# taz.de -- Projekt für geflüchtete Menschen: Ein zweites Leben in Regensburg | |
> Mit Spenden renovierte der Verein Second Life ein Haus in Regensburg, um | |
> Geflüchteten ein Zuhause zu schaffen. Im März zogen die Ersten ein. | |
Bild: Karim und seine Familie haben endlich ein richtiges Zuhause | |
Regensburg taz | Ein graues Haus am Regensburger Stadtrand, fast schon | |
auffällig unscheinbare 60er-Jahre-Architektur. Anfang Februar stand es noch | |
leer. Entmietet, damit das stadteigene Unternehmen Stadtbau es | |
sozialverträglich sanieren könne. „Dann gab es genehmigungsrechtliche | |
Probleme“, sagt Michael Buschheuer am Telefon. „Und das war unser großes | |
Glück.“ | |
Buschheuer ist Vorsitzender und Gründer der Vereine Sea Eye und Space Eye, | |
die sich um Seenotrettung und Geflüchtetenhilfe kümmern. Es ist dem Einsatz | |
von Space Eye zu verdanken, dass 22 Menschen, Familien aus Syrien und | |
Afghanistan, aus den griechischen Elendslagern in die Regensburger | |
Vitusstraße ziehen konnten. Ein Netzwerk aus rund 100 | |
Regensburger*innen hat das auf seinen Abriss wartende Haus auf | |
Vordermann gebracht. | |
Ruth Aigner ist eine von ihnen. Sie führt durch das Haus. Buschheuer sagt, | |
Aigner sei die entscheidende Person gewesen, die den Impuls für das Projekt | |
Second Life gab. Aigner selbst spricht lieber im Plural: „[1][Als Seehofer | |
groß angekündigt hat, Deutschland werde 50 Kinder aufnehmen], mussten wir | |
schmunzeln: 50 schafft eine Stadt allein.“ Das ist das Versprechen, das | |
Space Eye abgegeben hat. Von Anfang an habe man in der Sache ausschließlich | |
Unterstützung erfahren, von der Regensburger Zivilgesellschaft und von | |
allen Stadtratsparteien mit Ausnahme der AfD. | |
„In der Anfangsphase dachten einige, das scheitert doch eh“, erinnert sich | |
Aigner. Aber warum sollte es? Hier ist der Platz, dort leben die Menschen | |
im Dreck. Es könnte doch so einfach sein. Der Verein macht sich auf die | |
Suche nach Wohnraum. WGs, die ein Zimmer übrig haben, kleine Apartments | |
sind leicht zu finden. Aber wenig, wo eine ganze Familie unterkommen | |
könnte. | |
## Renovierung „von der Socke bis zum Löffel“ | |
In dieser Phase kommt Space Eye das Netzwerk zugute. Auch der neue Chef der | |
Stadtbau, Götz Keßler, findet Second Life unterstützenswert – und hat eine | |
Immobilie, die wahrscheinlich noch ein bis zwei Jahre leer stehen würde. | |
Im Oktober bekommt der Verein die Zusage für die Vitusstraße. Das Haus ist | |
zu diesem Zeitpunkt nicht in einem bezugsfertigen Zustand. „Das Einzige, | |
was gut funktioniert hat, war die Heizung“, sagt Aigner, „aber das ist ja | |
schon mal viel wert.“ Das Haus muss ehrenamtlich renoviert werden: | |
Streichen, neue Böden, neue Wasserleitungen, dann Küchen und Möbel | |
organisieren und acht Wohnungen einrichten: „Von der Socke bis zum Löffel“, | |
wie Buschheuer sagt. | |
Parallel wendet sich die Stadt an das Bundesinnenministerium, um die | |
Bereitschaft zu signalisieren. Noch ist gar nicht klar, ob die Bürokratie | |
zulässt, dass hier tatsächlich Menschen einziehen. | |
Man kann sich die Haushalte vorstellen, aus denen die Möbel kommen. Ein | |
Sofa aus enzianblauem Leder, der massive Couchtisch aus dunklem Holz: Nach | |
all den Jahren hat sich in Regensburg irgendjemand gesagt: Weg mit dem | |
ollen Zeug. Anstatt die Möbel zum Wertstoffhof zu fahren, hat man sie in | |
