| # taz.de -- Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz: Showdown im Bundestag | |
| > Was macht eigentlich der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern? In | |
| > Berlin sagen die Abgeordneten: So etwas haben wir noch nie erlebt. | |
| Bild: Schon seit 2018 versucht der Untersuchungsausschuss Licht ins Dunkel zu b… | |
| Der Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat einen klaren | |
| Auftrag. Er soll herausfinden, ob es zu verhindern gewesen wäre, dass der | |
| [1][Terrorist Anis Amri] am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lkw in | |
| einen Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben damals, mehr als 60 | |
| wurden schwer verletzt. Der Attentäter schaffte es, aus Berlin zu flüchten, | |
| und wurde in Mailand von Polizisten erschossen. Wieso haben das weder die | |
| Nachrichtendienste noch die Ermittler*innen kommen sehen? | |
| Damit sie solche Fragen beantwortet können, müssen ihnen der | |
| Generalbundesanwalt, das BKA, Ministerien und sogar die Geheimdienste | |
| ordnerweise Schriftstücke liefern, Kommunikation offenlegen, mal | |
| geschwärzt, mal streng geheim. | |
| Dass etwas in ihren Unterlagen fehlt, bekommen die Abgeordneten in Berlin | |
| mit, als ein Journalist recherchiert. Im Mai 2020 heißt es in einem | |
| WDR-Bericht, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern | |
| habe sich an den Generalbundesanwalt gewandt. Vorgesetzte sollen ihm | |
| untersagt haben, Informationen über mutmaßliche Unterstützer Amris in | |
| Berlin weiterzugeben. Auch von Waffenhändlern ist die Rede, von | |
| dschihadistischen Netzwerken, jedoch alles vage. | |
| Träfe das zu, wäre es ein mehrfacher Skandal: Der Generalbundesanwalt hatte | |
| nach dem Attentat alle verfügbaren Unterlagen aus Behörden in ganz | |
| Deutschland angefordert, warum blieben also Informationen in Schwerin | |
| liegen? Und: Warum erfährt der Bundestag erst jetzt davon? | |
| Es ist ein seltsamer Verdacht: Ausgerechnet der kleine Verfassungsschutz in | |
| Mecklenburg-Vorpommern soll Hinweise zur Vorbereitung des schlimmsten | |
| islamistischen Attentat in der deutschen Geschichte gefunden haben – um sie | |
| dann nicht weiterzugeben? | |
| Die Ausschussmitglieder beschließen, der Sache nachzugehen. Sie fangen mit | |
| einem Puzzlestück an. Und am Ende zeichnet sich ihnen ein Bild von einem | |
| Bundesland, in dem das Innenministerium seinen Verfassungsschutz offenbar | |
| nicht im Griff hat. | |
| ## Der Whistleblower | |
| Am 26. November kommt ein Mann mit Schiebermütze in den Bundestag, aus | |
| Sicherheitsgründen nennen ihn alle hier nur T. S.. Er erscheint mit | |
| Begleitschutz. | |
| Er war Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern, ein Agent | |
| also, er führte sogenannte Vertrauensleute, kurzum: Es war seine Aufgabe, | |
| Informationen darüber zu gewinnen, wo Extremisten möglicherweise eine | |
| Gefahr darstellen. Islamismus und Dschihadismus sind sein Fachgebiet. | |
| Was er dem Ausschuss erzählt hat, ist geheim. Genauso wie die Vermerke, | |
| Treffberichte und Briefe, die er schrieb. Wir haben anhand von | |
| vertraulichen Gesprächen und öffentlich gestellten Fragen und Antworten | |
| rekonstruiert, wie er den Sachverhalt darstellt. | |
| Anfang Februar 2017 erhielt T. S. einen Anruf seines Kollegen A.B.. Auch | |
| der ist V-Mann-Führer. A.B. berichtet ihm von einem Gespräch mit einer | |
| Quelle, die er schon lange regelmäßig trifft. Diese Quelle hat erzählt, was | |
