# taz.de -- Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz: Showdown im Bundestag | |
> Was macht eigentlich der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern? In | |
> Berlin sagen die Abgeordneten: So etwas haben wir noch nie erlebt. | |
Bild: Schon seit 2018 versucht der Untersuchungsausschuss Licht ins Dunkel zu b… | |
Der Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat einen klaren | |
Auftrag. Er soll herausfinden, ob es zu verhindern gewesen wäre, dass der | |
[1][Terrorist Anis Amri] am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lkw in | |
einen Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben damals, mehr als 60 | |
wurden schwer verletzt. Der Attentäter schaffte es, aus Berlin zu flüchten, | |
und wurde in Mailand von Polizisten erschossen. Wieso haben das weder die | |
Nachrichtendienste noch die Ermittler*innen kommen sehen? | |
Damit sie solche Fragen beantwortet können, müssen ihnen der | |
Generalbundesanwalt, das BKA, Ministerien und sogar die Geheimdienste | |
ordnerweise Schriftstücke liefern, Kommunikation offenlegen, mal | |
geschwärzt, mal streng geheim. | |
Dass etwas in ihren Unterlagen fehlt, bekommen die Abgeordneten in Berlin | |
mit, als ein Journalist recherchiert. Im Mai 2020 heißt es in einem | |
WDR-Bericht, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern | |
habe sich an den Generalbundesanwalt gewandt. Vorgesetzte sollen ihm | |
untersagt haben, Informationen über mutmaßliche Unterstützer Amris in | |
Berlin weiterzugeben. Auch von Waffenhändlern ist die Rede, von | |
dschihadistischen Netzwerken, jedoch alles vage. | |
Träfe das zu, wäre es ein mehrfacher Skandal: Der Generalbundesanwalt hatte | |
nach dem Attentat alle verfügbaren Unterlagen aus Behörden in ganz | |
Deutschland angefordert, warum blieben also Informationen in Schwerin | |
liegen? Und: Warum erfährt der Bundestag erst jetzt davon? | |
Es ist ein seltsamer Verdacht: Ausgerechnet der kleine Verfassungsschutz in | |
Mecklenburg-Vorpommern soll Hinweise zur Vorbereitung des schlimmsten | |
islamistischen Attentat in der deutschen Geschichte gefunden haben – um sie | |
dann nicht weiterzugeben? | |
Die Ausschussmitglieder beschließen, der Sache nachzugehen. Sie fangen mit | |
einem Puzzlestück an. Und am Ende zeichnet sich ihnen ein Bild von einem | |
Bundesland, in dem das Innenministerium seinen Verfassungsschutz offenbar | |
nicht im Griff hat. | |
## Der Whistleblower | |
Am 26. November kommt ein Mann mit Schiebermütze in den Bundestag, aus | |
Sicherheitsgründen nennen ihn alle hier nur T. S.. Er erscheint mit | |
Begleitschutz. | |
Er war Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern, ein Agent | |
also, er führte sogenannte Vertrauensleute, kurzum: Es war seine Aufgabe, | |
Informationen darüber zu gewinnen, wo Extremisten möglicherweise eine | |
Gefahr darstellen. Islamismus und Dschihadismus sind sein Fachgebiet. | |
Was er dem Ausschuss erzählt hat, ist geheim. Genauso wie die Vermerke, | |
Treffberichte und Briefe, die er schrieb. Wir haben anhand von | |
vertraulichen Gesprächen und öffentlich gestellten Fragen und Antworten | |
rekonstruiert, wie er den Sachverhalt darstellt. | |
Anfang Februar 2017 erhielt T. S. einen Anruf seines Kollegen A.B.. Auch | |
der ist V-Mann-Führer. A.B. berichtet ihm von einem Gespräch mit einer | |
Quelle, die er schon lange regelmäßig trifft. Diese Quelle hat erzählt, was | |
