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# taz.de -- Verhandlungen nach Hausbesetzung in Mitte: Sie haben es saath
> Nach der Besetzung eines leerstehenden Hauses in Mitte denkt der Bezirk
> über eine Beschlagnahmung zugunsten der Besetzer*innen nach. Das wäre ein
> Novum.
Bild: Schon nach zehn Minuten da: Polizei bei der Hausbesetzung in der Habersaa…
Trotz jahrelangen Leerstands sieht die Wohnung in dem unscheinbaren
Plattenbau in der Habersaathstraße 46 aus, als könnte sie bald zu einem
wohligen Zuhause werden. Das Laminat ist in gutem Zustand, sogar eine Couch
steht noch da. Drei Aktivisten stehen am Fenster; auf ein Zeichen hängen
sie ein großes weißes Transparent hinaus: „Ich bin hier, weil stay at home
draußen nicht geht“. Zusammen mit über einem Dutzend überwiegend wohnungs-
und obdachloser Menschen besetzten sie am Donnerstagmittag mehrere
Wohnungen in dem seit Jahren fast vollständig leer stehenden Gebäude und
gründeten gemeinsam mit Sozialvereinen und mietenpolitisch Engagierten die
Initiative „Leerstand Hab-ich-saath“.
Mit der Aktion wollen die Besetzer*innen auf die sich verschlimmernde
Situation von obdach- und wohnungslosen Menschen aufmerksam machen.
Angesichts der Coronapandemie und des herannahenden Winters sei es
unverantwortlich, Menschen auf der Straße oder in überfüllten
Notunterkünften übernachten zu lassen, wenn gleichzeitig zahlreiche Gebäude
in Berlin leer stünden, heißt es in ihrer Pressemitteilung. In dem Gebäude
wollen die Besetzer*innen nicht nur Wohnraum schaffen, sondern auch Platz
für soziale Nutzung wie eine Fahrradwerkstatt oder eine Suchtberatung.
Es dauert keine zehn Minuten, bis mehrere Polizeiwannen vorfahren. Auch
knapp 50 Unterstützer*innen sind schon vor dem Haus, im Laufe des
Nachmittags werden es mehrere Hundert. Sie skandieren: „Die Häuser denen,
die sie brauchen.“ Die Polizei sichert den Hauseingang, verhält sich aber
ansonsten passiv.
Einige der Besetzer*innen haben erst vor Kurzem ihre Wohnung verloren, wie
Pierre, ein 35-jähriger Pfleger, dem wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde.
Andere leben schon länger auf der Straße und kommen aus Camps wie dem an
der Rummelsburger Bucht. Ein Besetzer, der Schoko genannt werden will,
berichtet der taz, ein selbst bestimmtes Leben sei im Obdachlosenasyl kaum
möglich: „Das ist Endstation“, sagt er.
„Es kann doch nicht sein, dass so ein Riesengebäude in Berlin leer steht“,
regt sich Thomas Hahn auf. Seit zweieinhalb Jahren lebt er selber auf der
Straße. Corona mache die Sache nicht einfacher, erzählt der 49-Jährige.
Während des ersten Lockdowns im Frühling hätte es kaum Möglichkeiten
gegeben, Geld zu verdienen – schnorren und Flaschen sammeln fielen als
Einnahmequelle weg. Auch er würde gern in das Gebäude einziehen. „Denkst
du, ich steh umsonst hier rum?“, scherzt er.
## Für 2 Millionen Euro privatisiert
Die Besetzung ist nicht die erste Aktion, durch die das Haus in die
Schlagzeilen gerät. Der mehrere Aufgänge umfassende, unansehnliche
Plattenbau gegenüber dem Bundesnachrichtendienst wurde 2006 für nur 2
Millionen Euro privatisiert, 2017 dann für den fast zehnfachen Preis
weiterverkauft. Der neue Investor plante, das Gebäude abzureißen,
scheiterte aber am Widerstand der verbliebenen Mieter*innen. Im Juli
beschloss die Bezirkverordnetenversammlung (BVV) von Mitte, das Gebäude zu
rekommunalisieren.
Auch einige parlamentarische Vertreter*innen sind bei der Besetzung vor
Ort, um die Verhandlungen mit dem Bezirk zu unterstützen. Die Hoffnung: Das
Polizeigesetz ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz)
ermöglicht, spekulativen Leerstand für die Unterbringung Obdachloser zu
beschlagnahmen. Theoretisch: Praktisch wurde diese Klausel bisher noch nie
umgesetzt, sondern statt dessen auf ausreichend verfügbare Plätze in
Notunterkünften hingewiesen.
Die Verhandlungen mit Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne)
laufen bis zum frühen Abend zäh, zwischenzeitlich bereitet sich die Polizei
auf eine Räumung vor. Beamte postieren sich mit Rammen vor dem
Gebäudeeingang. „Ihr wollt uns kurz vor dem Winter auf die Straße
schmeißen?“ ruft einer der Besetzer durch ein Megaphon aus dem Fenster.
Doch dann scheint es eine Wendung zu geben. Wie mehrere an der Verhandlung
beteiligte Abgeordnete der taz gegenüber bestätigten, stimmte von Dassel
zu, eine Möglichkeit der Beschlagnahmung gemäß des ASOGs in den nächsten 24
Stunden zu prüfen. Bei einem positiven Ausgang könnte damit ein
Präzedenzfall geschaffen werden. Die Chancen stehen gut, denn aufgrund der
Pandemie, der damit verbundenen Verringerung der Kältehilfeplätze und dem
BVV-Beschluss, den Leerstand des Gebäudes zu beenden, seien die
Voraussetzung für eine Beschlagnahmung gegeben, erklärt Sara Walther vom
Bündnis Zwangsräumung verhindern.
Die Bestätigung der Polizei, an diesem Abend nicht mehr zu räumen, blieb
allerdings noch aus.
29 Oct 2020
## AUTOREN
Jonas Wahmkow
## TAGS
Berlin-Mitte
Schwerpunkt Coronavirus
Obdachlosigkeit
Hausbesetzung
Wohnungsnot
Zwangsräumung
Musik
Stephan von Dassel
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Polizei Berlin
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