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# taz.de -- Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz: Showdown im Bundestag
> Was macht eigentlich der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern? In
> Berlin sagen die Abgeordneten: So etwas haben wir noch nie erlebt.
Bild: Schon seit 2018 versucht der Untersuchungsausschuss Licht ins Dunkel zu b…
Der Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat einen klaren
Auftrag. Er soll herausfinden, ob es zu verhindern gewesen wäre, dass der
[1][Terrorist Anis Amri] am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lkw in
einen Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben damals, mehr als 60
wurden schwer verletzt. Der Attentäter schaffte es, aus Berlin zu flüchten,
und wurde in Mailand von Polizisten erschossen. Wieso haben das weder die
Nachrichtendienste noch die Ermittler*innen kommen sehen?
Damit sie solche Fragen beantwortet können, müssen ihnen der
Generalbundesanwalt, das BKA, Ministerien und sogar die Geheimdienste
ordnerweise Schriftstücke liefern, Kommunikation offenlegen, mal
geschwärzt, mal streng geheim.
Dass etwas in ihren Unterlagen fehlt, bekommen die Abgeordneten in Berlin
mit, als ein Journalist recherchiert. Im Mai 2020 heißt es in einem
WDR-Bericht, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern
habe sich an den Generalbundesanwalt gewandt. Vorgesetzte sollen ihm
untersagt haben, Informationen über mutmaßliche Unterstützer Amris in
Berlin weiterzugeben. Auch von Waffenhändlern ist die Rede, von
dschihadistischen Netzwerken, jedoch alles vage.
Träfe das zu, wäre es ein mehrfacher Skandal: Der Generalbundesanwalt hatte
nach dem Attentat alle verfügbaren Unterlagen aus Behörden in ganz
Deutschland angefordert, warum blieben also Informationen in Schwerin
liegen? Und: Warum erfährt der Bundestag erst jetzt davon?
Es ist ein seltsamer Verdacht: Ausgerechnet der kleine Verfassungsschutz in
Mecklenburg-Vorpommern soll Hinweise zur Vorbereitung des schlimmsten
islamistischen Attentat in der deutschen Geschichte gefunden haben – um sie
dann nicht weiterzugeben?
Die Ausschussmitglieder beschließen, der Sache nachzugehen. Sie fangen mit
einem Puzzlestück an. Und am Ende zeichnet sich ihnen ein Bild von einem
Bundesland, in dem das Innenministerium seinen Verfassungsschutz offenbar
nicht im Griff hat.
## Der Whistleblower
Am 26. November kommt ein Mann mit Schiebermütze in den Bundestag, aus
Sicherheitsgründen nennen ihn alle hier nur T. S.. Er erscheint mit
Begleitschutz.
Er war Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern, ein Agent
also, er führte sogenannte Vertrauensleute, kurzum: Es war seine Aufgabe,
Informationen darüber zu gewinnen, wo Extremisten möglicherweise eine
Gefahr darstellen. Islamismus und Dschihadismus sind sein Fachgebiet.
Was er dem Ausschuss erzählt hat, ist geheim. Genauso wie die Vermerke,
Treffberichte und Briefe, die er schrieb. Wir haben anhand von
vertraulichen Gesprächen und öffentlich gestellten Fragen und Antworten
rekonstruiert, wie er den Sachverhalt darstellt.
Anfang Februar 2017 erhielt T. S. einen Anruf seines Kollegen A.B.. Auch
der ist V-Mann-Führer. A.B. berichtet ihm von einem Gespräch mit einer
Quelle, die er schon lange regelmäßig trifft. Diese Quelle hat erzählt, was
mehr als drei Jahre später den Untersuchungsausschuss beschäftigt – und das
Innenministerium in Schwerin unter Druck setzt.
Die Quelle berichtet, sie habe gehört, dass Anis Amri bislang unbekannte
Kontakte in Berlin hatte. Zu einer Familie aus Neukölln. Mehrfach sei Amri
bei Ihnen zu Besuch gewesen, vielleicht habe er auch in einer ihrer
Immobilien gewohnt. Die Familie ist bekannt, sie soll Verbindungen in die
organisierte Kriminalität haben. Nun könnten sie also auch noch Amris
Unterstützer gewesen sein. Dann aber berichtet die Quelle von noch
brisanteren Details: Die Familie hätte Amri für den Anschlag beauftragt und
nach der Tat zur Flucht nach Holland verholfen. In einem schwarzen Auto.
Von einer Belohnung sei die Rede gewesen, Bargeld in einer Tasche oder
einem Sack.
Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Attentat, gilt Amri als
Einzeltäter. Und als Islamist. So erklären sich Behörden die Tat. Die
Informationen, die die Verfassungsschützer in Mecklenburg-Vorpommern hören,
kratzen sehr an dieser Darstellung.
T. S. informiert seinen Referatsleiter über diese Wendung. Etwa drei Wochen
später geht ein Vermerk an das Bundesamt für Verfassungsschutz raus. Darin
berichtet das Landesamt von der Quelle und ihren Schilderungen zu Amris
Bekanntschaft in Neukölln. Von einem Anschlagsauftrag steht darin aber
nichts, auch nichts über einen Fluchtwagen oder Geld.
Warum wurde dieses Wissen nicht weitergegeben?
Hier unterscheiden sich die Schilderungen. P.G., der Referatsleiter von T.
S. und A.B., sagte als Zeuge im Ausschuss, er habe damals, im Februar,
davon nichts gewusst. Später zweifelt er die Glaubhaftigkeit der
Information an und entschied deshalb, sie nicht weiterzuleiten.
Für die andere Version gibt es zahlreiche schriftliche Belege.
Im Herbst 2019 schreibt T. S. einen Brief an den Generalbundesanwalt. Er
ist drei Seiten lang, in Kopie hat ihn auch das Bundesamt für
Verfassungschutz bekommen und auch der Staatssekretär im Innenministerium
von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Brief schildert T. S., wie er die
Information bekam und was damit geschah.
In seiner Version hat sein Vorgesetzter ihn gebeten, die Quelle erneut zu
treffen. Die Schilderungen der Quelle bleiben konsistent. Trotzdem bekommen
die Quellenführer T. S. und A.B. die Anweisung, das nicht zu
verschriftlichen. Es folgen weitere Treffen mit der Quelle, Besprechungen
mit der Referatsleitung, auch der Verfassungsschutzchef wird in Kenntnis
gesetzt. Etwa zu diesem Zeitpunkt soll A.B. zurück zur Polizei versetzt
werden. Die beiden V-Mann-Führer wollen ihr Wissen unbedingt weitergeben,
und schreiben deshalb den Fluchtwagen und das Geld in einen späteren
Treffbericht. Vor dem Ausschuss nennen sie das einen Trick. So wird ein
Vermerk über den 24. Mai 2017 der erste Beleg darüber, dass die Information
über Amri, über das Geld und den Fluchtwagen existiert.
Diese Variante wiederholt T. S. als er schließlich vom BKA befragt wird.
Die Schilderungen seines Kollegen A.B. stimmen damit überein. Sogar die
Quelle sagt bei den Ermittler*innen dasselbe aus.
Diese Version ist also mehrfach abgesichert. Oder haben sich hier drei
Personen abgesprochen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten?
## Der Verfassungsschutzchef
Am Donnerstagabend, 26. November, kommt es zu einem Auftritt, über die
langjährige Abgeordnete sagen: An so etwas können sie sich nicht erinnern.
Benjamin Strasser von der FDP wird von einer „vordemokratischen Haltung“
des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sprechen.
Es ist zwanzig vor Acht, im Europasaal im Paul-Löbe-Haus läuft die Sitzung
des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz schon seit ein paar
Stunden. Der Zeuge wird hereingerufen, Ministerialdirigent Reinhard Müller,
64, Chef des Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern seit 2009. Sein
Amt ist direkt im Innenministerium angesiedelt, er ist Abteilungsleiter.
Früher war er lange bei der Polizei.
Müller hat einen Rechtsbeistand dabei und Aktenordner. Schräg hinter ihm
sitzt die Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eine Juristin.
Ihre Aufgabe ist es darauf zu achten, dass der Zeuge keine Dinge sagt, die
von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt sind. Bei der letzten Sitzung
hat diese Aufgabe der Justiziar des Innenministeriums übernommen, aber er
wurde des Saales verwiesen, weil er selbst in den Fall involviert war.
Müller liest sein Eingangsstatement vor. Die Vorwürfe seien unzutreffend
sagt er, die zu Amri vorliegenden Informationen seien in sich nicht
schlüssig gewesen und deshalb „nicht weitergabefähig“. Weitere Aussagen
könne er aber nur in einer als geheim eingestuften Sitzung machen.
