpfe in Berlin. Axel Weipert | |
> über Slums am Kotti, Repression und kaiserliche Angst vor der Revolution. | |
Bild: Hier gab es vor 150 Jahren Krawall wegen der Miete und auch heute gibt's … | |
taz: Herr Weipert, am Sonntag gibt es einen Kiezspaziergang durch | |
Friedrichshain zum 150. Jahrestag der ersten größeren Mietenkrawalle in | |
Friedrichshain. Wie waren die Verhältnisse, in denen die | |
Blumenstraßenkrawalle 1872 ausbrachen? | |
Axel Weipert: Berlin ist in dieser Zeit unglaublich schnell gewachsen, | |
40.000 Menschen sind während der Industrialisierung jährlich gekommen. Der | |
Kontext ist natürlich die Industrialisierung, Arbeitskräfte wurden | |
gebraucht und zogen in die Stadt. Ebenso gibt es in Berlin einen | |
politischen Bedeutungzuwachs durch die Gründung des Kaiserreichs. Berlin | |
ist die Hauptstadt der Großmacht Preußen. | |
Wie war die Lebensituation derjenigen, die hier arbeiteten oder herzogen? | |
Schlecht: Das einzige, was gebaut wurde, waren die klassischen | |
Mietskasernen in sehr dichter Bebauung. Die Häuser stehen teilweise heute | |
noch. Wo aber heute ein Single wohnt, lebten damals acht Menschen, weil sie | |
sich nicht mehr leisten konnten. Es gab sogar Schlafburschen, die nur | |
stundenweise einen Schlafplatz mieteten. Es gab kein Mietrecht und keinen | |
Schutz für Mieter. | |
Gab es auch viel Obdachlosigkeit? | |
Auf den Straßen weniger, weil es verboten war und die Ordnungskräfte | |
aufpassten. Aber es gab große Armenhäuser und in Berlin gab es auch Slums, | |
wie wir sie heute im globalen Süden sehen: Am Kottbusser Tor standen | |
Bretterwüsten, wo sich Menschen aus der Not heraus etwas zusammengezimmert | |
haben. | |
Wie muss man sich das Miteinander vorstellen in Friedrichshain 1872? | |
Ein wichtiger Faktor für das Zusammenleben waren die Kieze. Das Leben der | |
Menschen hat sich mehr vor Ort abgespielt als heute. Es gab keinen | |
öffentlichen Nahverkehr. Man konnte nicht in Friedrichshain wohnen und in | |
Spandau arbeiten. Man hat zusammen im Kiez gearbeitet und gewohnt, der | |
soziale Zusammenhalt war höher. Gleichzeitig war nicht ganz Friedrichshain | |
arm, in einem Straßenzug wohnten eher einfache Leute, im nächsten schon die | |
Mittelschicht. Insgesamt war Friedrichshain mit seinen großen Färbereien | |
überwiegend ein Arbeiterbezirk. | |
Was war der Auslöser für die Mietenkrawalle am 25. Juli 1872? | |
Einer der Bewohner der Blumenstraße sollte geräumt werden. Sein Name war | |
Ferdinand Hartstock. Wir wissen nur, dass er Tischler war. Der | |
Gerichtsvollzieher rückte an, um ihn zu exmittieren, wie es damals hieß. | |
Der Grund war vom Vermieter vorgeschoben: Hartstock soll einen Untermieter | |
aufgenommen haben, was laut Mietvertrag verboten war. Den Vermieter, der im | |
selben Haus wohnte, hatte das lange nicht gestört. Er hat vermutlich nur | |
einen Vorwand gesucht, um angesichts der Wohnungsnot teurer zu vermieten. | |
Wie eskalierte die Situation? | |
Hartstock hatte Streit mit der Spedition, die seine Sachen verlud. Er | |
beschwerte sich lautstark auf der Straße. Viele Anwohner, die ebenfalls | |
unter der Wohnungsnot litten, kamen dazu, bis mehrere Hundert, | |
wahrscheinlich sogar mehrere Tausend sich solidarisierten. Sie warfen die | |
Scheiben des Vermieters ein und errichteten Barrikaden. Als die Polizei | |