| mehr als drei Jahre später den Untersuchungsausschuss beschäftigt – und das | |
| Innenministerium in Schwerin unter Druck setzt. | |
| Die Quelle berichtet, sie habe gehört, dass Anis Amri bislang unbekannte | |
| Kontakte in Berlin hatte. Zu einer Familie aus Neukölln. Mehrfach sei Amri | |
| bei Ihnen zu Besuch gewesen, vielleicht habe er auch in einer ihrer | |
| Immobilien gewohnt. Die Familie ist bekannt, sie soll Verbindungen in die | |
| organisierte Kriminalität haben. Nun könnten sie also auch noch Amris | |
| Unterstützer gewesen sein. Dann aber berichtet die Quelle von noch | |
| brisanteren Details: Die Familie hätte Amri für den Anschlag beauftragt und | |
| nach der Tat zur Flucht nach Holland verholfen. In einem schwarzen Auto. | |
| Von einer Belohnung sei die Rede gewesen, Bargeld in einer Tasche oder | |
| einem Sack. | |
| Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Attentat, gilt Amri als | |
| Einzeltäter. Und als Islamist. So erklären sich Behörden die Tat. Die | |
| Informationen, die die Verfassungsschützer in Mecklenburg-Vorpommern hören, | |
| kratzen sehr an dieser Darstellung. | |
| T. S. informiert seinen Referatsleiter über diese Wendung. Etwa drei Wochen | |
| später geht ein Vermerk an das Bundesamt für Verfassungsschutz raus. Darin | |
| berichtet das Landesamt von der Quelle und ihren Schilderungen zu Amris | |
| Bekanntschaft in Neukölln. Von einem Anschlagsauftrag steht darin aber | |
| nichts, auch nichts über einen Fluchtwagen oder Geld. | |
| Warum wurde dieses Wissen nicht weitergegeben? | |
| Hier unterscheiden sich die Schilderungen. P.G., der Referatsleiter von T. | |
| S. und A.B., sagte als Zeuge im Ausschuss, er habe damals, im Februar, | |
| davon nichts gewusst. Später zweifelt er die Glaubhaftigkeit der | |
| Information an und entschied deshalb, sie nicht weiterzuleiten. | |
| Für die andere Version gibt es zahlreiche schriftliche Belege. | |
| Im Herbst 2019 schreibt T. S. einen Brief an den Generalbundesanwalt. Er | |
| ist drei Seiten lang, in Kopie hat ihn auch das Bundesamt für | |
| Verfassungschutz bekommen und auch der Staatssekretär im Innenministerium | |
| von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Brief schildert T. S., wie er die | |
| Information bekam und was damit geschah. | |
| In seiner Version hat sein Vorgesetzter ihn gebeten, die Quelle erneut zu | |
| treffen. Die Schilderungen der Quelle bleiben konsistent. Trotzdem bekommen | |
| die Quellenführer T. S. und A.B. die Anweisung, das nicht zu | |
| verschriftlichen. Es folgen weitere Treffen mit der Quelle, Besprechungen | |
| mit der Referatsleitung, auch der Verfassungsschutzchef wird in Kenntnis | |
| gesetzt. Etwa zu diesem Zeitpunkt soll A.B. zurück zur Polizei versetzt | |
| werden. Die beiden V-Mann-Führer wollen ihr Wissen unbedingt weitergeben, | |
| und schreiben deshalb den Fluchtwagen und das Geld in einen späteren | |
| Treffbericht. Vor dem Ausschuss nennen sie das einen Trick. So wird ein | |
| Vermerk über den 24. Mai 2017 der erste Beleg darüber, dass die Information | |
| über Amri, über das Geld und den Fluchtwagen existiert. | |
| Diese Variante wiederholt T. S. als er schließlich vom BKA befragt wird. | |
| Die Schilderungen seines Kollegen A.B. stimmen damit überein. Sogar die | |
| Quelle sagt bei den Ermittler*innen dasselbe aus. | |
| Diese Version ist also mehrfach abgesichert. Oder haben sich hier drei | |
| Personen abgesprochen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten? | |
