# taz.de -- Neue Corona-Maßnahmen: Viel Kritik, wenig Alternativen | |
> Ob AfD oder FDP, ob Bodo Ramelow oder Ärztefunktionäre: Kritiker der | |
> beschlossenen Maßnahmen gibt es reichlich – und Kritik an der Kritik. | |
Bild: Auf dem Rathausplatz in Freiburg am Donnerstag: Die Stühle eines Eiscaf�… | |
Ist es Profilierungssucht? Sind es persönliche Eitelkeiten? Ist es das | |
Prinzip der Oppositionsarbeit? Oder ist die Kritik an den Maßnahmen der | |
Bundesregierung und der Landesregierungen zur Eindämmung der Pandemie | |
berechtigt? Bei der Bewertung der Coronamaßnahmen ist die informierte | |
Öffentlichkeit derzeit verwirrt: Dass die Opposition, allen voran FDP und | |
AfD, gegen die Maßnahmen wettert, ist nachvollziehbar, ist es doch | |
gewissermaßen ihr Job. | |
Dass Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei als | |
Einziger unter den 16 Länderchefs ausschert, ist einer gesonderten | |
Betrachtung wert. Doch auch prominente Mediziner halten die Schließung von | |
Gastronomie- und Kulturbetrieben für überflüssig und empfehlen stattdessen, | |
„mit dem Virus zu leben“. | |
Unmittelbar vor der Videokonferenz der Kanzlerin mit den | |
Ministerpräsident*innen lud am Mittwoch die Kassenärztliche | |
Bundesvereinigung (KBV) zum Pressegespräch und stellte ein Papier vor: „Wir | |
setzen auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle | |
von Bevormundung“, lautet ihre Kernthese. Der KBV-Vorstandsvorsitzende | |
Andreas Gassen übte dabei scharfe Kritik an der Bundesregierung. „Es ist | |
falsch, nur mit düsterer Miene apokalyptische Bedrohungsszenarien | |
aufzuzeichnen“, sagte er. Und kritisierte etwas, was gar nicht zur | |
Diskussion stand: „Wir können nicht das ganze Land wochen- und monatelang | |
in eine Art künstliches Koma versetzen.“ Ein pauschaler Lockdown sei „weder | |
zielführend noch umsetzbar“, behauptete Gassen. Zudem verwies er darauf, | |
dass nur 5 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patient*innen belegt | |
seien. | |
## Wissenschaft und Ärzteschaft | |
Unterstützt wurde der oberste Funktionär der Kassenärzte dabei von den | |
Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit. Sie haben das Papier | |
mitverfasst, das außer von der KBV auch von zahlreichen Ärzteverbänden | |
unterzeichnet wurde. Präsentiert wurde es unter dem Titel „Gemeinsame | |
Position von Wissenschaft und Ärzteschaft“. | |
Was dabei verschwiegen wurde: Relevante Teile der Wissenschaft und der | |
Ärzteschaft sehen die Situation vollkommen anders. Schon am Dienstag hatten | |
die Präsident*innen der sechs großen deutschen Forschungsorganisationen – | |
Deutschen Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, | |
Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und | |
Leopoldina – genau das Gegenteil gefordert. „Es ist ernst“, warnen sie und | |
fordern, alle Kontakte drei Wochen lang um drei Viertel zu reduzieren. | |
Auch aus der Ärzteschaft gab es Widerstand gegen die Erklärung der KBV – | |
vor allem von jenen, die direkt mit den schwerkranken Covid-19-Patienten zu | |
tun haben. Uwe Janssens, Präsident der Vereinigung der Deutschen | |
Intensivmediziner, widerspricht entschieden Gassens Einschätzung, dass die | |