mehr als drei Jahre später den Untersuchungsausschuss beschäftigt – und das | |
Innenministerium in Schwerin unter Druck setzt. | |
Die Quelle berichtet, sie habe gehört, dass Anis Amri bislang unbekannte | |
Kontakte in Berlin hatte. Zu einer Familie aus Neukölln. Mehrfach sei Amri | |
bei Ihnen zu Besuch gewesen, vielleicht habe er auch in einer ihrer | |
Immobilien gewohnt. Die Familie ist bekannt, sie soll Verbindungen in die | |
organisierte Kriminalität haben. Nun könnten sie also auch noch Amris | |
Unterstützer gewesen sein. Dann aber berichtet die Quelle von noch | |
brisanteren Details: Die Familie hätte Amri für den Anschlag beauftragt und | |
nach der Tat zur Flucht nach Holland verholfen. In einem schwarzen Auto. | |
Von einer Belohnung sei die Rede gewesen, Bargeld in einer Tasche oder | |
einem Sack. | |
Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Attentat, gilt Amri als | |
Einzeltäter. Und als Islamist. So erklären sich Behörden die Tat. Die | |
Informationen, die die Verfassungsschützer in Mecklenburg-Vorpommern hören, | |
kratzen sehr an dieser Darstellung. | |
T. S. informiert seinen Referatsleiter über diese Wendung. Etwa drei Wochen | |
später geht ein Vermerk an das Bundesamt für Verfassungsschutz raus. Darin | |
berichtet das Landesamt von der Quelle und ihren Schilderungen zu Amris | |
Bekanntschaft in Neukölln. Von einem Anschlagsauftrag steht darin aber | |
nichts, auch nichts über einen Fluchtwagen oder Geld. | |
Warum wurde dieses Wissen nicht weitergegeben? | |
Hier unterscheiden sich die Schilderungen. P.G., der Referatsleiter von T. | |
S. und A.B., sagte als Zeuge im Ausschuss, er habe damals, im Februar, | |
davon nichts gewusst. Später zweifelt er die Glaubhaftigkeit der | |
Information an und entschied deshalb, sie nicht weiterzuleiten. | |
Für die andere Version gibt es zahlreiche schriftliche Belege. | |
Im Herbst 2019 schreibt T. S. einen Brief an den Generalbundesanwalt. Er | |
ist drei Seiten lang, in Kopie hat ihn auch das Bundesamt für | |
Verfassungschutz bekommen und auch der Staatssekretär im Innenministerium | |
von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Brief schildert T. S., wie er die | |
Information bekam und was damit geschah. | |
In seiner Version hat sein Vorgesetzter ihn gebeten, die Quelle erneut zu | |
treffen. Die Schilderungen der Quelle bleiben konsistent. Trotzdem bekommen | |
die Quellenführer T. S. und A.B. die Anweisung, das nicht zu | |
verschriftlichen. Es folgen weitere Treffen mit der Quelle, Besprechungen | |
mit der Referatsleitung, auch der Verfassungsschutzchef wird in Kenntnis | |
gesetzt. Etwa zu diesem Zeitpunkt soll A.B. zurück zur Polizei versetzt | |
werden. Die beiden V-Mann-Führer wollen ihr Wissen unbedingt weitergeben, | |
und schreiben deshalb den Fluchtwagen und das Geld in einen späteren | |
Treffbericht. Vor dem Ausschuss nennen sie das einen Trick. So wird ein | |
Vermerk über den 24. Mai 2017 der erste Beleg darüber, dass die Information | |
über Amri, über das Geld und den Fluchtwagen existiert. | |
Diese Variante wiederholt T. S. als er schließlich vom BKA befragt wird. | |
Die Schilderungen seines Kollegen A.B. stimmen damit überein. Sogar die | |
Quelle sagt bei den Ermittler*innen dasselbe aus. | |
Diese Version ist also mehrfach abgesichert. Oder haben sich hier drei | |