| ## Der Verfassungsschutzchef | |
| Am Donnerstagabend, 26. November, kommt es zu einem Auftritt, über die | |
| langjährige Abgeordnete sagen: An so etwas können sie sich nicht erinnern. | |
| Benjamin Strasser von der FDP wird von einer „vordemokratischen Haltung“ | |
| des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sprechen. | |
| Es ist zwanzig vor Acht, im Europasaal im Paul-Löbe-Haus läuft die Sitzung | |
| des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz schon seit ein paar | |
| Stunden. Der Zeuge wird hereingerufen, Ministerialdirigent Reinhard Müller, | |
| 64, Chef des Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern seit 2009. Sein | |
| Amt ist direkt im Innenministerium angesiedelt, er ist Abteilungsleiter. | |
| Früher war er lange bei der Polizei. | |
| Müller hat einen Rechtsbeistand dabei und Aktenordner. Schräg hinter ihm | |
| sitzt die Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eine Juristin. | |
| Ihre Aufgabe ist es darauf zu achten, dass der Zeuge keine Dinge sagt, die | |
| von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt sind. Bei der letzten Sitzung | |
| hat diese Aufgabe der Justiziar des Innenministeriums übernommen, aber er | |
| wurde des Saales verwiesen, weil er selbst in den Fall involviert war. | |
| Müller liest sein Eingangsstatement vor. Die Vorwürfe seien unzutreffend | |
| sagt er, die zu Amri vorliegenden Informationen seien in sich nicht | |
| schlüssig gewesen und deshalb „nicht weitergabefähig“. Weitere Aussagen | |
| könne er aber nur in einer als geheim eingestuften Sitzung machen. | |
| Als Erster ist nun ein Abgeordneter der CDU an der Reihe, er schafft | |
| anderthalb Aufwärmfragen, bis sich die Landesvertreterin zum ersten Mal | |
| meldet. „Ich muss jetzt leider intervenieren“, sagt sie. „weil die | |
| Aussagegenehmigung gegen eine Antwort sprechen würde.“ Denn: Keine Aussagen | |
| zu Personalangelegenheiten und T. S. sei ja eine Personalangelegenheit. Sie | |
| fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit. | |
| Die Fronten sind jetzt klar. Auf der einen Seite die | |
| Bundestagsabgeordneten, die Fragen stellen wollen, weil das ihr Auftrag | |
| ist. Die das schon in 110 Sitzungen gemacht haben und die es nicht | |
| ausstehen können, wenn ein Zeuge selektiv berichtet. Auf der anderen Seite | |
| ein Verfassungsschutzchef, der nichts sagen darf oder will oder beides. Und | |
| der eine Landesvertreterin hinter sich weiß, die alles geben wird, damit er | |
| nichts sagen muss. Sie macht das gleichermaßen engagiert wie unbeholfen, | |
| dass sie manchen im Saal Leid tut. | |
| In einer Beratungspause nimmt der Verfassungsschutzchef vor dem Saal sein | |
| Handy und telefoniert aufgeregt. Er gibt das Handy an die Landesvertreterin | |
| weiter. Das wird noch einige Male passieren an diesem Abend. | |
| Die beiden haben mit Thomas Lenz telefoniert, dem Innenstaatssekretär in | |
| Schwerin, wie Müller später sagt. Lenz ist gerade der Chef im Ministerium, | |
| weil [2][Lorenz Caffier Tage zuvor zurückgetreten] ist, nachdem er seine | |
| [3][Haltung zu einem rechten Netzwerk nicht erklären konnte.] Es sei aber | |
| nur um die Auslegung der Aussagegenehmigung gegangen, sagt Müller. Lenz ist | |
| selbst Zeuge in dem Komplex. | |
| Eine Landesregierung gegen den Bundestag. Geheimhaltung gegen Aufklärung. | |
| Der Ausschuss entscheidet einstimmig: Die Vernehmung wird öffentlich | |
| fortgesetzt. | |
| Wieder meldet sich die Landesvertreterin. Sie ruft: „Oktoberfestattentat!“ | |