die Vitusstraße gebracht. | |
## Die Deko fehlt noch | |
Gerade flirrte noch Musik durch die Räume. Jetzt sitzt Karim (Name | |
geändert) auf dem zur Couch passenden, ebenso blauen Sessel. Im Hochsitz | |
gegenüber: seine fröhlich strampelnde, acht Monate alte Tochter. Vor einer | |
Woche ist die Familie hier angekommen. Die Wohnung ist mit den Resten | |
anderer Leute eingerichtet, halbwegs spärlich, noch nicht dekoriert – und | |
es ist der Familie anzusehen, wie glücklich sie sind, hier sein zu dürfen. | |
„Es ist genau das, was wir gebraucht haben“, sagt er und strahlt. | |
Der 30-Jährige will gerne erzählen, doch sein Englisch ist bruchstückhaft. | |
Ruth Aigner ruft schnell einen Bekannten in Berlin an, ebenfalls ein Syrer. | |
Mit dem Dolmetscher funktioniert es halbwegs, die Geschichte von Karim und | |
seiner Familie zusammenzusetzen. | |
Karim stammt aus Deir al-Sor, einer Stadt im Osten des Landes. Drei Jahre | |
lang hat er Tiermedizin studiert, bis [2][der Krieg] losging. Um sich der | |
Einberufung in Assads Armee zu entziehen, flieht er aufs Land. Deir al-Sor | |
ist ab 2014 unter der Kontrolle des IS, der vom Irak her ins Land | |
einfällt. Terrormilizen, Regierungstruppen und die Freie Syrische Armee | |
treffen hier aufeinander, eine Bombe trifft Karims Fakultät. | |
„Wir haben gesehen, wie unsere Heimat vor unseren Augen zerstört wurde, wie | |
Menschen vor unseren Augen getötet wurden“, erzählt er. Es werde lange | |
dauern, bis Syrien wieder zu einer Normalität zurückkehren könne. | |
Mindestens 40 Jahre, glaubt er. | |
## Ein pragmatischer Ansatz | |
Als die Familie Syrien verlässt, ist Karims erste Tochter wenige Monate | |
alt. Er habe sein Land verlassen müssen, um sie an einen sicheren Ort zu | |
bringen. Die Familie kommt zuerst nach Moria. Im Lager teilen sie das Zelt | |
mit vier weiteren Familien. Die Zustände dort seien chaotisch, sagt er, | |
ständig geraten Menschen aneinander. Essen für ein Kleinkind gebe es nicht. | |
„Niemand von uns hätte gedacht, dass Griechenland so schlimm sein würde.“ | |
Nach zwei Monaten wird die Familie aufs Festland verlegt. Das zweite Camp, | |
Malakasa, nahe Athen, sei „slightly better“ gewesen. Sie haben einen | |
privaten Raum für sich, ein Zimmer in einem Container, wenn auch nur 12 m² | |
groß, immerhin. Hier sollen sie ausharren. Karim will weiter, nach | |
Deutschland. Er versteht nicht, warum die griechischen Behörden das | |
verhindern, warum sie ihm sagen, sie müssten bleiben, obwohl ihre Lager | |
offensichtlich überfüllt sind. | |
Durch die Verlegung ist die Familie auch dem Feuer entgangen, das im | |
September 2020 in Moria wütet. Sie erfahren über die sozialen Medien davon. | |
Space Eye in Regensburg ruft die Menschen sofort zum Spenden auf. Geld, ja, | |
aber auch: Hilfsgüter aller Art, vom Schlafsack bis zu Hygieneartikeln. Der | |
Transport von Dingen, die gebraucht werden, gehört zu den wichtigsten | |
Instrumenten der NGO. Es ist der pragmatischste denkbare Ansatz: Kofferraum | |
voll und da hinfahren. Wobei Kofferräume längst nicht mehr ausreichen, an | |
die 400 Tonnen Güter seien von Space Eye inzwischen transportiert worden. | |
Der pragmatische Ansatz charakterisiert Space Eye und Sea Eye von Anfang | |
an. Als Buschheuer 2015 von ertrinkenden Menschen im Mittelmeer liest, kann | |