Personen abgesprochen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten? | |
## Der Verfassungsschutzchef | |
Am Donnerstagabend, 26. November, kommt es zu einem Auftritt, über die | |
langjährige Abgeordnete sagen: An so etwas können sie sich nicht erinnern. | |
Benjamin Strasser von der FDP wird von einer „vordemokratischen Haltung“ | |
des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sprechen. | |
Es ist zwanzig vor Acht, im Europasaal im Paul-Löbe-Haus läuft die Sitzung | |
des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz schon seit ein paar | |
Stunden. Der Zeuge wird hereingerufen, Ministerialdirigent Reinhard Müller, | |
64, Chef des Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern seit 2009. Sein | |
Amt ist direkt im Innenministerium angesiedelt, er ist Abteilungsleiter. | |
Früher war er lange bei der Polizei. | |
Müller hat einen Rechtsbeistand dabei und Aktenordner. Schräg hinter ihm | |
sitzt die Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eine Juristin. | |
Ihre Aufgabe ist es darauf zu achten, dass der Zeuge keine Dinge sagt, die | |
von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt sind. Bei der letzten Sitzung | |
hat diese Aufgabe der Justiziar des Innenministeriums übernommen, aber er | |
wurde des Saales verwiesen, weil er selbst in den Fall involviert war. | |
Müller liest sein Eingangsstatement vor. Die Vorwürfe seien unzutreffend | |
sagt er, die zu Amri vorliegenden Informationen seien in sich nicht | |
schlüssig gewesen und deshalb „nicht weitergabefähig“. Weitere Aussagen | |
könne er aber nur in einer als geheim eingestuften Sitzung machen. | |
Als Erster ist nun ein Abgeordneter der CDU an der Reihe, er schafft | |
anderthalb Aufwärmfragen, bis sich die Landesvertreterin zum ersten Mal | |
meldet. „Ich muss jetzt leider intervenieren“, sagt sie. „weil die | |
Aussagegenehmigung gegen eine Antwort sprechen würde.“ Denn: Keine Aussagen | |
zu Personalangelegenheiten und T. S. sei ja eine Personalangelegenheit. Sie | |
fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit. | |
Die Fronten sind jetzt klar. Auf der einen Seite die | |
Bundestagsabgeordneten, die Fragen stellen wollen, weil das ihr Auftrag | |
ist. Die das schon in 110 Sitzungen gemacht haben und die es nicht | |
ausstehen können, wenn ein Zeuge selektiv berichtet. Auf der anderen Seite | |
ein Verfassungsschutzchef, der nichts sagen darf oder will oder beides. Und | |
der eine Landesvertreterin hinter sich weiß, die alles geben wird, damit er | |
nichts sagen muss. Sie macht das gleichermaßen engagiert wie unbeholfen, | |
dass sie manchen im Saal Leid tut. | |
In einer Beratungspause nimmt der Verfassungsschutzchef vor dem Saal sein | |
Handy und telefoniert aufgeregt. Er gibt das Handy an die Landesvertreterin | |
weiter. Das wird noch einige Male passieren an diesem Abend. | |
Die beiden haben mit Thomas Lenz telefoniert, dem Innenstaatssekretär in | |
Schwerin, wie Müller später sagt. Lenz ist gerade der Chef im Ministerium, | |
weil [2][Lorenz Caffier Tage zuvor zurückgetreten] ist, nachdem er seine | |
[3][Haltung zu einem rechten Netzwerk nicht erklären konnte.] Es sei aber | |
nur um die Auslegung der Aussagegenehmigung gegangen, sagt Müller. Lenz ist | |
selbst Zeuge in dem Komplex. | |
Eine Landesregierung gegen den Bundestag. Geheimhaltung gegen Aufklärung. | |
Der Ausschuss entscheidet einstimmig: Die Vernehmung wird öffentlich | |
