# taz.de -- Demokratie in Coronapandemie: Das Parlament muckt auf | |
> Die Parlamente haben bei den Coronamaßnahmen bislang wenig zu sagen. | |
> Abgeordnete schmieden neue Bündnisse für mehr Mitsprache. | |
Bild: Ihr wird Top-down-Politik vorgeworfen: Kanzlerin Merkel | |
Es kommt selten vor, dass ein Linkenpolitiker seine knappe Redezeit im | |
Bundestag mit einem Lob an die FDP beginnt. Jan Korte, Parlamentarischer | |
Geschäftsführer der Linksfraktion, der sonst gern auf die politische | |
Konkurrenz rhetorisch draufhaut, tat das am Donnerstag. Er lobte den Antrag | |
der Liberalen zur „Stärkung von Demokratie und Parlamentarismus“ als | |
„überraschend gut“. Deshalb würde ihn die Linksfraktion unterstützen. Au… | |
das ist ungewöhnlich. | |
Die FDP fordert in ihrem Antrag, den [1][Bundestag und die Länderparlamente | |
stärker mit einzubeziehen], insbesondere wenn es um Maßnahmen mit | |
wesentlichen Grundrechtseingriffen geht, [2][wie sie die Kanzlerin am | |
Mittwoch verkündete]: Reisefreiheit passé, Versammlungsfreiheit auch, | |
Kneipen, Sportvereine und Kinos zu. Alles beschlossen auf Basis des | |
Infektionsschutzgesetzes, das den Landesregierungen erlaubt, „notwendige | |
Schutzmaßnahmen“ per Verordnung zu erlassen. Also in der Krise | |
durchregieren, und zwar ohne die eigentlichen Gesetzgeber, die Parlamente, | |
mit einzubeziehen. | |
Die Liberalen sind weder die Ersten noch die Einzigen, denen der autoritäre | |
Zug der Pandemiepolitik zunehmend auf die Nerven geht. Korte kritisierte, | |
dass die Ministerpräsidentenkonferenz, die sich derzeit im Zweiwochentakt | |
trifft, wie eine Ersatzregierung agiere. Da klatschte auch | |
AfD-Fraktionschef Alexander Gauland – was Korte wiederum missfiel. Gauland | |
hatte zuvor in rechtspopulistischer Manier von „Coronadiktatur“ geredet. | |
Die Linkspartei hatte schon im März vorgeschlagen, das Gesetz zum Schutz | |
der Bevölkerung auf Ende September zu befristen, um dann noch einmal neu zu | |
überlegen, wer was entscheiden soll. Das lehnte der Bundestag ab. Genau wie | |
im Mai den Antrag der Grünen, die eine Zustimmung von Bundesrat und | |
Bundestag zu den Verordnungen und Anordnungen forderten. Auch die | |
Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, mahnte am | |
Donnerstag: „Die Ministerpräsidentenkonferenz ersetzt keine Debatte im | |
Parlament.“ | |
Doch genauso läuft es derzeit. Am Mittwoch hatten Merkel und die | |
Ministerpräsidenten [3][neue Einschränkungen beschlossen] und auch gleich | |
verkündet. Am Tag danach folgte die Generaldebatte im Parlament. Ohne | |
Abstimmung, also ohne Folgen. Die Zahl der Intensivpatienten, so die | |
Kanzlerin, habe sich in kurzer Zeit verdoppelt. Die Gesundheitsämter | |
könnten 75 Prozent der Infektionen nicht mehr nachvollziehen. Risikogruppen | |
abzuschirmen, wie es die Kassenärztliche Vereinigung vorschlägt, sei keine | |
Alternative, weil die Gruppe zu groß sei und auch Jüngere schwer erkranken. | |
Daher sei der jetzige halbe Lockdown „geeignet, erforderlich und | |
verhältnismäßig“. Es war die erwartbar kühle Erörterung, in der die | |
Fortschritte bei präventiver Testung und die europäische | |
Impfstoffinitiative gewürdigt werden. | |
Die Top-down-Politik von Bundeskanzlerin und Ministerpräsident:innen | |
stößt aber auch innerhalb der CDU auf Kritik. Wolfgang Schäuble, graue | |
Eminenz der CDU und Präsident des Bundestags, wandte sich am 19. Oktober | |
per Brief an alle Fraktionen und mahnte darin an, „dass der Bundestag seine | |
Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den | |
Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von | |
Exekutive und Judikative“. Auch Schäuble schlägt auf Basis eines Gutachtens | |
vor, Maßnahmen zu konkretisieren, zu befristen, den Bundestag zu beteiligen | |
und besser zu unterrichten. Dass Journalist:innen die geplanten Maßnahmen | |
zur Pandemiebekämfpung am Mittwochmorgen vor den Parlamentarier:innen | |
lesen und bewerten konnten, ärgerte Letztere mächtig. | |
So kritisierte FDP-Chef Christian Lindner im Bundestag, dass das Parlament | |
nur nachträglich debattieren kann, was Merkel und die Ministerpräsidenten | |
der Länder schon entschieden hatten. Erst die Debatte im Parlament und die | |
anschließende Entscheidung wäre besser. Denn gerade weil die Maßnahmen | |
anders als im Frühjahr zu Recht kontroverser debattiert werden – wie auch | |
die Kanzlerin einräumte –, sollte das Parlament mehr mitentscheiden. Auch | |
die Grünen fordern dies. Die FDP will deshalb klare Kontrollmöglichkeiten | |
und Fristen in das Infektionsschutzgesetz einziehen. | |
Aber auch führende CDU-Politiker:innen reagieren empfindlich, wenn sie | |
auf das Thema angesprochen werden. Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der | |
Union, der normalerweise ein moderater Redner ist, warf Lindner vor, die | |
Pandemiebekämpfung als Aktionismus zu bezeichnen sei „für einen Liberalen | |
unwürdig“. Seine Vorgänger hätten „sich dafür geschämt“. Es sei eine | |
historische Aufgabe zu zeigen, dass effektive Coronabekämpfung in einer | |
Demokratie möglich sei, nicht nur in China. | |
Aber so effektiv, wie Brinkhaus behauptet, ist die Coronapolitik eben | |
nicht. Die Entscheidungen werden zwar schnell getroffen, aber anders als im | |
Frühjahr werden die Maßnahmen viel stärker öffentlich kritisiert. Die | |
Akzeptanz für diese kann sinken, wenn sie nicht breit legitimiert sind. | |
Auch die SPD hat diese Gefahr erkannt und schlägt sich schon halb auf die | |
Seite der Opposition von FDP, Linksfraktion und Grünen. SPD-Mann Johannes | |
Fechner sagte, der Vorstoß der FDP weise in die richtige Richtung. Die | |
SPD-Fraktion kündigte am 20. Oktober an, sie wolle bald das | |
Infektionsschutzgesetz reformieren. | |
29 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Stefan Reinecke | |
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