Situation auf den Intensivstationen noch entspannt sei. Viel mehr bahne | |
sich eine „Notsituation“ an, i[1][n wenigen Wochen drohe eine Überlastung], | |
wenn das starke Wachstum nicht gestoppt werde. Tatsächlich verdoppelt sich | |
die Zahl der Covid-19-Patient*innen in den deutschen Intensivstationen | |
derzeit in weniger als 10 Tagen; aus den 1.400, die KBV-Chef Gassen am | |
Mittwoch genannt hatte, wurde am Freitag schon 1.839. Auch die Aussage, | |
dass ein Lockdown nicht wirke, „kann man so nicht stehen lassen“, erklärte | |
Janssens. Die Vereinigung der Intensivmediziner hat sich der | |
KBV-Stellungnahme darum ausdrücklich nicht angeschlossen. | |
Eine scharfe Distanzierung gibt es auch von der Deutschen Gesellschaft für | |
Anästhesiologie und Intensivmedizin und dem Berufsverband Deutscher | |
Anästhesisten. Sie waren ohne ihre Zustimmung zunächst als Unterstützer des | |
Papiers aufgeführt worden, weil der Spitzenverband der Fachärzte | |
Deutschland, in dem sie Mitglied sind, dieses unterzeichnet hat. Die | |
Stellungnahme trage „nur zu einer weiteren unnötigen Verunsicherung der | |
Bevölkerung bei“, erklärte der Präsident des Anästhesisten-Verbands, Götz | |
Geldner. Viel stärker als im Frühjahr gehe es jetzt darum, einen Kollaps | |
der gesamten Intensivmedizin in Deutschland und damit sehr viele Todesfälle | |
zu verhindern. Protest kommt auch von einzelnen praktischen Ärzten: „Sie | |
mögen unsere gewählten Standesvertreter sein, aber gegenwärtig sprechen Sie | |
sicherlich nicht repräsentativ für ‚die Ärzteschaft‘ “, heißt es in e… | |
Gegenaufruf des Allgemeinmediziners Rainer Röver aus Überlingen. Statt | |
„realitätsferner Appelle“ brauche es „schnelles und entschlossenes | |
Handeln“. | |
## Laute Kritik im Bundestag | |
Laute Kritik [2][am Vorgehen der Regierung] gab es am Donnerstag im | |
Bundestag. Allen voran die AfD wirft der Bundesregierung vor, die Maßnahmen | |
seien undemokratisch, sie habe „diktatorisch“ entschieden. Drastische Worte | |
ist die Bundesregierung vonseiten der AfD gewohnt. Doch auch die FDP | |
wettert, Volksvertreter im Parlament seien nicht ausreichend eingebunden | |
worden. Die Runde der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung sei kein | |
Verfassungsorgan, doch sie trete immer wieder mit weitreichenden Eingriffen | |
in das Leben der Menschen hervor. | |
Schon am Donnerstag reagierte Vizekanzler Olaf Scholz auf den Vorwurf eines | |
undemokratischen Vorgehens. „Es hat eine umfangreiche parlamentarische | |
Beteiligung gegeben“, sagte der SPD-Finanzminister. Der Bundestag habe etwa | |
70-mal über Coronahilfen beraten. Und er hat recht. Grundlage für den | |
Infektionsschutz ist tatsächlich ein mit Mehrheit beschlossenes | |
Bundesgesetz. | |
Wegen der föderalen Struktur sind für die Ausführung die Länder zuständig, | |
daher waren die Ministerpräsidenten als deren gewählte Vertreter | |
eingebunden. Die Kanzlerin habe aber bei der Vorbereitung der Beschlüsse | |
laufend die Chefs der Bundestagsfraktionen eingebunden, betont Scholz. Es | |
sei daher „ein unfreundlicher Akt gegenüber dem Parlament“, ihm nach all | |
diesen Anstrengungen eine passive Rolle zu unterstellen. | |
Bodo Ramelows cholerische Ausbrüche und seine Neigung zu sprunghaften | |