fortgesetzt. | |
Wieder meldet sich die Landesvertreterin. Sie ruft: „Oktoberfestattentat!“ | |
Im Saal schauen sich die Abgeordneten fragend an. Der Sitzungsleiter hat | |
gerade gesagt, dass die Vetreterin „jede einzelne Beschränkung in der | |
Aussage“ begründen müsse. Es folgt ein Dialog, der zeigt: Die Person, die | |
aufpassen muss, dass alles rechtmäßig läuft, hat selbst große | |
Schwierigkeiten, sich im Recht zu orientieren. | |
Landesvertreterin: „Ich wollte jetzt nur sagen, dass wir in den Bereich der | |
Quellen kommen. Und da gibt es ja das Oktoberfestattentat. Das ist ziemlich | |
eindeutig: Sobald es sich um Quellen dreht und tiefere Information fließen | |
sollen – also definitiv nicht in öffentlicher Sitzung.“ | |
MdB Volker Ullrich (CDU/CSU): „Was hat das mit dem Oktoberfestattentat zu | |
tun? Finde ich, es ist eine seltsame Bemerkung, mit Verlaub.“ | |
Landesvertreterin: „Wie bitte?“ | |
Sitzungsleiter: „Also, das müssen Sie jetzt begründen. Sie haben damit | |
angefangen.“ | |
Landesvertreterin: „Die Entscheidung – Entschuldigung – natürlich. (…)… | |
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Oktoberfestattentat. Darauf | |
beziehe ich mich.“ | |
Ullrich: „Auf welchen Leitsatz und auf welche rechtliche Erwägung?“ | |
Die Landesvertreterin liest in ihren Unterlagen und nennt dann eine | |
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Die | |
Abgeordneten werden ungeduldig. | |
Sitzungsleiter: „Ich warte auf die Begründung. Herr Ullrich hatte nach dem | |
Leitsatz gefragt, auf den Sie Ihre Begründung stützen.“ | |
Landesvertreterin: „Ich darf doch kurz nachdenken, oder?“ | |
Die Abgeordneten fragen weiter. Sie wollen nichts zur Identität von Quellen | |
oder anderen geheime Details wissen. Trotzdem wiederholt der | |
Verfassungsschutzchef in unterschiedlichen Formulierungen vor allem: Er | |
sage gerne aus, aber nur in geheimer Sitzung. Die Sitzung ist wie eine | |
Schallplatte, die hängengeblieben ist. | |
MdB Benjamin Strasser (FDP): „Herr Müller, die Entscheidung, den Hinweis | |
nicht weiterzugeben, also weder an die Polizei noch an andere Landesämter | |
für Verfassungsschutz, die haben Sie letztendlich getroffen?“ | |
Verfassungsschutzchef: „Herr Strasser, Sie können nicht von mir erwarten, | |
dass ich jetzt an dieser Stelle zu diesen ganzen komplexen internen | |
Abläufen...“ | |
Strasser: „Ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt: Wer hat die | |
Entscheidung getroffen? Sie oder jemand anders?“ | |
Verfassungsschutzchef: „Ich kann diese Frage an dieser Stelle nicht | |
beantworten.“ | |
Strasser: „Warum nicht?“ | |
Verfassungsschutzchef: „Ich werde sie Ihnen gerne darstellen, auch die | |
Verläufe, die zu gewissen Entscheidungen geführt haben.“ | |
Strasser: „Mich interessieren jetzt überhaupt nicht die Verläufe, mich | |
interessiert die einfache Frage, wer letztendlich die Entscheidung | |
getroffen hat.“ | |
Landesvertreterin: „Ich verweise auf die Aussagegenehmigung. Hierbei | |
handelt es sich um eine innerdienstliche Angelegenheit.“ | |
Strasser: „Ja, der ganze Untersuchungsausschuss ist eine große | |
innerdienstliche Angelegenheit.“ | |
Es schält sich heraus, dass Müller offenbar fest davon überzeugt war, dass | |
die Information über Amri nicht stimmte, deshalb hat er sie nicht | |
weitergegeben. Seine Kriterien dabei: unklar. Der Ausschuss hält ihm | |
