# taz.de -- Push-backs von Geflüchteten: Abschiebung aufs Meer | |
> NGOs berichten: Die griechische Küstenwache schiebt Geflüchtete illegal | |
> in die Türkei zurück. Oder setzt sie auf aufblasbaren Plattformen im Meer | |
> aus. | |
Bild: So sieht das Gegenteil von Seenotrettung aus: Geflüchtete werden aufs Me… | |
HAMBURG taz | Auf dem Kiesstrand liegen eine leere Wasserflasche mit | |
türkischer Aufschrift und eine Rettungsweste für ein Kind, leuchtend gelb | |
und noch voller Luft. Fotos davon publizierten die griechische | |
Onlinezeitung Astraparis und die deutsche NGO Mare Liberum. Die Gegenstände | |
sollen bezeugen, was die, denen sie gehörten, nicht mehr erzählen können: | |
Dass Ende April an der Ostküste der griechischen Insel Chios Migrant*innen | |
ankamen, die kurz darauf verschwanden. | |
Der Fall von Chios soll einer von mehreren sein, in denen Geflüchtete in | |
den vergangenen Wochen kurz nach ihrer Ankunft von der griechischen | |
Küstenwache abgeschoben wurden. Internationale Abkommen wie die Genfer | |
Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention | |
[1][verbieten solche Push-backs]. Geflüchtete haben das Recht auf ein | |
Asylverfahren und können erst abgeschoben werden, wenn ihnen keine | |
Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde. | |
Dass Griechenland Push-backs auf dem Wasser und an der Landgrenze zur | |
Türkei durchführt, berichteten internationale Organisationen und Medien | |
immer wieder. Allerdings: „Dass auch Migrant*innen sofort abgeschoben | |
werden, die die griechischen Inseln erreicht haben, ist uns neu“, erklärt | |
Flo Strass von Mare Liberum im Videotelefonat. Strass sitzt währenddessen | |
an Deck des NGO-Boots. Wäre alles normal, würde die siebenköpfige Crew | |
jetzt durch die Ägäis fahren und die Situation auf dem Wasser beobachten. | |
Weil zurzeit aber wenig normal ist, liegt das Boot vor Lesbos. Rausfahren | |
ist wegen der Verkehrsbeschränkungen zum Schutz vor Covid-19 nicht erlaubt. | |
Es scheint, als nutze die griechische Küstenwache aus, dass es dadurch | |
besonders schwierig ist, zu beobachten, was im griechischen und türkischen | |
Mittelmeer vor sich geht. | |
Vom Polizeiboot aufs offene Meer geschleppt | |
Mare Liberum hat einen Bericht darüber veröffentlicht, was am 30. April auf | |
Chios passiert sein soll. Die NGO beruft sich darin auf einen Augenzeugen, | |
Informationen der türkischen Küstenwache und Medien. Auch die Onlinezeitung | |
Astraparis berichtete. Chefredakteur Ioannis Stevis wisse von über zehn | |
Augenzeug*innen und habe sechs befragt. | |
An jenem Donnerstagmorgen sollen die Migrant*innen in der Nähe der Stadt | |
Kallimasia angekommen sein. Mare Liberum spricht von 14 Personen, die | |
Lokalzeitung von 11 bis 14. Die Küstenwache habe die Ankunft schnell | |
entdeckt. Sie sei mit einem Boot und einem Auto vorgefahren und habe die | |
Migrant*innen in ein verlassenes Gebäude gebracht. Ein Mitarbeiter habe | |
außerdem das Schlauchboot beschlagnahmt. | |
Später hätten Augenzeugen gesehen, wie das Boot der griechischen | |
Küstenwache aufs offene Meer hinausfuhr, mit ein oder zwei Schlauchbooten | |
im Schlepptau. „Ich habe keine verlässlichen Informationen, wo die Leute | |
hingegangen sind und wo sie heute sind. Aber ich kann Ihnen sicher sagen, | |
dass sie nicht mehr auf Chios sind“, schreibt Chefredakteur Stevis per | |
