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# taz.de -- PolitikerInnen im Coronastress: „Ich sitze glockenwach im Bett“
> Der Druck auf Politiker:innen während der Coronakrise ist extrem. Wie
> wirkt sich das auf die Politik aus?
Bild: Im Dauerstress: Bodo Ramelow gibt ein Pressestatement zur Coronapandemie
Es dauert 45 Minuten, bis Bodo Ramelow explodiert. Seine Stimme wird
lauter, er springt auf. „Jetzt zeige ich Ihnen mal, wie meine Woche war.“
Der Ministerpräsident läuft mit drei langen Schritten zum Schreibtisch und
pfeffert einen Packen A4-Blätter auf den Besuchertisch in der Staatskanzlei
in Erfurt. „Hier sehen Sie den Montag. Den Dienstag. Den Mittwoch. Den
Donnerstag.“ Ramelow blättert Tabellen mit Zeiten und Terminen so schnell
um, dass sie vorbeirauschen wie ein Daumenkino. „Da sehen Sie, wie meine
Tage aussehen.“
Es ist Donnerstag. Die Nachmittagssonne scheint freundlich in Ramelows
Eckzimmer im zweiten Stock. Draußen geht ein schöner Herbsttag zu Ende.
Doch die Idylle trügt.
Die Restaurants rund um die Erfurter Staatskanzlei haben ihre Stühle
hochgestellt. Seit Montag sind sie geschlossen, eine von mehreren Maßnahmen
zur Eindämmung der Pandemie. Das Robert-Koch-Institut hat wieder einen
neuen Höchststand an Corona-Infizierten bekannt gegeben. Die
Weltgesundheitsorganisation ist besorgt über die Explosion der Infektionen
in Europa. Und gleichzeitig trommeln Coronaleugner zur Demo in Leipzig, um
gegen den erneuten Lockdown zu protestieren.
Ramelow steht unter Druck. Massiv. Er könne kaum schlafen, sei angespannt,
sagt er. „Nachts um drei, um vier sitze ich im Bett und bin glockenwach.
Und dann grübelt der Kopf. Ist alles getan, ist alles richtig? Am nächsten
Tag telefoniere ich dann und frage Dinge nach, die mich beschäftigt haben.“
Er ruft dann einen Amtsarzt an. Oder den Krankenhausgeschäftsführer. Oder
den Chefpneumologen.
## Dünnhäutig im Dauerbeschuss
In dieser Woche haben Anhänger der Bewegung „Querdenken“ zudem seine
Privatadresse in Chatgruppen veröffentlicht und eine Grabkerze vor seine
Haustür gestellt. Da wirken die Fragen der Journalistin wie eine Nadel, die
in einen Luftballon piekst: Warum hat er noch vor einer Woche verkündet, er
werde einem Lockdown nicht zustimmen, um dann am nächsten Tag zusammen mit
den anderen 15 Ministerpräsidenten in der Videoschalte mit der Kanzlerin
genau das zu tun? Warum hat er gefordert, vorher das Parlament einzubinden,
wenn dieses erst tagte, als der Lockdown schon galt?
Der Druck entweicht schlagartig. „Das geht mir echt auf die Ketten“, ruft
Ramelow. „Dieses Bild von jemandem, der Zickzack-Kurs fährt, der das
Parlament und die Partei nicht beteiligt.“ Er schnaubt: „Manch einer sitzt
in seiner Schreibstube und kann das fröhlich beurteilen. Ich muss es jeden
Tag entscheiden und durchhalten.“
Bodo Ramelow ist nicht der einzige Regierungschef, der derzeit unter
Dauerbeschuss steht, der Kritik einstecken und abwehren muss. Die
Corona-Krise mag dem dünnhäutigen Thüringer, der sich jede Umgehungsstraße
als Chefsache auf den Tisch zieht, emotional stärker zusetzen als anderen.
Doch die Situation ist für alle ähnlich, für Markus Söder in Bayern oder
Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern. „Alle stehen doch unter Druck:
Kein Wunder. Wir muten Menschen enorm viel zu“, sagt Ramelow.