entgegen, dass er gar keinen Ermessensspielraum gehabt habe, weil es um | |
eine Terrorermittlung ging. Bis heute ist nicht klar, ob die Informationen | |
zutreffend waren, aber damals hätten sie womöglich geholfen. | |
Müller kommt nicht nur bei rechtlichen Fragen ins Schwimmen, sondern auch | |
bei sehr simplen. Etwa, wenn er gefragt wird, wie er reagiert habe, als er | |
vom Berliner Terroranschlag erfahren hat. Seine Stimme ist brüchig. Er muss | |
zwischendurch auch nachlesen, was überhaupt in seinem Eingangstatement | |
steht. Die Zettel vor sich hat er durcheinandergebracht. | |
Es ist Punkt Mitternacht, als der Sitzungsleiter verkündet: Die Befragung | |
wird abgebrochen. Er richtet deutliche Worte in Richtung | |
Mecklenburg-Vorpommern: „Wir missbilligen das, wir teilen das nicht, wir | |
haben eine andere Rechtsauffassung und erwarten, dass der Rechtsauffassung | |
des Untersuchungsausschusses, die wir für die rechtmäßige halten, auch | |
gefolgt wird.“ Wegen der verweigerten Antworten prüfe man ein Ordnungsgeld. | |
Intern sprachen sie von mindestens 1.000 Euro. | |
Verfassungsschutzchef Müller sagt: „Ich bedaure den Verlauf der Beratung | |
hier. Es war überhaupt nicht mein Ziel, Ihre berechtigten Fragen nicht zu | |
beantworten.“ Dann bittet er: „Vielleicht können Sie über die Frage des | |
Ordnungsgeldes auch noch mal neu nachdenken.“ | |
## Der Generalbundesanwalt | |
Am 11. Dezember wird Generalbundesanwalt Peter Frank im Ausschuss zu den | |
Vorgängen befragt. Seine Behörde leitet die Amri-Ermittlungen. Über den | |
Brief von T. S. sagt er: „Das war ein dickes Ding“ Und: „Da wendet sich | |
einer Jahre später an uns mit der Behauptung, er hätte da Infos gehabt und | |
die hätte er gerne ans BKA weitergegeben und das sei ihm verboten worden.“ | |
Frank erzählt von einer Ungereimtheit in den Ermittlungen, „Loch“ nennt er | |
das. Amri war nach dem Attentat zuletzt in Berlin gesehen worden, dann | |
verliert sich seine Spur. Keine Videoaufzeichnungen, keine Zeugen, nichts. | |
Erst in Nijmegen filmt ihn wieder eine Überwachungskamera am Bahnhof. Mit | |
dieser Ermittlungslücke begründet der Generalbundesanwalt, warum sie gerne | |
gewusst hätten, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Informationen lag, Amri | |
sei im Auto einer Berliner Familie in die Niederlande gefahren worden. „Und | |
selbst wenn das noch so halbseidene Erkenntnisse sind.“ | |
## Der Verfassungsschutzchef | |
Als LfV-Chef Reinhard Müller am Donnerstagabend dieser Woche den Europasaal | |
des Bundestages betritt, zieht er einen Rollkoffer voller Akten und ein | |
neues Problem hinter sich her: Die Abgeordneten haben von einem weiteren | |
Fall erfahren, der den Verfassungsschutz in ein fragwürdiges Licht rückt. | |
Es geht um ein Sturmgewehr, das das LfV Mecklenburg-Vorpommern auf dem | |
Schwarzmarkt kaufen ließ. | |
Um was es genau geht, dürfen die Abgeordneten nicht sagen. A.B., der zweite | |
Quellenführer des LfV, hat es ihnen in einer als geheim eingestuften | |
Sitzung erzählt. Das Schweriner Innenministerium veröffentlicht zeitgleich | |
eine Pressemitteilung, die A.B.s Darstellung widerspricht. Reinhard Müller | |
hatte daran mitgewirkt. | |
Dieses Mal hat Müller eine weiter gefasste Aussagegenehmigung. Er wollte | |
von Abläufen erzählen und Einschätzungen, darlegen, warum er die | |
Information über Amris Helfer zurückhalten wollte. Doch die Abgeordneten | |