Entscheidungen sind berüchtigt. Auch derzeit irritiert die Coronapolitik | |
des Linken-Ministerpräsidenten. Er werde einer Lockdownbeschlussfassung in | |
der Ministerpräsidentenkonferenz aus grundsätzlichen Erwägungen nicht | |
zustimmen, ließ Ramelow am Dienstag verkünden. Einen Tag später, als sich | |
die Ministerpräsidenten ab Mittag in der MPK virtuell zur Beratung trafen, | |
war Ramelow von seinem strikten Nein wieder abgerückt. Wie alle anderen | |
Ministerpräsidenten stimmte er dem Vorschlag der Kanzlerin zu, vor allem | |
den Freizeit- und Kulturbereich für einen Monat herunterzufahren. | |
Wie es zu diesem Sinneswandel kam? Als sich Ramelow und sein Kabinett am | |
Dienstag zur Lagebesprechung trafen, habe es – mal wieder – keine Vorlage | |
für die MPK am kommenden Tag gegeben, erläutert sein Sprecher Falk Neubert. | |
Das habe Ramelow geärgert. Es könne nicht sein, dass die MPK auf Grundlage | |
kurzfristiger Beschlussvorlagen tiefe Eingriffe in die Grundrechte | |
beschließen solle. Die Parlamente müssten stärker einbezogen werden. So | |
steht es in der Pressemitteilung, die nach der Sitzung rausging. | |
Doch die steigenden Infektionszahlen in Thüringen, drei Coronafälle in der | |
Staatskanzlei und ein Anruf der Kanzlerin in Erfurt am Dienstagnachmittag | |
brachten Ramelow ins Wanken. Die Gespräche mit den Länderkolleg:innen am | |
Mittwoch stimmten ihn schließlich um. | |
Gänzlich gab er seine, „Bodo gegen den Rest der Welt“-Position“ dann aber | |
doch nicht auf. Nicht weniger als fünf Protokollerklärungen ließ Ramelow | |
ans Ende des Beschlusses der Ministerpräsident:innen setzen. Die reichen | |
von grundsätzlicher Kritik an der MPK über die Drohung, dass Thüringen nur | |
die Maßnahmen mittrage, die wissenschaftlich evaluiert seien, bis hin zu | |
der Erklärung, der Landtag werde auf jeden Fall noch über den Beschluss | |
abstimmen. | |
Seine Unterstützer:innen können Ramelow mitunter schwer folgen. Auf dem | |
Regierungskanal „Ramelow direkt“ nannte er die einseitige Fixierung auf | |
Corona am Mittwochabend problematisch, wies auf die ebenfalls existente | |
Gefahr durch Blutvergiftungen hin. Dass Ramelow nun zu den Coronaleugnern | |
überläuft, ist allerdings unwahrscheinlich. Er sei sehr gewissenhaft auf | |
die Einhaltung der Hygieneregeln bedacht, so Sprecher Neubert. „Wenn jemand | |
keine Maske trägt, weist er ihn sofort darauf hin.“ Nachdem die | |
Infektionsfälle in der Staatkanzlei auftraten, ließ sich Ramelow am | |
Donnerstagmittag selbst auf das Virus testen. Das – negative – Testergebnis | |
veröffentlichte er noch am selben Abend auf Twitter mit den Worten: „Bleibt | |
vorsichtig und vor allem gesund.“ | |
Was die Kritiker der Coronamaßnahmen eint: Sie bemängeln, dass in den | |
Sommermonaten, als die Infektionslage relativ entspannt war, versäumt | |
wurde, zielgerichtete Teststrategien zu entwickeln, wie mit | |
Reiserückkehrer*innen umzugehen sei, oder technische Lösungen in | |
Schulen und Kitas. Eine Akutstrategie, wie auf die nun explodierenden | |
Infektionszahlen und die Zunahme von Intensivpatieten zu reagieren sei, | |
haben auch sie nicht. So bleibt ihnen nur eins: dagegen sein. | |
30 Oct 2020 | |
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