Als Erster ist nun ein Abgeordneter der CDU an der Reihe, er schafft
anderthalb Aufwärmfragen, bis sich die Landesvertreterin zum ersten Mal
meldet. „Ich muss jetzt leider intervenieren“, sagt sie. „weil die
Aussagegenehmigung gegen eine Antwort sprechen würde.“ Denn: Keine Aussagen
zu Personalangelegenheiten und T. S. sei ja eine Personalangelegenheit. Sie
fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die Fronten sind jetzt klar. Auf der einen Seite die
Bundestagsabgeordneten, die Fragen stellen wollen, weil das ihr Auftrag
ist. Die das schon in 110 Sitzungen gemacht haben und die es nicht
ausstehen können, wenn ein Zeuge selektiv berichtet. Auf der anderen Seite
ein Verfassungsschutzchef, der nichts sagen darf oder will oder beides. Und
der eine Landesvertreterin hinter sich weiß, die alles geben wird, damit er
nichts sagen muss. Sie macht das gleichermaßen engagiert wie unbeholfen,
dass sie manchen im Saal Leid tut.
In einer Beratungspause nimmt der Verfassungsschutzchef vor dem Saal sein
Handy und telefoniert aufgeregt. Er gibt das Handy an die Landesvertreterin
weiter. Das wird noch einige Male passieren an diesem Abend.
Die beiden haben mit Thomas Lenz telefoniert, dem Innenstaatssekretär in
Schwerin, wie Müller später sagt. Lenz ist gerade der Chef im Ministerium,
weil [2][Lorenz Caffier Tage zuvor zurückgetreten] ist, nachdem er seine
[3][Haltung zu einem rechten Netzwerk nicht erklären konnte.] Es sei aber
nur um die Auslegung der Aussagegenehmigung gegangen, sagt Müller. Lenz ist
selbst Zeuge in dem Komplex.
Eine Landesregierung gegen den Bundestag. Geheimhaltung gegen Aufklärung.
Der Ausschuss entscheidet einstimmig: Die Vernehmung wird öffentlich
fortgesetzt.
Wieder meldet sich die Landesvertreterin. Sie ruft: „Oktoberfestattentat!“
Im Saal schauen sich die Abgeordneten fragend an. Der Sitzungsleiter hat
gerade gesagt, dass die Vetreterin „jede einzelne Beschränkung in der
Aussage“ begründen müsse. Es folgt ein Dialog, der zeigt: Die Person, die
aufpassen muss, dass alles rechtmäßig läuft, hat selbst große
Schwierigkeiten, sich im Recht zu orientieren.
Landesvertreterin: „Ich wollte jetzt nur sagen, dass wir in den Bereich der
Quellen kommen. Und da gibt es ja das Oktoberfestattentat. Das ist ziemlich
eindeutig: Sobald es sich um Quellen dreht und tiefere Information fließen
sollen – also definitiv nicht in öffentlicher Sitzung.“
MdB Volker Ullrich (CDU/CSU): „Was hat das mit dem Oktoberfestattentat zu
tun? Finde ich, es ist eine seltsame Bemerkung, mit Verlaub.“
Landesvertreterin: „Wie bitte?“
Sitzungsleiter: „Also, das müssen Sie jetzt begründen. Sie haben damit
angefangen.“
Landesvertreterin: „Die Entscheidung – Entschuldigung – natürlich. (…)…
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Oktoberfestattentat. Darauf
beziehe ich mich.“
Ullrich: „Auf welchen Leitsatz und auf welche rechtliche Erwägung?“
Die Landesvertreterin liest in ihren Unterlagen und nennt dann eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Die
Abgeordneten werden ungeduldig.
Sitzungsleiter: „Ich warte auf die Begründung. Herr Ullrich hatte nach dem
Leitsatz gefragt, auf den Sie Ihre Begründung stützen.“
Landesvertreterin: „Ich darf doch kurz nachdenken, oder?“
Die Abgeordneten fragen weiter. Sie wollen nichts zur Identität von Quellen
oder anderen geheime Details wissen. Trotzdem wiederholt der
Verfassungsschutzchef in unterschiedlichen Formulierungen vor allem: Er
sage gerne aus, aber nur in geheimer Sitzung. Die Sitzung ist wie eine
Schallplatte, die hängengeblieben ist.