kam, hagelte es Steine. Es gab gewaltsame Auseinandersetzungen im Viertel | |
bis spät in die Nacht. Die Gaslaternen wurden eingeworfen, damit die | |
Polizei nichts sieht, schließlich wurde auch berittene Polizei eingesetzt. | |
Die Straßenkämpfe haben sich drei Tage lang fortgesetzt. | |
Was passierte mit den Slums? | |
Die Slums vor dem Frankfurter Tor sollten unabhängig von den | |
Blumenstraßenkrawallen geräumt werden. Die Baracken wurden dann | |
ungeschickterweise just einen Tag nach der Räumung abgerissen. Die | |
Geräumten sind mit ihren Habseligkeiten durch die Stadt gezogen und haben | |
die Krawalle wohl weiter angeheizt und Friedrichshain auf die Barrikaden | |
getrieben. Abgerissen hat man die Slums wegen eines anstehenden | |
Drei-Kaiser-Treffens, damit der russische Zar und der Kaiser von | |
Österreich-Ungarn nicht mit den Slums konfrontiert wurden. | |
Waren es ungezielte Krawalle oder waren auch Revolutionäre am Werk? | |
Es gab zu der Zeit schon eine Arbeiterbewegung, Die Arbeiterbewegung war | |
damals noch zu schwach und hatte keine Basis, um Straßenkämpfe zu steuern | |
oder zu initiieren. Die Eisenacher um August Bebel, der ADAV und andere | |
hatten noch nicht die organisatorische Stärke. Man konnte noch nicht von | |
einer Massenbewegung sprechen. Ebenso hatten Sozialdemokraten Hemmungen, | |
sich zu solidarisieren, weil sie Repressionen fürchteten. Dazu kam es ja | |
später auch – etwa mit Sozialistengesetzen. Es war spontaner Protest, der | |
von Anwohnern ausging und sich auch schnell wieder verlaufen hat. | |
Würden Sie trotzdem sagen, die Krawalle waren politisch? | |
Es hängt davon ab, wie man politisch definiert. Die Straßenkämpfe waren | |
natürlich ein Symbol der Klassengegensätze. Die Ausschreitungen haben das | |
Wohnungsproblem in die öffentliche Debatte geholt. Das wurde in Zeitungen | |
rege diskutiert: Linke Zeitungen wie der Neue Social-Demokrat haben | |
Empathie aufgebracht für die Wohnungsnot. Die konservative Neue Preußische | |
nannte es unnötigen Krawall und rief nach der Ordnungsmacht. Aber alle | |
waren sich einig, dass es sozialen Sprengstoff gibt. | |
Gab es politische Folgen? | |
Nein. Direkte politische Folgen, also verbessertes Mietrecht oder sozialen | |
Wohnungsbau, gab es erst in der Weimarer Republik. | |
Also sah sich die Obrigkeit null verantwortlich für das Elend der Arbeiter? | |
Der Kaiser war zum Zeitpunkt der Unruhen auf Kur in Wiesbaden. Nachdem er | |
von den Krawallen gehört hatte, schickte er ein Telegramm, dass der | |
Aufstand schnell beendet und Ruhe und Ordnung wieder hergestellt werden | |
müsste. Das Kaiserreich war ein Laissez-Faire-Staat, der sich nur für | |
Ordnung im Sinne der Obrigkeit und Eliten einsetzte und sich für soziale | |
Probleme nicht verantwortlich fühlte. | |
Griffen die Tumulte auf andere Stadtteile über oder gab es vergleichbare | |
Krawalle anderswo in Berlin? | |
Schon im Jahre 1863 gab es die Moritzplatzkrawalle, die sind nicht ganz so | |
bekannt, weil sie kleiner waren. Da ist ein Mann aus der Wohnung geworfen | |
worden, weil er einen Eisenofen hatte, was wegen Brandschutz verboten war. | |
Zeitgleich mit den Blumenstraßenkrawallen gab es in der Skalitzer Straße | |
eine Räumung, in deren Zusammenhang es zu Auseinandersetzungen kam. | |
Gab es Befürchtungen vor einer Revolution wie 1848? | |