Die Exekutive regiert derzeit auf Basis von Rechtsverordnungen, die die
Ministerpräsident:innen beschließen Maßnahmen, die tief in die
Grundrechte von Bürger:innen eingreifen und von den Parlamenten, wenn
überhaupt, erst im Nachhinein abgesegnet werden. Existenzen stehen auf dem
Spiel, der Staat nimmt Milliardenkredite auf, um eine Pleitewelle zu
verhindern. Doch niemand kann sagen, ob die Zumutungen wirken, ob der
rasante Anstieg der Infektionen gestoppt und die Ausbreitung des Virus
wieder kontrollierbar wird.
## Leistungsfähig aber unreflektiert
Politiker:innen müssen schnelle Entscheidungen treffen, die aber
gleichzeitig sorgfältig abgewogen werden müssen. Geht das überhaupt? Kann
man einen Drahtseilakt im Laufschritt bewältigen?
„Was uns stresst, ist individuell verschieden“, sagt Gesine Hofinger.
Menschen reagierten aber ähnlich darauf. Die Psychologin erforscht, wie
Menschen in Stresssituationen handeln, und berät aktuell auch Krisenstäbe.
„Stress aktiviert uns geistig, körperlich, emotional und seelisch. Der
Organismus bereitet sich auf schnelles, zielgerichtetes, fokussiertes
Handeln vor.“ Das mache Menschen extrem leistungsfähig. „Doch gleichzeitig
sind wir eingeschränkt in unserer Fähigkeit, zu reflektieren und zu
analysieren.“ Gerade unter Zeitdruck, der ein starker Stressfaktor sei, sei
dies zu beobachten.
Die Risiken liegen auf der Hand. „Es ist wahrscheinlicher, Dinge zu
übersehen, wenn man nur auf ein Ziel fokussiert ist. Dann fallen Probleme
unter den Tisch“, sagt Hofinger.
## Das lässt sich durchaus auf die Politik übertragen. Die Dynamik der
Pandemie beschleunigt Entscheidungen und macht sie gleichzeitig volatiler
und anfälliger für Fehler. So wie in der vergangenen Woche.
## Sie waren sich einig – und entschieden doch anders
Normalerweise treffen sich die Ministerpräsident:innen einmal im
Vierteljahr. Entscheidungen werden langfristig vorbereitet,
Beschlussvorlagen an alle Ministerien verschickt. Die
Ministerpräsident:innen klären in ihrer Runde nur noch letzte Details. Doch
die Coronakrise beschleunigt und verändert alles. Derzeit tagen die
Länderchef:innen im Wochentakt, schon Mitte November werden sie sich erneut
treffen.
Zur Ausnahmesituation gehörte auch, dass es einen Tag vor der letzten
Sitzung am 28. Oktober keine Beschlussvorlage für die harten Maßnahmen gab,
die wenige Tage später gelten sollten. Als sich die Thüringer
Minister:innen und Ramelow am Dienstag zur Besprechung trafen, waren sich
fast alle einig: Ein Lockdown müsse tunlichst vermieden werden.
Die Staatskanzlei verschickte im Namen des Ministerpräsidenten eine
Presseerklärung: Man werde einem Lockdown nicht zustimmen. Doch einen Tag
später schnellten die Infektionszahlen in die Höhne, auch Thüringen war
plötzlich Risikogebiet.
Am Mittwoch schwenkte Ramelow um und war bereit den Lockdown mitzutragen.
SPD-Innenminister Georg Maier, auch Spitzenkandidat bei der anstehenden
Landtagswahl, nutzte die Gelegenheit und kritiserte Ramelow als erratisch.
## „Der Profimodus ist ausgesetzt“
Als Ramelow noch mit den Länderkolleg:innen konferierte, unterlief ihm ein
weiterer Lapsus. Er ließ über seinen Staatskanzleichef eine Sondersitzung
des Landtags beantragen – normalerweise Aufgabe der Fraktionsvorsitzenden
Susanne Hennig-Wellsow. Die fand das nicht lustig, noch weniger lustig fand
sie, dass Ramelow am nächsten Tag erklärte, er ziehe seinen Antrag zurück.
Sie hat allerdings auch Verständnis für den Ministerpräsidenten. Auf
Ramelow liege eine unglaubliche Last, „man sieht's ihm auch an“, sagt sie.