MdB Benjamin Strasser (FDP): „Herr Müller, die Entscheidung, den Hinweis
nicht weiterzugeben, also weder an die Polizei noch an andere Landesämter
für Verfassungsschutz, die haben Sie letztendlich getroffen?“
Verfassungsschutzchef: „Herr Strasser, Sie können nicht von mir erwarten,
dass ich jetzt an dieser Stelle zu diesen ganzen komplexen internen
Abläufen...“
Strasser: „Ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt: Wer hat die
Entscheidung getroffen? Sie oder jemand anders?“
Verfassungsschutzchef: „Ich kann diese Frage an dieser Stelle nicht
beantworten.“
Strasser: „Warum nicht?“
Verfassungsschutzchef: „Ich werde sie Ihnen gerne darstellen, auch die
Verläufe, die zu gewissen Entscheidungen geführt haben.“
Strasser: „Mich interessieren jetzt überhaupt nicht die Verläufe, mich
interessiert die einfache Frage, wer letztendlich die Entscheidung
getroffen hat.“
Landesvertreterin: „Ich verweise auf die Aussagegenehmigung. Hierbei
handelt es sich um eine innerdienstliche Angelegenheit.“
Strasser: „Ja, der ganze Untersuchungsausschuss ist eine große
innerdienstliche Angelegenheit.“
Es schält sich heraus, dass Müller offenbar fest davon überzeugt war, dass
die Information über Amri nicht stimmte, deshalb hat er sie nicht
weitergegeben. Seine Kriterien dabei: unklar. Der Ausschuss hält ihm
entgegen, dass er gar keinen Ermessensspielraum gehabt habe, weil es um
eine Terrorermittlung ging. Bis heute ist nicht klar, ob die Informationen
zutreffend waren, aber damals hätten sie womöglich geholfen.
Müller kommt nicht nur bei rechtlichen Fragen ins Schwimmen, sondern auch
bei sehr simplen. Etwa, wenn er gefragt wird, wie er reagiert habe, als er
vom Berliner Terroranschlag erfahren hat. Seine Stimme ist brüchig. Er muss
zwischendurch auch nachlesen, was überhaupt in seinem Eingangstatement
steht. Die Zettel vor sich hat er durcheinandergebracht.
Es ist Punkt Mitternacht, als der Sitzungsleiter verkündet: Die Befragung
wird abgebrochen. Er richtet deutliche Worte in Richtung
Mecklenburg-Vorpommern: „Wir missbilligen das, wir teilen das nicht, wir
haben eine andere Rechtsauffassung und erwarten, dass der Rechtsauffassung
des Untersuchungsausschusses, die wir für die rechtmäßige halten, auch
gefolgt wird.“ Wegen der verweigerten Antworten prüfe man ein Ordnungsgeld.
Intern sprachen sie von mindestens 1.000 Euro.
Verfassungsschutzchef Müller sagt: „Ich bedaure den Verlauf der Beratung
hier. Es war überhaupt nicht mein Ziel, Ihre berechtigten Fragen nicht zu
beantworten.“ Dann bittet er: „Vielleicht können Sie über die Frage des
Ordnungsgeldes auch noch mal neu nachdenken.“
## Der Generalbundesanwalt
Am 11. Dezember wird Generalbundesanwalt Peter Frank im Ausschuss zu den
Vorgängen befragt. Seine Behörde leitet die Amri-Ermittlungen. Über den
Brief von T. S. sagt er: „Das war ein dickes Ding“ Und: „Da wendet sich
einer Jahre später an uns mit der Behauptung, er hätte da Infos gehabt und
die hätte er gerne ans BKA weitergegeben und das sei ihm verboten worden.“
Frank erzählt von einer Ungereimtheit in den Ermittlungen, „Loch“ nennt er
das. Amri war nach dem Attentat zuletzt in Berlin gesehen worden, dann
verliert sich seine Spur. Keine Videoaufzeichnungen, keine Zeugen, nichts.
Erst in Nijmegen filmt ihn wieder eine Überwachungskamera am Bahnhof. Mit
dieser Ermittlungslücke begründet der Generalbundesanwalt, warum sie gerne
gewusst hätten, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Informationen lag, Amri
sei im Auto einer Berliner Familie in die Niederlande gefahren worden. „Und
selbst wenn das noch so halbseidene Erkenntnisse sind.“
## Der Verfassungsschutzchef
Als LfV-Chef Reinhard Müller am Donnerstagabend dieser Woche den Europasaal
des Bundestages betritt, zieht er einen Rollkoffer voller Akten und ein
neues Problem hinter sich her: Die Abgeordneten haben von einem weiteren
Fall erfahren, der den Verfassungsschutz in ein fragwürdiges Licht rückt.
Es geht um ein Sturmgewehr, das das LfV Mecklenburg-Vorpommern auf dem
Schwarzmarkt kaufen ließ.