| Im Saal schauen sich die Abgeordneten fragend an. Der Sitzungsleiter hat | |
| gerade gesagt, dass die Vetreterin „jede einzelne Beschränkung in der | |
| Aussage“ begründen müsse. Es folgt ein Dialog, der zeigt: Die Person, die | |
| aufpassen muss, dass alles rechtmäßig läuft, hat selbst große | |
| Schwierigkeiten, sich im Recht zu orientieren. | |
| Landesvertreterin: „Ich wollte jetzt nur sagen, dass wir in den Bereich der | |
| Quellen kommen. Und da gibt es ja das Oktoberfestattentat. Das ist ziemlich | |
| eindeutig: Sobald es sich um Quellen dreht und tiefere Information fließen | |
| sollen – also definitiv nicht in öffentlicher Sitzung.“ | |
| MdB Volker Ullrich (CDU/CSU): „Was hat das mit dem Oktoberfestattentat zu | |
| tun? Finde ich, es ist eine seltsame Bemerkung, mit Verlaub.“ | |
| Landesvertreterin: „Wie bitte?“ | |
| Sitzungsleiter: „Also, das müssen Sie jetzt begründen. Sie haben damit | |
| angefangen.“ | |
| Landesvertreterin: „Die Entscheidung – Entschuldigung – natürlich. (…)… | |
| Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Oktoberfestattentat. Darauf | |
| beziehe ich mich.“ | |
| Ullrich: „Auf welchen Leitsatz und auf welche rechtliche Erwägung?“ | |
| Die Landesvertreterin liest in ihren Unterlagen und nennt dann eine | |
| Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Die | |
| Abgeordneten werden ungeduldig. | |
| Sitzungsleiter: „Ich warte auf die Begründung. Herr Ullrich hatte nach dem | |
| Leitsatz gefragt, auf den Sie Ihre Begründung stützen.“ | |
| Landesvertreterin: „Ich darf doch kurz nachdenken, oder?“ | |
| Die Abgeordneten fragen weiter. Sie wollen nichts zur Identität von Quellen | |
| oder anderen geheime Details wissen. Trotzdem wiederholt der | |
| Verfassungsschutzchef in unterschiedlichen Formulierungen vor allem: Er | |
| sage gerne aus, aber nur in geheimer Sitzung. Die Sitzung ist wie eine | |
| Schallplatte, die hängengeblieben ist. | |
| MdB Benjamin Strasser (FDP): „Herr Müller, die Entscheidung, den Hinweis | |
| nicht weiterzugeben, also weder an die Polizei noch an andere Landesämter | |
| für Verfassungsschutz, die haben Sie letztendlich getroffen?“ | |
| Verfassungsschutzchef: „Herr Strasser, Sie können nicht von mir erwarten, | |
| dass ich jetzt an dieser Stelle zu diesen ganzen komplexen internen | |
| Abläufen...“ | |
| Strasser: „Ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt: Wer hat die | |
| Entscheidung getroffen? Sie oder jemand anders?“ | |
| Verfassungsschutzchef: „Ich kann diese Frage an dieser Stelle nicht | |
| beantworten.“ | |
| Strasser: „Warum nicht?“ | |
| Verfassungsschutzchef: „Ich werde sie Ihnen gerne darstellen, auch die | |
| Verläufe, die zu gewissen Entscheidungen geführt haben.“ | |
| Strasser: „Mich interessieren jetzt überhaupt nicht die Verläufe, mich | |
| interessiert die einfache Frage, wer letztendlich die Entscheidung | |
| getroffen hat.“ | |
| Landesvertreterin: „Ich verweise auf die Aussagegenehmigung. Hierbei | |
| handelt es sich um eine innerdienstliche Angelegenheit.“ | |
| Strasser: „Ja, der ganze Untersuchungsausschuss ist eine große | |
| innerdienstliche Angelegenheit.“ | |
| Es schält sich heraus, dass Müller offenbar fest davon überzeugt war, dass | |
| die Information über Amri nicht stimmte, deshalb hat er sie nicht | |
| weitergegeben. Seine Kriterien dabei: unklar. Der Ausschuss hält ihm | |
| entgegen, dass er gar keinen Ermessensspielraum gehabt habe, weil es um | |
| eine Terrorermittlung ging. Bis heute ist nicht klar, ob die Informationen | |
