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# taz.de -- Geflüchtete auf Samos: Schnelle Hilfe in schlimmen Zeiten
> NGOs auf Samos fürchten Corona, geschlossene Camps und Pushbacks. Die
> Refugee Law Clinic Berlin startet deshalb jetzt ein neues Online-Projekt.
Bild: Die Zustände rund um den „Hotspot“ auf Samos sind dramatisch
Berlin taz | Schimmliges Essen, lange Schlangen an der Wasserausgabe,
sexuelle Gewalt – die Verhältnisse im massiv überfüllten
[1][Flüchtlingscamp auf Samos sind katastrophal]. Etwa 5.500 Geflüchtete
befinden sich zur Zeit auf der kleinen Insel nahe des türkischen Festlands.
Weil das Sammellager, ein sogenannter „Hotspot“, eigentlich nur für 650
Menschen gedacht war, müssen viele der Geflüchteten auf behelfsmäßige Zelte
im umliegenden Dschungel ausweichen.
[2][Die studentische Refugee Law Clinic Berlin], die ehrenamtliche Beratung
für Geflüchtete in Deutschland anbietet und auf Samos ein
Rechtsinformationsprojekt betreibt, sieht in den katastrophalen Bedingungen
eine Menschenrechtsverletzung. Aus Sorge angesichts der Corona-Pandemie und
der verschärften Flüchtlingspolitik Griechenlands hat die RLC nun ein neues
Online-Projekt gestartet. „I Have Rights“ soll dafür sorgen, dass besonders
schutzbedürftigen Menschen auf Samos schneller und reibungsloser geholfen
wird.
„Die Website dient einem vereinfachten Zugang zur Beantragung von
Anordnungen vorläufigen Rechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte“, sagt Franziska Schmidt, die den Berliner Ableger der
Refugee Law Clinic und die Zweigstelle in Samos mitbegründet hat und das
neue Projekt koordiniert.
Ab sofort sollen Geflüchtete auf [3][www.IHaveRights.eu] Angaben zu ihrer
Situation machen können. Nach einem Gespräch – persönlich oder digital –
bearbeitet dann das Team in Berlin den Fall und stellt einen Antrag am
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sieht der eine drohende
Menschenrechtsverletzung, kann er die griechische Regierung zum Handeln
anweisen, bis es zur Hauptverhandlung kommt.
Den Finger in die Wunde legen
Solche Anträge stellt die RLC auch ohne Online-Tool bereits [4][seit
vergangenem September, mit überraschendem Erfolg]: In 41 von 50 Fällen
veranlasste der EGMR ein Umquartieren der Geflüchteten – in einen
Container, ein Apartment oder sogar auf das Festland.
„Langfristig ist das Ziel, durch diese Entscheidungen und deren Publikation
den Finger so auf die Wunde zu legen, dass irgendwann mal was systemisch
verändert wird und nicht nur für den Einzelfall“, sagt Franziska Schmidt.
Seit einem Monat ist die 27-jährige wieder auf der Insel. Normalerweise
kümmern sich wechselnde Teams aus Freiwilligen vor Ort um
Anhörungsvorbereitungen, Familienzusammenführungen und
Informationsworkshops. Unterstützt werden sie von Übersetzer*innen und
einer griechischen Anwältin.
Im Frühjahr hatten die NGOs auf Samos aber beschlossen, keine weiteren
Volunteers mehr anreisen zu lassen, um die damals Corona-freie Insel nicht
zu gefährden. Ein Grund, warum die Berliner Studierenden-Organisation jetzt
auf Digitalisierung setzt.
Die Idee, „ein Rechtsinformationsangebot digital zur Verfügung zu stellen,
ist nicht neu“, sagt Schmidt. Bisher habe man wegen der sensiblen Daten
aber von einer Digitalisierung abgesehen: „Es ist nicht so wie bei
wenigermiete.de, wo man einfach Bezirk, Miete und Alter des Hauses eingibt
und zack, fertig: Diesen Anspruch hast du.“ Stattdessen komme es immer auf
den Einzelfall an. „Das ist ein Punkt, warum im Human Rights Bereich Legal
Tech noch nicht so fortgeschritten ist“, sagt Schmidt. Und fügt mit einem
bitteren Lächeln hinzu: „Und natürlich weil es kein Geld dafür gibt“.
Boote werden abgefangen und zurückgedrängt
Die Refugee Law Clinic Berlin musste sich selbst eine Zeit lang mit Spenden
über Wasser halten, seit Juli erhält der Verein aber eine Förderung der
Zivilen Seenotrettung und konnte so das neue Projekt in die Wege leiten.
Gerade rechtzeitig, denn die Lage auf Samos ist ernst.