Ja, sowohl Obrigkeit als auch die Menschen hatten das natürlich im | |
Hinterkopf. In Friedrichshain gab es ja 1848 auch Barrikadenkämpfe. Der | |
Kaiser selbst hat diesen Zusammenhang hergestellt, Zeitungen sprachen von | |
einer drohenden Mieterrevolution. Wilhelm I. war für sein Vorgehen 1848 | |
besonders berüchtigt, als er hart gegen Revolutionäre vorging. Er hatte | |
damals den Spitznamen „Kartätschen-Prinz“ – nach den Artillerie-Geschoss… | |
die er gegen Personen einsetzen ließ. Dass der Kaiser diesen Vergleich zog, | |
zeigt die besondere Brisanz. Er hat aber nicht in seinem Palast gezittert. | |
Doch zumindest das Militär wurde in Bereitschaft gesetzt und mit scharfer | |
Munition ausgerüstet. | |
Wie wurden die Krawalle beendet? | |
Mit Repression. Es gab über 100 Verletzte: Die Polizei hatte damals keine | |
Gummiknüppel, sondern Säbel. Mit der flachen Seite haben sie auf | |
Protestierende eingeschlagen. Die Folge waren gefährliche Schnittwunden. | |
Ebenso wurden 102 Polizisten durch Steinwürfe verletzt. Später wurden 33 | |
Personen verurteilt wegen Landfriedensbruch und mit bis zu vier Jahren Haft | |
bestraft. Viele andere konnten sich aber der Strafverfolgung entziehen. | |
Wie ist die Quellenlage aus Sicht von Betroffenen, gibt es da Zeugnisse | |
über Zeitungsberichte hinaus? | |
Direkte Dokumente sind mir keine bekannt. Es gibt natürlich Gerichtsakten, | |
die nicht neutral, sondern aus Sichtweise der Obrigkeit auf die Proteste | |
blicken. Das ist auch interessant, aber die gehaltvollsten Quellen sind | |
Zeitungsberichte. | |
Nachdem das Bundesverfassungsgericht im April 2021 den Mietendeckel gekippt | |
hatte, waren in Berlin spontan über zehntausend Mieter*innen auf den | |
Straßen – es kam auch zu vereinzelten Auseinandersetzungen mit der Polizei. | |
Sehen Sie da Parallelen? | |
Natürlich sind die Verhältnisse nicht vergleichbar, es gibt heute | |
Mieterschutz und eine soziale Grundsicherung. Aber natürlich sieht man, | |
dass in Berlin die Mietenbewegung immer stark war: Auch in der Weimarer | |
Republik, man denke an den Film „Kuhle Wampe“, aber auch die | |
Häuserbesetzungen in den 70ern und 80ern. Immer, wenn soziale Probleme | |
auftreten, haben wir eine Mietendebatte. Das ist kein Zufall: Wohnen ist | |
eines der existentiellsten Themen überhaupt. Die heutige Tragweite kann man | |
mit einem Engels-Zitat deutlich machen. Ein soziales Problem werde erst ein | |
politisches Problem, wenn es auch die Mittelschicht betrifft. Das ist heute | |
wieder der Fall. Die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen hätte vor | |
20 Jahren keinen Erfolg gehabt, über eine Million Menschen haben für | |
Enteignungen gestimmt. Das zeigt, dass nicht nur Arme und linke Aktivisten, | |
sondern die breite Masse der Bevölkerung betroffen ist. | |
Gibt es also bald wieder Mietenkrawall? | |
Es gibt auch heute sozialen Sprengstoff mit Inflation, der | |
Energieproblematik und der Wirtschaftskrise. Es wird auch sicher wieder | |
soziale Proteste geben – welche Form sie annehmen und wie militant sie | |
werden, ist aber Kaffeesatzleserei. | |
Der Kiezspaziergang dazu startet Sonntag, 15 Uhr, Andreasplatz/Ecke | |
Singerstraße in Friedrichshain. | |
22 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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