Hinzu kommt: Auch die Entscheidungswege auf Länderebene verlaufen plötzlich
anders und sind stark verkürzt. Normalerweise sprechen sich die drei
Thüringer Koalitionspartner, Linke, SPD und Grüne, umfänglich ab. 14 feste
Gesprächsrunden hat Hennig-Wellsow pro Woche, es gibt zahlreiche
Chatgruppen. Mit Beginn der zweiten Welle sei das alles dahin. „Zurzeit ist
der Profimodus ausgesetzt“, sagt die Linken-Politikerin beim Gespräch in
Erfurt. Eigentlich wollte sie bereits als Parteivorsitzende in Berlin
residieren. Aber auch der Bundesparteitag der Linken ist vorläufig
ausgesetzt.
Im Eckzimmer der Staatskanzlei ist Ramelow immer noch ein wenig angefasst.
Er fühlt sich von den Medien falsch dargestellt. „Es wird kaum darüber
geredet, dass die Parlamentsbeteiligung von mir durchgesetzt worden ist.
Dass ich das einzige störrische Muli in der 16er-Runde der
Ministerpräsidenten war, der gesagt hat: Ohne Parlamente mache ich nichts
mehr.“
Das stimmt: Ramelow hat bereits im Sommer unter großem Murren darauf
gedrungen, dass die Parlamente stärker in die Corona-Politik eingebunden
werden müssten. Wenn schon nicht als Treiber, dann wenigstens als Korrektiv
für die zahlreichen Verordnungen. Nun sind sich die Ministerpräsident:innen
einig: Die Länderparlamente sollen mehr Mitsprache bekommen. Und auch der
Bundestag soll künftig regelmäßig entscheiden, ob eine Gesundheitsnotlage
noch gegeben ist, die harte Gegenmaßnahmen erlaubt. Die Parlamente kämpfen
sich zurück in den Profimodus, auch unter Corona-Bedingungen.
## Thüringen sucht Hilfe in Sachsen-Anhalt
Aus Sicht der Stressforscherin Hofinger ist das vernünftig. Niemand könne
dauerhaft unter Anspannung agieren, das führe unweigerlich zu Erschöpfung.
„Die Krise wird noch lange dauern. Wir brauchen eine Normalisierung der
Prozesse des Krisenmodus“, sagt sie.
Derzeit kontrollieren und versichern sich die Ministerpräsident:innen
gegenseitig, ob sie mit ihren Verordnungen auf Landesebene richtig liegen.
Als er entscheiden sollte, ob auch die Thüringer Tattoo-Studios geschlossen
werden sollen, rief der Linken-Politiker Ramelow seinen CDU-Kollegen Reiner
Haseloff in Magdeburg an. Die Tätowierer hatten Ramelow zuvor versichert,
dass sie sowieso unter medizinischen Hygienebedingungen arbeiten müssten,
ihre Studios also total coronasicher seien. Aber kann man Leuten verbieten
ins Restaurant zu gehen, während sie sich weiter tätowieren lassen dürfen?
„Wie macht ihr das?“, habe Ramelow Reiner Haseloff gefragt. „Er hat
geantwortet: Das machen wir nicht mit. In Thüringen orientieren wir uns
jetzt an dem, was Sachsen-Anhalt macht“, sagt Ramelow. Tattoo-Studios
bleiben geöffnet.
## Das Virus bestimmt
Eine Beteiligung der Parlamente würde nicht nur die Legitimationsbasis
verbreitern. Sie würde auch die Last auf den Schultern der einsamen
Entscheider:innen mindern.
Doch das macht Entscheidungen nicht automatisch besser. Und es sorgt auch
nicht für jene Planbarkeit, die viele Menschen derzeit einfordern. Wie geht
es nach November weiter, wird der Ausnahmezustand andauern? „Ich weiß es
nicht“, sagt Ramelow. „Wir trauen uns keinen Blick ins Jahr 2021 zu
werfen.“
Erst kürzlich saß Ramelow mit Großveranstaltern zusammen. Und konnte ihnen
nicht sagen, ob sie jetzt die nötigen Verträge abschließen können für den
Sommer, für Open-Air-Festivals mit Bands aus dem Ausland. „Ich kann keine
Antwort geben“, sagt er. Seine Stimme wird wieder lauter, diesmal eher
verzweifelt als wütend. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob meine
Tochter, die bei der Lufthansa Flugbegleiterin ist, im Sommer noch Arbeit
hat oder nicht. Ich weiß aber, dass wir die Schulen so lange auf lassen wie
möglich. Nur das Infektionsgeschehen kann uns zwingen, sie zu schließen.“
Corona, so scheint es, ist derzeit der wahre Herrscher.
7 Nov 2020
## AUTOREN
Anna Lehmann
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