| zutreffend waren, aber damals hätten sie womöglich geholfen. | |
| Müller kommt nicht nur bei rechtlichen Fragen ins Schwimmen, sondern auch | |
| bei sehr simplen. Etwa, wenn er gefragt wird, wie er reagiert habe, als er | |
| vom Berliner Terroranschlag erfahren hat. Seine Stimme ist brüchig. Er muss | |
| zwischendurch auch nachlesen, was überhaupt in seinem Eingangstatement | |
| steht. Die Zettel vor sich hat er durcheinandergebracht. | |
| Es ist Punkt Mitternacht, als der Sitzungsleiter verkündet: Die Befragung | |
| wird abgebrochen. Er richtet deutliche Worte in Richtung | |
| Mecklenburg-Vorpommern: „Wir missbilligen das, wir teilen das nicht, wir | |
| haben eine andere Rechtsauffassung und erwarten, dass der Rechtsauffassung | |
| des Untersuchungsausschusses, die wir für die rechtmäßige halten, auch | |
| gefolgt wird.“ Wegen der verweigerten Antworten prüfe man ein Ordnungsgeld. | |
| Intern sprachen sie von mindestens 1.000 Euro. | |
| Verfassungsschutzchef Müller sagt: „Ich bedaure den Verlauf der Beratung | |
| hier. Es war überhaupt nicht mein Ziel, Ihre berechtigten Fragen nicht zu | |
| beantworten.“ Dann bittet er: „Vielleicht können Sie über die Frage des | |
| Ordnungsgeldes auch noch mal neu nachdenken.“ | |
| ## Der Generalbundesanwalt | |
| Am 11. Dezember wird Generalbundesanwalt Peter Frank im Ausschuss zu den | |
| Vorgängen befragt. Seine Behörde leitet die Amri-Ermittlungen. Über den | |
| Brief von T. S. sagt er: „Das war ein dickes Ding“ Und: „Da wendet sich | |
| einer Jahre später an uns mit der Behauptung, er hätte da Infos gehabt und | |
| die hätte er gerne ans BKA weitergegeben und das sei ihm verboten worden.“ | |
| Frank erzählt von einer Ungereimtheit in den Ermittlungen, „Loch“ nennt er | |
| das. Amri war nach dem Attentat zuletzt in Berlin gesehen worden, dann | |
| verliert sich seine Spur. Keine Videoaufzeichnungen, keine Zeugen, nichts. | |
| Erst in Nijmegen filmt ihn wieder eine Überwachungskamera am Bahnhof. Mit | |
| dieser Ermittlungslücke begründet der Generalbundesanwalt, warum sie gerne | |
| gewusst hätten, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Informationen lag, Amri | |
| sei im Auto einer Berliner Familie in die Niederlande gefahren worden. „Und | |
| selbst wenn das noch so halbseidene Erkenntnisse sind.“ | |
| ## Der Verfassungsschutzchef | |
| Als LfV-Chef Reinhard Müller am Donnerstagabend dieser Woche den Europasaal | |
| des Bundestages betritt, zieht er einen Rollkoffer voller Akten und ein | |
| neues Problem hinter sich her: Die Abgeordneten haben von einem weiteren | |
| Fall erfahren, der den Verfassungsschutz in ein fragwürdiges Licht rückt. | |
| Es geht um ein Sturmgewehr, das das LfV Mecklenburg-Vorpommern auf dem | |
| Schwarzmarkt kaufen ließ. | |
| Um was es genau geht, dürfen die Abgeordneten nicht sagen. A.B., der zweite | |
| Quellenführer des LfV, hat es ihnen in einer als geheim eingestuften | |
| Sitzung erzählt. Das Schweriner Innenministerium veröffentlicht zeitgleich | |
| eine Pressemitteilung, die A.B.s Darstellung widerspricht. Reinhard Müller | |
| hatte daran mitgewirkt. | |
| Dieses Mal hat Müller eine weiter gefasste Aussagegenehmigung. Er wollte | |
| von Abläufen erzählen und Einschätzungen, darlegen, warum er die | |
| Information über Amris Helfer zurückhalten wollte. Doch die Abgeordneten | |
| wollen immer wieder wissen: Was will das LfV mit einem Sturmgewehr? | |
| Wieder geht es um seine Mitarbeiter T. S. und A. B. Aus Müllers Darstellung | |