er es nicht glauben. Es passt nicht in sein Weltbild. Er hat Maler und | |
Lackierer gelernt und führt ein Unternehmen für Korrosionsschutz, | |
solidester Oberpfälzer Mittelstand. Ein Migrationsexperte sei er nicht | |
gewesen, nur ein Handwerker. Und: ein Segler. Buschheuer besitzt ein | |
kleines, wie er sagt, „gammliges“ Boot. „Ich musste mir eingestehen“, s… | |
er, „dass ich in der Lage wäre, etwas zu tun. Dass ich keinen Deut besser | |
wäre, wenn ich jetzt nichts tue.“ | |
## Zermürbendes Warten | |
Während Buschheuer bereits in dem kleinen Segelboot sitzt und die | |
italienische Adria gen Süden fährt, laufen in Deutschland die | |
bürokratischen Prozesse der Vereinsgründung. Und Buschheuer ist im | |
Nachhinein froh, sagt er, dass sich in dem Verein Menschen engagiert | |
hätten, die weitaus erfahrener seien als er. „Die haben gesagt: Das wird | |
ein Desaster. Entweder haben wir ein Schiff oder das wird nix. Also habe | |
ich ein Schiff besorgt.“ Der Verein läuft in dieser Zeit auf seine Kosten. | |
„Die Werft konnten wir noch bezahlen, zum Tanken hat’s nicht mehr | |
gereicht.“ | |
Inzwischen hat die NGO nach eigenen Angaben mit diversen Schiffen über | |
12.000 Menschen aus Seenot gerettet. „Was wir anpacken“, sagt Buschheuer, | |
„wird durchgezogen. Wenn wir sagen, wir schicken ein Schiff zur See, dann | |
fährt das Schiff.“ Menschen, die so reden, können den Eindruck erwecken, | |
ein bisschen zu überzeugt zu sein von der eigenen Kraft. Er will das | |
Gegenteil: glaubhaft machen, dass es nicht um ihn geht, sondern um die | |
Menschen an Europas Grenzen. Er ist überzeugt: Die breite Masse will | |
einfach helfen. | |
Als Buschheuer das Haus in der Vitusstraße das erste Mal betrat, wusste er: | |
Das ist nahezu perfekt. Gerade auch weil es nicht im Villenviertel steht | |
und keine Stuckdecken aufweist. „Niemand muss hier gleich wie ein Kaiser | |
leben“, sagt er. Das sei wichtig für die gesellschaftliche Akzeptanz. | |
Hürden habe er ab dem Moment keine mehr gesehen – nur das monatelange | |
Warten auf die Menschen sei zermürbend gewesen. „Und man weiß genau, | |
irgendwo bei Athen lebt eine Familie im Dreck wie die Ratten. Und hier gibt | |
es eine Wohnung und Menschen, die auf sie warten.“ | |
Die Zusage kommt letztlich aus dem Büro der Bürgermeisterin Gertrud | |
Maltz-Schwarzfischer (SPD). Dann dauert es noch einmal Wochen und Monate, | |
bis die ersten Geflüchteten tatsächlich in Frankfurt landen. „Hinter die | |
Kulissen können wir nicht gucken“, sagt Buschheuer. „Wir bekommen eine | |
Ansage, und drei Tage später sind die Menschen hier.“ | |
Die Ersten erreichen Regensburg am 1. März, Karim und seine Familie kommen | |
am 11. März. Karim habe die Hoffnung, in Deutschland sein Studium | |
fortsetzen zu können. Wenn er die Sprache gut genug beherrsche. Wenn nicht, | |
sei er ja noch jung: „Mache ich eine Ausbildung“. Ausbildung, das Wort sagt | |
er auf Deutsch. | |
Im Haus in der Vitusstraße ist noch Platz. Kurzer Blick in die oberste | |
Wohnung: Die Farbeimer stehen schon bereit, es muss noch gestrichen | |
werden. „Wir lassen jetzt die 22 ihre ersten Schritte machen“, sagt Michael | |
Buschheuer. „Dann schauen wir weiter. Das Versprechen der 50 gilt. Uns ist | |
vor den nächsten 28 nicht bange.“ | |
9 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Thamm | |
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