wollen immer wieder wissen: Was will das LfV mit einem Sturmgewehr? | |
Wieder geht es um seine Mitarbeiter T. S. und A. B. Aus Müllers Darstellung | |
und eigenen Recherchen lässt sich rekonstruieren: A. B. und T. S. bestellen | |
Müller zu einer konspirativen Wohnung, dort überraschen sie ihn mit einem | |
Erfolg: Eine Quelle hat einen tschechischen AK-47-Nachbau auf dem | |
Schwarzmarkt gekauft. T. S. wollte durch die Aktion Waffendepots von | |
Islamisten finden. | |
Müller aber ist wütend, so erzählt er es im Ausschuss. Die Waffe ist nach | |
seiner Überzeugung nicht zum Schießen geeignet, eine sogenannte Dekowaffe. | |
Ein echtes Sturmgewehr, das so umgebaut wurde, dass man nicht mehr damit | |
schießen kann. „Ich musste ihnen sagen, dass es überhaupt keinen Sinn | |
macht, eine Dekowaffe zu beschaffen, wenn man islamischen Terrorismus | |
bekämpfen will.“ | |
Müller wird vom Ausschuss gefragt, ob er wisse, dass eine baugleiche Waffe | |
beim Attentat auf einen jüdischen Supermarkt in Paris genutzt worden war. | |
Müller fragt: „Echte oder Dekowaffe?“ Martina Renner von der Linkspartei | |
antwortet: „Jetzt kommt der Hammer: eine Dekowaffe.“ | |
Kurz darauf sagt Müller: „Durch eine Dekowaffe ist noch niemand erschossen | |
worden.“ | |
Dabei haben Islamisten Menschen mit Dekowaffen erschossen, die wieder | |
funktionstüchtig gemacht wurden. Nicht nur im Pariser Supermarkt. Auch beim | |
Bataclan-Attentat im November 2015, sogar beim Attentat beim Münchner | |
Einkaufszentrum 2016. Das müsste ein Verfassungsschutzchef wissen. | |
Rechtlich ist es mindestens fragwürdig, ob Quellen für den | |
Verfassungsschutz Kriegswaffen kaufen dürfen. Auch der Umgang des | |
Verfassungsschutzchefs mit der Waffe irritiert. Er lässt erstmal nicht | |
untersuchen, ob sie wieder funktionsfähig gemacht werden könnte. | |
Stattdessen will er, dass die Waffe vernichtet wird. | |
Im Ausschluss schiebt Müller alles auf seinen Mitarbeiter: T. S. habe nach | |
Depots in Mecklenburg-Vorpommern gesucht. Müller nennt das: | |
„Spekulationen“, „Mutmaßungen“ und „völlig überdreht“ und muss e… | |
erinnert werden, dass es tatsächlich solche Depots mit Munition und | |
Kriegswaffen in seinem Land gegeben hat: Bei der rechten Preppergruppe | |
Nordkreuz. | |
Von der tatsächlich gekauften Kriegswaffe erfährt die Polizei jahrelang | |
nichts. Erst als T. S. sich an den Generalbundesanwalt wandte, stellt | |
Müller fest, dass die Waffe noch immer in seinem Amt lagert. Er schickt sie | |
zur Überprüfung ans LKA. Im Ausschuss kann er nicht beschreiben, wo sie | |
verwahrt gewesen war. | |
Die Parallelen sind verblüffend: Die Beschaffer T. S. und A. B. besorgen | |
eine Information, die schwierig zu bewerten ist. Die Vorgesetzten | |
beschließen, ihr Wissen nicht mit anderen Behörden zu teilen. Stattdessen | |
weisen sie an, die Information gar nicht erst zu verschriftlichen – oder, | |
so wie im Fall der Waffe – sie zu vernichten. | |
„Ich habe noch eine andere Frage“, sagt Müller, als ihn der Vorsitzende am | |
Ende der Fragerunde entlässt. Ob denn der Ausschuss schon über das | |
Ordnungsgeld entschieden habe? | |
## Der Staatssekretär | |
Es ist fast Mitternacht am Donnerstag dieser Woche, als [4][Thomas Lenz als | |
Zeuge den Europasaal im Bundestag betrifft. 60 Jahre alt, CDU, seit 2006 | |
Staatssekretär im Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern.] Er kam mit | |