| und eigenen Recherchen lässt sich rekonstruieren: A. B. und T. S. bestellen | |
| Müller zu einer konspirativen Wohnung, dort überraschen sie ihn mit einem | |
| Erfolg: Eine Quelle hat einen tschechischen AK-47-Nachbau auf dem | |
| Schwarzmarkt gekauft. T. S. wollte durch die Aktion Waffendepots von | |
| Islamisten finden. | |
| Müller aber ist wütend, so erzählt er es im Ausschuss. Die Waffe ist nach | |
| seiner Überzeugung nicht zum Schießen geeignet, eine sogenannte Dekowaffe. | |
| Ein echtes Sturmgewehr, das so umgebaut wurde, dass man nicht mehr damit | |
| schießen kann. „Ich musste ihnen sagen, dass es überhaupt keinen Sinn | |
| macht, eine Dekowaffe zu beschaffen, wenn man islamischen Terrorismus | |
| bekämpfen will.“ | |
| Müller wird vom Ausschuss gefragt, ob er wisse, dass eine baugleiche Waffe | |
| beim Attentat auf einen jüdischen Supermarkt in Paris genutzt worden war. | |
| Müller fragt: „Echte oder Dekowaffe?“ Martina Renner von der Linkspartei | |
| antwortet: „Jetzt kommt der Hammer: eine Dekowaffe.“ | |
| Kurz darauf sagt Müller: „Durch eine Dekowaffe ist noch niemand erschossen | |
| worden.“ | |
| Dabei haben Islamisten Menschen mit Dekowaffen erschossen, die wieder | |
| funktionstüchtig gemacht wurden. Nicht nur im Pariser Supermarkt. Auch beim | |
| Bataclan-Attentat im November 2015, sogar beim Attentat beim Münchner | |
| Einkaufszentrum 2016. Das müsste ein Verfassungsschutzchef wissen. | |
| Rechtlich ist es mindestens fragwürdig, ob Quellen für den | |
| Verfassungsschutz Kriegswaffen kaufen dürfen. Auch der Umgang des | |
| Verfassungsschutzchefs mit der Waffe irritiert. Er lässt erstmal nicht | |
| untersuchen, ob sie wieder funktionsfähig gemacht werden könnte. | |
| Stattdessen will er, dass die Waffe vernichtet wird. | |
| Im Ausschluss schiebt Müller alles auf seinen Mitarbeiter: T. S. habe nach | |
| Depots in Mecklenburg-Vorpommern gesucht. Müller nennt das: | |
| „Spekulationen“, „Mutmaßungen“ und „völlig überdreht“ und muss e… | |
| erinnert werden, dass es tatsächlich solche Depots mit Munition und | |
| Kriegswaffen in seinem Land gegeben hat: Bei der rechten Preppergruppe | |
| Nordkreuz. | |
| Von der tatsächlich gekauften Kriegswaffe erfährt die Polizei jahrelang | |
| nichts. Erst als T. S. sich an den Generalbundesanwalt wandte, stellt | |
| Müller fest, dass die Waffe noch immer in seinem Amt lagert. Er schickt sie | |
| zur Überprüfung ans LKA. Im Ausschuss kann er nicht beschreiben, wo sie | |
| verwahrt gewesen war. | |
| Die Parallelen sind verblüffend: Die Beschaffer T. S. und A. B. besorgen | |
| eine Information, die schwierig zu bewerten ist. Die Vorgesetzten | |
| beschließen, ihr Wissen nicht mit anderen Behörden zu teilen. Stattdessen | |
| weisen sie an, die Information gar nicht erst zu verschriftlichen – oder, | |
| so wie im Fall der Waffe – sie zu vernichten. | |
| „Ich habe noch eine andere Frage“, sagt Müller, als ihn der Vorsitzende am | |
| Ende der Fragerunde entlässt. Ob denn der Ausschuss schon über das | |
| Ordnungsgeld entschieden habe? | |
| ## Der Staatssekretär | |
| Es ist fast Mitternacht am Donnerstag dieser Woche, als [4][Thomas Lenz als | |
| Zeuge den Europasaal im Bundestag betrifft. 60 Jahre alt, CDU, seit 2006 | |
| Staatssekretär im Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern.] Er kam mit | |
| Innenminister Caffier und blieb, als der zurücktrat. | |
| Lenz entschuldigt sich für den ersten Auftritt seines | |