E-Mail. | |
Die türkische Küstenwache hat nach eigenen Angaben am nächsten Tag auf der | |
unbewohnten Insel Boğaz, vier Kilometer von Chios entfernt, 14 | |
Migrant*innen gerettet. Zehn aus Somalia, vier aus Syrien, unter ihnen drei | |
Kinder. Fotos und Videos, die die Küstenwache auf ihrer Homepage | |
publizierte, sollen die Rettung zeigen. Die Menschen seien von der | |
griechischen Küstenwache abgeschoben worden, schreibt sie. Mare Liberum | |
geht davon aus, dass es sich um die Geflüchteten handelt, die vorher auf | |
Chios waren – und damit um einen Push-back. | |
Griechische Behörden bestreiten die Vorfälle | |
Wie Astraparis berichtet, bestreiten sowohl die Hafenbehörde und die | |
Polizei von Chios als auch die griechische Küstenwache, dass am 30. April | |
überhaupt Migrant*innen angekommen sind. Auf Anfrage der Onlinezeitung habe | |
die lokale Hafenbehörde geantwortet: Das Schlauchboot sei angespült worden. | |
„Mit all den Gegenständen ist das absolut unglaubwürdig“, davon ist Strass | |
von Mare Liberum überzeugt. | |
Auf Anfrage der taz verwies die Hafenbehörde von Chios an die griechische | |
Küstenwache und die an das Außenministerium, das für ausländische | |
Presseanfragen zuständig sei. Dieses leitete die Anfrage an das Ministerium | |
für Migration und Asyl weiter. Von dort kam bis Redaktionsschluss, trotz | |
mehrmaliger Nachfragen, keine Antwort. Das Außenministerium erklärte | |
daraufhin, dass die Bearbeitungszeit für Presseanfragen mindestens eine | |
Woche bis zu zehn Tage betrage. Offizielle griechische Statistiken | |
verzeichneten für den 30. April keine Ankünfte auf Chios. | |
Mare Liberum und die norwegische NGO Aegaen Boat Report berichten, dass | |
Augenzeug*innen später von der Hafenpolizei aufgefordert worden seien, | |
Posts in sozialen Medien, in denen sie von dem Vorfall berichteten, zu | |
löschen. Chefredakteur Stevis fiel auf, dass ein Bericht auf einer lokalen | |
Webseite plötzlich verschwunden war, genauso wie Kommentare in einer | |
Facebook-Gruppe. | |
Die Vorgänge von Chios haben sich in Griechenland zum innenpolitischen | |
Thema entwickelt. Anfang Mai ging der Syriza-Abgeordnete Andreas | |
Michailidis darauf im Parlament ein. „Die griechische Regierung muss | |
Antworten auf die Berichte liefern. Sonst muss man wohl annehmen, dass sie | |
eine neue Methode gefunden haben, das Flüchtlingsproblem zu lösen: Die | |
Leute einfach verschwinden zu lassen“, sagt Michailidis der taz. | |
Auf aufblasbarer Rettungsinsel im Meer zurückgelassen | |
Der Fall von Chios scheint der am besten dokumentierte von mehreren | |
aktuellen zu sein. Mare Liberum beruft sich auf die norwegische NGO Aegaen | |
Boat Report und Medienberichte und schildern zwei weitere Push-backs, die | |
im März und April von den Inseln Samos und Symi stattgefunden haben sollen. | |
In einem der Fälle sollen Migrant*innen auf einer aufblasbaren | |
Rettungsinsel im Meer zurückgelassen worden sein. | |
Ein Foto der türkischen Küstenwache, das bei diesem Vorfall aufgenommen | |
worden sein soll, zeigt, wie Migrant*innen von einer solchen gerettet | |
werden. „Das ist völlig verrückt, die sind nur Behelfsmittel bei | |
Schiffsunglücken, man kann sie überhaupt nicht steuern“, sagt Aktivist*in | |
Strass. | |
Auch über vermehrte Push-Backs auf dem Wasser wird berichtet: Das | |