Innenminister Caffier und blieb, als der zurücktrat. | |
Lenz entschuldigt sich für den ersten Auftritt seines | |
Verfassungsschutzchefes. Er sagt, dessen Aussage „war nicht in Ordnung.“ | |
Und: „So wie das hier stattgefunden hat, war das nicht beabsichtigt.“ Die | |
Informationen über Anis Amri nicht vollständig weiterzuleiten „war fachlich | |
noch vertretbar“. Er nennt es trotzdem einen Fehler. | |
Dann vernichtet er T. S. Einen Mitarbeiter also, der erst jahrelang Teil | |
der Landespolizei und dann mehr als 15 Jahre im Landesverfassungsschutz | |
gearbeitet hatte, bevor man ihn schließlich nach den Vorgängen in 2017 | |
zurück zur Polizei versetzte, auf einen Schreibtischposten. Lenz spricht | |
von „ein paar James-Bond-Filmen zu viel“. Er sagt, er möchte ja kein | |
einseitiges Bild zeichnen. T. S. sei ja auch ein Mitarbeiter „der sich | |
einen großen Dienst“ zuschreiben können, die Vereitelung eines Anschlags | |
2004 in Berlin. Er betont das Wort „einen“ und lässt es lange stehen. | |
Im Herbst 2019 hatte sich T. S. persönlich an den Staatssekretär gewandt. | |
Er schilderte ihm die Sache mit der Quelle und den liegengebliebenen | |
Informationen. Wie er seit Jahren versucht habe, erst seinen | |
Referatsleiter, dann den Verfassungsschutzchef selbst zu überzeugen, das | |
brisante Wissen weiterzugeben. Lenz sagt darüber: „Herr S. machte dann | |
etwas, was ich in 14 Jahren nicht erlebt hatte. Er versuchte, | |
umgangssprachlich ausgedrückt, mich zu erpressen.“ T. S., so sagt er es dem | |
Ausschuss, habe angekündigt, zum GBA zu gehen, wenn Lenz ihn nicht auf | |
seinen alten Posten zurückversetzt. | |
T. S. ging zum GBA. | |
Als Lenz schimpft, dass die Grünen und andere ihn und die Arbeit seines | |
Landes vorführten, werden die Abgeordneten unruhig. Es ist schon spät, die | |
Sitzung gleich vorbei. Sie bekommen heute keine Gelegenheit mehr, Fragen zu | |
stellen. Die heruntergeratterten Worte des Staatssekretärs aus | |
Mecklenburg-Vorpommern bleiben hier heute als letzte stehen. | |
FDP-Politiker Strasser steht auf und geht. | |
Linken-Politikerin Martina Renner geht. | |
Die Abgeordneten der Grünen gehen. | |
Die SPD geht. | |
Draußen werden sie der Presse von „gravierenden Vorgängen“ berichten. Sie | |
wundern sich über den Widerspruch, erst Fehler einzugestehen, dann aber den | |
Whistleblower, der diese Fehler aufdeckte, öffentlich zu diskreditieren. | |
Die Grünenpolitikerin Irene Mihalic sagt zu diesem Vorgehen vor | |
Journalistin*innen: „Mich lässt das fassungslos zurück“ Benjamin Strasser | |
sagt sogar: „Deshalb sollte sich der neue Innenminister Gedanken machen, ob | |
er noch mit so einem Behördenleiter arbeiten möchte.“ | |
Im Sitzungssaal bricht Thomas Lenz seine Rede ab, mehrere Seiten liegen | |
ungelesen vor ihm, er packt sie in eine Mappe mit goldenem Landeseblem. | |
Eigentlich wollte er sein Statement veröffentlichen und an die Presse | |
verschicken, mit allen Anschuldigungen, Tiraden und Passagen aus | |
eingestuften Unterlagen. Ausgesuchten Journalist*innen in Schwerin hatte er | |
bereits am Vortag seine Sicht der Dinge erläutert. Der Ausschussvorsitzende | |
weist verwundert darauf hin, dass der Ausschuss entscheiden dürfe, was | |
veröffentlicht werde – und was nicht. Dann ist Mecklenburg-Vorpommern | |
vorerst entlassen. | |
12 Dec 2020 | |
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