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# taz.de -- Flüchtlingscamps in Griechenland: Im Bau und doch umstritten
> Die Arbeiten an neuen, abgeriegelten Unterkünften auf den griechischen
> Inseln schreiten voran. Wie finden das die Inselbewohner*innen?
Bild: Auf der Insel gefangen: Geflüchteter auf Samos
Samos taz | Noch ist das neue Flüchtlingslager eine große Baustelle: Lkws
fahren rein und raus, Bagger ebnen die Erde. Am Rande des Lagers ist ein
kleiner Kinderspielplatz fertig: Vier Schaukeln, zwei Wippen, eine kleine
Rutsche. Und auch Dutzende Wohncontainer stehen schon. Hier entsteht das
neue EU-finanzierte Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos.
Der Ort ist von der Inselhauptstadt Vathy etwa sechs Kilometer entfernt.
Eine Viertelstunde Fahrt mit dem Auto. Hinter doppeltem Nato-Stacheldraht
sollen 3.000 Geflüchtete Platz haben – mitten in den Bergen, weit weg von
bewohnten Gegenden.
Das neue Lager soll im Sommer fertig sein und [1][das überfüllte Zeltlager]
von Vathy ersetzen. Ähnliche Lager will die konservative griechische
Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis mit EU-Mitteln auch auf den
Inseln Lesbos, Chios, Leros und Kos bauen – geschlossen, mit
Einlasskontrollen und doppelter Umzäunung. Auch auf Leros und Kos haben die
Arbeiten zum Bau neuer Camps begonnen. Nur [2][Lesbos] und Chios hinken
noch hinterher; da waren die Proteste der Bewohner*innen und
Bürgermeister gegen die Pläne am stärksten.
[3][Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis hat die Insel am
Dienstag zusammen mit Beate Gminder besucht], der stellvertretenden
EU-Generalsekretärin für Migration und Inneres (DG Home). Sie wollten dort
auch mit Lokalpolitiker*innen sprechen.
Mitarakis, selbst aus Chios stammend, versucht das Vorhaben umzusetzen,
ohne dass sich die Insulaner*innen komplett von ihm abwenden. „Die
Menschen sind misstrauisch“, hatte er in einem Interview gesagt. Das könne
er verstehen: „Sie haben all die Jahre die Last des europäischen
Flüchtlingsproblems geschultert.“
## Geschäft mit Touristen läuft schlecht
Und sie tun es weiterhin. Auch auf Samos. 6.500 Einwohner hat die
Inselhauptstadt Vathy, 33.000 Einwohner*innen die gesamte Insel. Hinzu
kommen die zurzeit 3.200 Geflüchteten und Migrant*innen, die unter
katastrophalen Bedingungen im Zeltlager von Vathy leben – das eigentlich
für weniger als 650 Personen Platz hat.
Dimitris Kasmirlis, Inhaber eines Reisebüros in Vathy, fühlt sich von Athen
verraten und von der EU im Stich gelassen. Schließlich lebe die Insel vom
Tourismus, sagt er. „Und Flüchtlinge und Tourismus passen einfach nicht
zusammen. Ich bin mir sicher, dass sogar Personen, die sich Flüchtlingen
gegenüber solidarisch zeigen (er sagt „Solidarians“), einen anderen
Urlaubsort auswählen – nicht Samos.“ Die „Favela am Rande der
Inselhauptstadt“, wie er das aktuelle Zeltlager in Vathy nennt, müsse
schließen – das stehe außer Frage, sagt der 51-Jährige.
Von der EU habe man sich aber etwas anderes gewünscht als nur für den Bau
neuer Lager. „Das ist keine echte europäische Solidarität. Was das wäre? Es
kommt ein Flüchtlingsboot auf Samos an. Sofort werden die Menschen auf
andere EU-Staaten verteilt. Das wäre echte europäische Solidarität.“
Trotzdem hat der Bürgermeister der Inselhauptstadt, Giorgos Stantzos, dem
Bauvorhaben zugestimmt – auch wenn er sich eine kleinere Kapazität von
1.500 statt der jetzt geplanten 3.000 Campbewohner*innen gewünscht
hätte, sagt er. Ein klarer Kompromiss: „Die Inselbewohner wollen keine
Lager mehr auf Samos. Ich als Bürgermeister auch nicht. Wir mussten aber
eine mutige Entscheidung treffen und haben deshalb als Stadt grünes Licht
für den Bau des neuen Lagers gegeben.“ Bis 2010 war Giorgos Stantzos
Mitglied der sozialistischen Pasok; jetzt ist der Lokalpolitiker
unabhängig.
## Angst vor Erdoğan
Dass das neue Lager auswärts liegen soll, findet der Bürgermeister gut.
„Die Flüchtlinge und Migranten werden dort Einkaufsmöglichkeiten haben,
ausreichende ärztliche Versorgung; einfach alles, was sie brauchen. Sie
werden somit nicht mehr unsere Infrastruktur belasten, etwa unser
Krankenhaus oder das Abfallmanagement.“ Gerade für eine kleine Urlaubsinsel
sei das sehr wichtig.
Während auf der Insel tätige Hilfsorganisationen wie etwa die Ärzte ohne
Grenzen den Bau des abgeschotteten neuen Lagers scharf kritisieren und
stattdessen Integrationsmaßnahmen fordern, glaubt Stantzos nicht, dass die
Integration der überwiegend muslimischen Flüchtlinge auf Samos Erfolg haben
könnte. Seine Bedenken sind vor allem geopolitischer Natur. „Dass die
Türkei so nah liegt, spielt eine sehr große Rolle. Wir haben es im März
2020 gesehen: Erdoğan kann jederzeit die Lage destabilisieren und
Flüchtlinge instrumentalisieren.“
Damals hatte [4][die Türkei die Grenzen für Flüchtlinge aufgemacht] und sie
ermutigt, nach Griechenland zu gelangen, obwohl das Land sich mit dem
[5][EU-Türkei-Abkommen von 2016] dazu verpflichtet hatte, die Grenzen
besser zu schützen. Griechenland hatte mit extremem Grenzschutz durch
Militär und Polizei reagiert – unterstützt von Frontex.
Flüchtlinge als eine Art Trojanisches Pferd für die Machtspiele des
türkischen Präsidenten? Das klingt übertrieben. Stantzos kontert: „Aus der
sicheren Entfernung Zentraleuropas ist es leicht, solche Schlüsse zu
ziehen. Wir aber sind am Rande Europas, an vorderster Front und wissen, wie
gefährlich Erdoğan sein kann.“
23 Mar 2021
## LINKS
[1] /Fluechtlingslager-auf-griechischen-Inseln/!5733861
[2] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5747334
[3] https://twitter.com/nmitarakis/status/1374312889327235076
[4] /Tuerkei-geht-ueber-alle-Grenzen/!5667983
[5] /5-Jahre-EU-Tuerkei-Abkommen/!5754907
## AUTOREN
Rodothea Seralidou
## TAGS
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