Alarmphone, eine NGO, die Notrufe von Migrant*innen in Seenot annimmt, | |
beschreibt einen Anstieg von Notrufen aus der Ägäis seit März. In 18 Fällen | |
hätten Geflüchtete erzählt, von Booten der griechischen Küstenwache auf dem | |
Wasser zurückgedrängt worden zu sein, indem sie Wellen erzeugten, Motoren | |
zerstörten, mit Waffen drohten oder Boote abschleppten. | |
Das Border Violence Monitoring Network spricht von 194 Menschen, die vom | |
griechischen Festland seit Ende März illegal in die Türkei abgeschoben | |
worden seien. „Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer noch viel höher | |
ist und wir von vielen Push-backs gar nicht erfahren“, sagt Strass. | |
Auch UNHCR ist alarmiert | |
Damit bleibt die Situation an den griechischen Grenzen dramatisch, obwohl | |
nur noch wenige Migrant*innen dort ankommen. Und sie scheint immer weiter | |
zu eskalieren. Nach Recherchen von Spiegel und New York Times sind im März | |
zwei Männer erschossen worden, mutmaßlich von griechischen | |
Sicherheitskräften. | |
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex antwortet auf Fragen der tazzu | |
dem Fall von Chios und weiteren Push-backs, dass dazu keine Informationen | |
vorlägen. Jedoch berichtet UNHCR Griechenland, dass sie mehrfach in den | |
vergangenen Monaten auf mutmaßliche Push-backs und übermäßigen Einsatz von | |
Gewalt aufmerksam gemacht worden sei. Das Flüchtlingshilfswerk sammele | |
derzeit Zeug*innenaussagen, könne aber keine genaueren Angaben machen. | |
Währenddessen bleibt die [2][Lage im überfüllten Lager Moria auf Lesbos | |
katastrophal]. Die Gefahr, dass dort Covid-19 ausbricht, ist weiterhin | |
nicht gebannt. Die wenigen Geflüchteten, die in den vergangenen Wochen auf | |
der Insel landeten, kamen in Quarantäne, im April für mehrere Wochen an | |
Stränden. | |
„Dort gab es nicht mal genug Zelte für alle, einige haben unter Booten oder | |
freiem Himmel geschlafen. Toiletten und Duschen gab es nicht“, sagt Strass. | |
Auch das UNHCR spricht von inakzeptablen Zuständen an den Stränden. | |
Mittlerweile werden Neuangekommene in ein Quarantäne-Camp gebracht. Aber | |
auch dort entspräche die Versorgung nicht den üblichen Standards. | |
Vergangene Woche wurden zwei Migranten in dem Camp positiv auf das | |
Coronavirus getestet. | |
Deutschland trägt Mitverantwortung | |
Auch für die Crew von Mare Liberum selbst ist die Situation schwierig: Im | |
März habe eine Gruppe Vermummter ihr Boot mit Benzin übergossen. Sie | |
verließen sofort den Hafen und lägen deshalb in einer Bucht. Andere NGOs | |
haben sich nach Angriffen von mutmaßlich Rechten und dem Ausbruch von | |
Covid-19 ganz aus der Ägäis zurückgezogen. Auch sind kaum noch | |
Journalist*innen vor Ort. Damit fehlen weitere wichtige Beobachter*innen. | |
Ein „europäischer Schild“ sei Griechenland für die EU, sagte | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im März und lobte das Vorgehen | |
der Grenzschützer*innen. Strass resümiert: „An der dramatischen Situation | |
hier ist nicht nur Griechenland schuld. Wenn sich daran etwas verändern | |
soll, dann muss sich die europäische Grenz- und Asylpolitik verändern.“ | |
Auch Deutschland sei in der Verantwortung. | |
20 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Susan Djahangard | |
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