| Verfassungsschutzchefes. Er sagt, dessen Aussage „war nicht in Ordnung.“ | |
| Und: „So wie das hier stattgefunden hat, war das nicht beabsichtigt.“ Die | |
| Informationen über Anis Amri nicht vollständig weiterzuleiten „war fachlich | |
| noch vertretbar“. Er nennt es trotzdem einen Fehler. | |
| Dann vernichtet er T. S. Einen Mitarbeiter also, der erst jahrelang Teil | |
| der Landespolizei und dann mehr als 15 Jahre im Landesverfassungsschutz | |
| gearbeitet hatte, bevor man ihn schließlich nach den Vorgängen in 2017 | |
| zurück zur Polizei versetzte, auf einen Schreibtischposten. Lenz spricht | |
| von „ein paar James-Bond-Filmen zu viel“. Er sagt, er möchte ja kein | |
| einseitiges Bild zeichnen. T. S. sei ja auch ein Mitarbeiter „der sich | |
| einen großen Dienst“ zuschreiben können, die Vereitelung eines Anschlags | |
| 2004 in Berlin. Er betont das Wort „einen“ und lässt es lange stehen. | |
| Im Herbst 2019 hatte sich T. S. persönlich an den Staatssekretär gewandt. | |
| Er schilderte ihm die Sache mit der Quelle und den liegengebliebenen | |
| Informationen. Wie er seit Jahren versucht habe, erst seinen | |
| Referatsleiter, dann den Verfassungsschutzchef selbst zu überzeugen, das | |
| brisante Wissen weiterzugeben. Lenz sagt darüber: „Herr S. machte dann | |
| etwas, was ich in 14 Jahren nicht erlebt hatte. Er versuchte, | |
| umgangssprachlich ausgedrückt, mich zu erpressen.“ T. S., so sagt er es dem | |
| Ausschuss, habe angekündigt, zum GBA zu gehen, wenn Lenz ihn nicht auf | |
| seinen alten Posten zurückversetzt. | |
| T. S. ging zum GBA. | |
| Als Lenz schimpft, dass die Grünen und andere ihn und die Arbeit seines | |
| Landes vorführten, werden die Abgeordneten unruhig. Es ist schon spät, die | |
| Sitzung gleich vorbei. Sie bekommen heute keine Gelegenheit mehr, Fragen zu | |
| stellen. Die heruntergeratterten Worte des Staatssekretärs aus | |
| Mecklenburg-Vorpommern bleiben hier heute als letzte stehen. | |
| FDP-Politiker Strasser steht auf und geht. | |
| Linken-Politikerin Martina Renner geht. | |
| Die Abgeordneten der Grünen gehen. | |
| Die SPD geht. | |
| Draußen werden sie der Presse von „gravierenden Vorgängen“ berichten. Sie | |
| wundern sich über den Widerspruch, erst Fehler einzugestehen, dann aber den | |
| Whistleblower, der diese Fehler aufdeckte, öffentlich zu diskreditieren. | |
| Die Grünenpolitikerin Irene Mihalic sagt zu diesem Vorgehen vor | |
| Journalistin*innen: „Mich lässt das fassungslos zurück“ Benjamin Strasser | |
| sagt sogar: „Deshalb sollte sich der neue Innenminister Gedanken machen, ob | |
| er noch mit so einem Behördenleiter arbeiten möchte.“ | |
| Im Sitzungssaal bricht Thomas Lenz seine Rede ab, mehrere Seiten liegen | |
| ungelesen vor ihm, er packt sie in eine Mappe mit goldenem Landeseblem. | |
| Eigentlich wollte er sein Statement veröffentlichen und an die Presse | |
| verschicken, mit allen Anschuldigungen, Tiraden und Passagen aus | |
| eingestuften Unterlagen. Ausgesuchten Journalist*innen in Schwerin hatte er | |
| bereits am Vortag seine Sicht der Dinge erläutert. Der Ausschussvorsitzende | |
| weist verwundert darauf hin, dass der Ausschuss entscheiden dürfe, was | |
| veröffentlicht werde – und was nicht. Dann ist Mecklenburg-Vorpommern | |
| vorerst entlassen. | |
| 12 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Anis-Amri/!t5372079 | |
| [2] /Waffenaffaere-um-Landesinnenminister/!5729697 | |
| [3] /Waffenaffaere-in-Mecklenburg-Vorpommern/!5725111 | |
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