Seit Februar bleiben die Neuankömmlinge hier aus. In der dritten
Augustwoche erreichte dem Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen
UNHCR zufolge nicht ein Geflüchteter die Insel. Vor einem Jahr waren im
gleichen Zeitraum noch 533 Menschen angekommen. Schließlich ist der Sommer
die beste Zeit, um die gefährliche Überfahrt zu wagen. Schmidt und ihre
Mitstreiter*innen befürchten daher, [5][dass ankommende Boote abgefangen
und zurückgedrängt werden]: „Es ist unrealistisch, dass die Zahlen der
Ankommenden gleich null sind. Deswegen kann man ziemlich sicher von
illegalen Pushbacks ausgehen“.
[6][Wie die New York Times berichtete], sollen die griechischen Behörden
mindestens 1.072 Asylsuchende an den Rändern der europäischen Gewässer in
zum Teil überfüllten Rettungsbooten ausgesetzt haben. Die NYT beruft sich
dabei neben den Aussagen von Überlebenden auf unabhängige Beobachter*innen,
Wissenschaftler*innen und die türkische Küstenwache. Aus Athen hingegen
wird dementiert.
Dass Griechenland seit der Wahl der neuen, konservativen Regierung im
vergangene Jahr einen härteren Kurs gegen Migrant*innen fährt, zeigt sich
auch in der [7][fortschreitenden Errichtung geschlossener Camps],
sogenannter „pre removal center“, auch auf Samos. Erst Anfang August
bewilligte die EU-Kommission dafür Zuschüsse in Höhe von 130 Millionen
Euro. Die angespannte Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei sowie
die Corona-Pandemie verschärfen die Situation zusätzlich.
Hilfe erstmal nur für besonders Schutzbedürftige
„Wir wissen nicht, ob nochmal ein Lockdown kommt oder nicht. Es gab ja
schonmal einen, obwohl Samos damals noch überhaupt keinen Fall hatte“,
erzählt Projektkoordinatorin Schmidt. Nachdem auf der Nachbarinsel Chios
vor Kurzem zwei Corona-Infektionen bekannt geworden waren, war das gesamte
Camp unter Lockdown gestellt worden. „Das kann eben auf Samos auch
passieren.“
Die Website [8][www.IHaveRights.eu] soll nun sicherstellen, dass
Geflüchtete auch während eines Camp-Lockdowns Zugang zu juristischer
Information haben. Bisher richtet sich das Angebot nur an Schwangere,
unbegleitete Minderjährige und Schwerkranke – also an die besonders
Schutzbedürftigen, gerade in Zeiten von Corona. Alle anderen müssen bis auf
weiteres vertröstet werden.
„Der nächste Musterantrag, an dem wir arbeiten, ist für LSBTQI Personen
(Lesben, Schwule, Transgender, die Redaktion) im Camp, weil auch diese dort
besonders gefährdet sind“, sagt Franziska Schmidt. „Natürlich sehen wir,
dass jede Person im Camp vulnerabel ist. Aber es ist deutlich schwerer,
einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz für einen gesunden, jungen Mann
zu schreiben, deshalb arbeiten wir uns peu a peu vor“.
Das Projekt soll nicht nur Geflüchtete über ihre Möglichkeiten informieren,
es soll umgekehrt auch die europäische Zivilgesellschaft auf die Zustände
auf Samos hinweisen. [9][Dazu führt die RLC unangenehme Zahlen ins Feld].
Etwa haben 91 Prozent der Geflüchteten, die die Hilfe der RLC in Anspruch
genommen haben, hatten mit Ratten, Schlangen oder Skorpionen in ihren
Unterkünften zu kämpfen. 56 Prozent fühlen sich nicht sicher oder haben
sexuelle Gewalt im Lager erlebt. Und im Durchschnitt warten sie jeweils
etwa zwei Stunden auf Essen und Wasser.
Untragbare Zustände, findet Franziska Schmidt, und hofft, dass NGOs auf
anderen Inseln in das Projekt mit einsteigen und ihr Engagement irgendwann
vielleicht nicht mehr nötig sein wird: „Das ultimative Ziel sollte unsere
Abschaffung sein, weil es nicht sein kann dass wir staatliche Aufgaben
übernehmen.“
24 Aug 2020
## LINKS
[1] /EU-Fluechtlingscamp-auf-Samos/!5633949/
[2] /Initiative-von-Jurastudierenden-in-Berlin/!5215014/
[3] https://ihaverights.eu/
[4] /Gefluechtete-ueber-Camp-in-Samos/!5634252/
[5] /Push-backs-von-Gefluechteten/!5687089/
[6] https://www.nytimes.com/2020/08/14/world/europe/greece-migrants-abandoning-…
[7] /Griechenland-plant-geschlossene-Lager/!5640074/
[8] https://ihaverights.eu/
[9] https://ihaverights.eu/cases/
## AUTOREN
Maxie Römhild
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