Um was es genau geht, dürfen die Abgeordneten nicht sagen. A.B., der zweite
Quellenführer des LfV, hat es ihnen in einer als geheim eingestuften
Sitzung erzählt. Das Schweriner Innenministerium veröffentlicht zeitgleich
eine Pressemitteilung, die A.B.s Darstellung widerspricht. Reinhard Müller
hatte daran mitgewirkt.
Dieses Mal hat Müller eine weiter gefasste Aussagegenehmigung. Er wollte
von Abläufen erzählen und Einschätzungen, darlegen, warum er die
Information über Amris Helfer zurückhalten wollte. Doch die Abgeordneten
wollen immer wieder wissen: Was will das LfV mit einem Sturmgewehr?
Wieder geht es um seine Mitarbeiter T. S. und A. B. Aus Müllers Darstellung
und eigenen Recherchen lässt sich rekonstruieren: A. B. und T. S. bestellen
Müller zu einer konspirativen Wohnung, dort überraschen sie ihn mit einem
Erfolg: Eine Quelle hat einen tschechischen AK-47-Nachbau auf dem
Schwarzmarkt gekauft. T. S. wollte durch die Aktion Waffendepots von
Islamisten finden.
Müller aber ist wütend, so erzählt er es im Ausschuss. Die Waffe ist nach
seiner Überzeugung nicht zum Schießen geeignet, eine sogenannte Dekowaffe.
Ein echtes Sturmgewehr, das so umgebaut wurde, dass man nicht mehr damit
schießen kann. „Ich musste ihnen sagen, dass es überhaupt keinen Sinn
macht, eine Dekowaffe zu beschaffen, wenn man islamischen Terrorismus
bekämpfen will.“
Müller wird vom Ausschuss gefragt, ob er wisse, dass eine baugleiche Waffe
beim Attentat auf einen jüdischen Supermarkt in Paris genutzt worden war.
Müller fragt: „Echte oder Dekowaffe?“ Martina Renner von der Linkspartei
antwortet: „Jetzt kommt der Hammer: eine Dekowaffe.“
Kurz darauf sagt Müller: „Durch eine Dekowaffe ist noch niemand erschossen
worden.“
Dabei haben Islamisten Menschen mit Dekowaffen erschossen, die wieder
funktionstüchtig gemacht wurden. Nicht nur im Pariser Supermarkt. Auch beim
Bataclan-Attentat im November 2015, sogar beim Attentat beim Münchner
Einkaufszentrum 2016. Das müsste ein Verfassungsschutzchef wissen.
Rechtlich ist es mindestens fragwürdig, ob Quellen für den
Verfassungsschutz Kriegswaffen kaufen dürfen. Auch der Umgang des
Verfassungsschutzchefs mit der Waffe irritiert. Er lässt erstmal nicht
untersuchen, ob sie wieder funktionsfähig gemacht werden könnte.
Stattdessen will er, dass die Waffe vernichtet wird.
Im Ausschluss schiebt Müller alles auf seinen Mitarbeiter: T. S. habe nach
Depots in Mecklenburg-Vorpommern gesucht. Müller nennt das:
„Spekulationen“, „Mutmaßungen“ und „völlig überdreht“ und muss e…
erinnert werden, dass es tatsächlich solche Depots mit Munition und
Kriegswaffen in seinem Land gegeben hat: Bei der rechten Preppergruppe
Nordkreuz.
Von der tatsächlich gekauften Kriegswaffe erfährt die Polizei jahrelang
nichts. Erst als T. S. sich an den Generalbundesanwalt wandte, stellt
Müller fest, dass die Waffe noch immer in seinem Amt lagert. Er schickt sie
zur Überprüfung ans LKA. Im Ausschuss kann er nicht beschreiben, wo sie
verwahrt gewesen war.
Die Parallelen sind verblüffend: Die Beschaffer T. S. und A. B. besorgen
eine Information, die schwierig zu bewerten ist. Die Vorgesetzten
beschließen, ihr Wissen nicht mit anderen Behörden zu teilen. Stattdessen
weisen sie an, die Information gar nicht erst zu verschriftlichen – oder,
so wie im Fall der Waffe – sie zu vernichten.
„Ich habe noch eine andere Frage“, sagt Müller, als ihn der Vorsitzende am
Ende der Fragerunde entlässt. Ob denn der Ausschuss schon über das
Ordnungsgeld entschieden habe?
## Der Staatssekretär
Es ist fast Mitternacht am Donnerstag dieser Woche, als [4][Thomas Lenz als
Zeuge den Europasaal im Bundestag betrifft. 60 Jahre alt, CDU, seit 2006
Staatssekretär im Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern.] Er kam mit
Innenminister Caffier und blieb, als der zurücktrat.
Lenz entschuldigt sich für den ersten Auftritt seines
Verfassungsschutzchefes. Er sagt, dessen Aussage „war nicht in Ordnung.“
Und: „So wie das hier stattgefunden hat, war das nicht beabsichtigt.“ Die
Informationen über Anis Amri nicht vollständig weiterzuleiten „war fachlich
noch vertretbar“. Er nennt es trotzdem einen Fehler.
Dann vernichtet er T. S. Einen Mitarbeiter also, der erst jahrelang Teil
der Landespolizei und dann mehr als 15 Jahre im Landesverfassungsschutz
gearbeitet hatte, bevor man ihn schließlich nach den Vorgängen in 2017
zurück zur Polizei versetzte, auf einen Schreibtischposten. Lenz spricht
von „ein paar James-Bond-Filmen zu viel“. Er sagt, er möchte ja kein
einseitiges Bild zeichnen. T. S. sei ja auch ein Mitarbeiter „der sich
einen großen Dienst“ zuschreiben können, die Vereitelung eines Anschlags
2004 in Berlin. Er betont das Wort „einen“ und lässt es lange stehen.
Im Herbst 2019 hatte sich T. S. persönlich an den Staatssekretär gewandt.
Er schilderte ihm die Sache mit der Quelle und den liegengebliebenen
Informationen. Wie er seit Jahren versucht habe, erst seinen
Referatsleiter, dann den Verfassungsschutzchef selbst zu überzeugen, das
brisante Wissen weiterzugeben. Lenz sagt darüber: „Herr S. machte dann
etwas, was ich in 14 Jahren nicht erlebt hatte. Er versuchte,
umgangssprachlich ausgedrückt, mich zu erpressen.“ T. S., so sagt er es dem
Ausschuss, habe angekündigt, zum GBA zu gehen, wenn Lenz ihn nicht auf
seinen alten Posten zurückversetzt.
T. S. ging zum GBA.
Als Lenz schimpft, dass die Grünen und andere ihn und die Arbeit seines
Landes vorführten, werden die Abgeordneten unruhig. Es ist schon spät, die
Sitzung gleich vorbei. Sie bekommen heute keine Gelegenheit mehr, Fragen zu
stellen. Die heruntergeratterten Worte des Staatssekretärs aus
Mecklenburg-Vorpommern bleiben hier heute als letzte stehen.
FDP-Politiker Strasser steht auf und geht.
Linken-Politikerin Martina Renner geht.
Die Abgeordneten der Grünen gehen.
Die SPD geht.
Draußen werden sie der Presse von „gravierenden Vorgängen“ berichten. Sie
wundern sich über den Widerspruch, erst Fehler einzugestehen, dann aber den
Whistleblower, der diese Fehler aufdeckte, öffentlich zu diskreditieren.
Die Grünenpolitikerin Irene Mihalic sagt zu diesem Vorgehen vor
Journalistin*innen: „Mich lässt das fassungslos zurück“ Benjamin Strasser
sagt sogar: „Deshalb sollte sich der neue Innenminister Gedanken machen, ob
er noch mit so einem Behördenleiter arbeiten möchte.“
Im Sitzungssaal bricht Thomas Lenz seine Rede ab, mehrere Seiten liegen
ungelesen vor ihm, er packt sie in eine Mappe mit goldenem Landeseblem.
Eigentlich wollte er sein Statement veröffentlichen und an die Presse
verschicken, mit allen Anschuldigungen, Tiraden und Passagen aus
eingestuften Unterlagen. Ausgesuchten Journalist*innen in Schwerin hatte er
bereits am Vortag seine Sicht der Dinge erläutert. Der Ausschussvorsitzende
weist verwundert darauf hin, dass der Ausschuss entscheiden dürfe, was
veröffentlicht werde – und was nicht. Dann ist Mecklenburg-Vorpommern
vorerst entlassen.
12 Dec 2020
## LINKS
[1] /Anis-Amri/!t5372079
[2] /Waffenaffaere-um-Landesinnenminister/!5729697
[3] /Waffenaffaere-in-Mecklenburg-Vorpommern/!5725111
[4] /Rechtsextremismus-in-Mecklenburg-Vorpommern/!5727731
## AUTOREN
Sebastian Erb
Christina Schmidt
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Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Schwerpunkt Islamistischer Terror
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