# taz.de -- Besetzung in Bayern vor 40 Jahren: Häuserkampf auf Allgäuerisch | |
> Vor 40 Jahren stiegen in Memmingen ein paar Jugendliche in ein | |
> leerstehendes Haus ein. Es wurde Bayerns einzige erfolgreiche | |
> Hausbesetzung. | |
Bild: Die Besetzer 40 Jahre nach dem Häuserkampf in Memmingen | |
MEMMINGEN taz | Da sitzen sie nun also, die Rädelsführer von damals. Der | |
Utz und der Micha. Sie haben sich an den Holztisch in der Wohnküche von | |
Michas kleinem Hof in Woringen gesetzt, einem Dorf vor den Toren von | |
Memmingen. Die Metapher passt, denn in Memmingen sind die Stadttore | |
tatsächlich noch stadtbildprägend. Micha hat gerade noch die Pferde raus | |
aufs Paddock gebracht, Kaffee und Süßes aufgetischt, Utz packt den Tabak | |
auf den Tisch, dann geht es los mit der Zeitreise in die Achtziger. Utz und | |
Micha schwelgen in Erinnerungen an ihre Hausbesetzerzeit. | |
Es ist Sonntag, der 11. April. Vor genau 53 Jahren feuerte Josef Bachmann | |
auf dem Ku’damm in Berlin drei Schüsse auf Rudi Dutschke ab. Das gehört | |
jetzt natürlich überhaupt nicht hierher, es geht ja um einen ganz anderen | |
Jahrestag – wobei: Der Dutschke, der war natürlich schon auch prägend, und | |
Utz Benkel, so heißt der Utz mit vollem Namen, erinnert sich noch genau, | |
wie er als Teenager mit seinem Spezl und einem Kassettenrekorder nach | |
Aarhus getrampt ist, aufs Geratewohl, um Dutschke für die Schülerzeitung zu | |
interviewen. | |
Dutschke war zwar nicht da, doch sie durften bis zu seiner Rückkehr ein | |
paar Tage in seinem Haus warten. Dann schließlich kam er und gab ihnen das | |
Interview; sie verstanden kein Wort, aber natürlich erschien es in der | |
nächsten Ausgabe der Schülerzeitung. Mitte der siebziger Jahre war das. | |
Eine schöne Geschichte, aber wie gesagt, der Dutschke gehört eigentlich gar | |
nicht hierher, es geht ja um diesen anderen Jahrestag, für den [1][Utz | |
Benkel] extra aus Vorpommern an seine alte Wirkungsstätte Memmingen | |
gekommen ist. 40 Jahre ist es am 15. April her, dass in Memmingen die erste | |
Hausbesetzung im Allgäu stattgefunden hat. Wohlgemerkt: die bisher einzige | |
erfolgreiche Hausbesetzung Bayerns. | |
## „Verschtehscht?“ | |
Ein historisches Ereignis von einer solchen Wucht, dass es Suchmaschinen | |
gibt, die bei der Suche nach „Hausbesetzung Memmingen“ als ersten Treffer | |
eine recht service-orientierte Website auswerfen: „Jetzt Zwangsräumung in | |
Memmingen live berechnen und direkt zum Festpreis buchen.“ Woran man im | |
Allgäu halt so bei „Hausbesetzung“ denkt. | |
„Wir mussten die Brötchen backen, die auf Memmingen passen, verschtehscht?“ | |
erklärt Micha alias Michael Paraszcuk, Jahrgang 1953 – Typ Allgäuer | |
Catweazle, aber einer, der zupackt. Die Hände sind ölverschmiert, er trägt | |
einen Ring im linken Ohr und ein gelbes T-Shirt mit einem aufgedruckten Bud | |
Spencer, dessen Faust dem Betrachter ins Gesicht fliegt. „Verschtehscht?“ | |
Mit der Frage beendet Micha die meisten seiner Sätze. Wahlweise auch mit | |
„gell?“. Manchmal verbindet er sogar beide Vokabeln miteinander. | |
Micha stammt aus Franken, hatte bereits eine bewegte Kindheit und Jugend | |
hinter sich, als er nach Memmingen kam: Schulschwänzer, Ausreißer, | |
Heimkind, abgebrochene Lehre, Rocker. Aus dem Heim haben sie ihn mit dem | |
Kürzel „UVB“ entlassen, „unverbesserlich“. | |
Schließlich landete er in der linken Szene, in Erlangen hat er eine | |
Zeitlang bei [2][Elmar Altvater] gewohnt. Der hat ihm das „Kapital“ zum | |
Lesen gegeben. Micha legte heimlich ein Micky-Maus-Heftchen hinein. | |
## Ein Pflasterstein, der nicht flog | |
Utz und er, sagt Micha, seien „Mama und Papa des Ganzen“ gewesen, in jedem | |
Fall die treibenden Kräfte der Hausbesetzung. Auf der einen Seite der mehr | |
intellektuelle Zivi Utz, gelernter Schriftsetzer, der auch die Redaktion | |
der Memminger Stadtinfo machte und dem örtlichen Anti-Strauß-Komitee | |
angehörte, auf der anderen Seite Micha, ohne den „wir nie zur Tat | |
geschritten wären“, wie Utz zugibt. | |
Kennengelernt haben die beiden sich im [3][„Mohren“], einer Szenekneipe, wo | |
sich „die Hippies, die Kommunisten und alle, die anders waren“, getroffen | |
haben. Hier hörte man Janis Joplin und Jimi Hendrix, hier war die | |
Generation Woodstock noch am Leben, als draußen schon die Neue Deutsche | |
Welle wogte. | |
Der Häuserkampf war das Verbindende zwischen Micha und Utz, da müsste man | |
doch mal was unternehmen, waren sich die beiden schnell einig. | |
15. April 1981 also, ein Mittwoch. Da sind sie in das alte Mesnerhaus am | |
Martin-Luther-Platz eingestiegen. Mitten im Zentrum von Memmingen. Der | |
Marktplatz ist nur einen Steinwurf entfernt. Wobei natürlich kein einziger | |
Stein flog. Im Gegenteil: Am Ende haben sie dem Oberbürgermeister, der dort | |
unten residierte, als Andenken einen bunt bemalten Pflasterstein | |
überreicht. | |
## Der Traum der Besetzer | |
Die Revoluzzer aus Memmingen waren aber auch wirklich brav. Die zweiwöchige | |
Hausbesetzung haben sie sogar absichtlich in die Osterferien gelegt, damit | |
die Schüler unter ihnen auch ja keinen Unterricht verpassten. Als hätten | |
sie geahnt, dass die Vokabel „Schulschwänzer“ mit das erste sein würde, w… | |
knapp 40 Jahre später so manchem Klimastreikposten entgegen geschleudert | |
würde. | |
Es war halt noch eine andere Zeit damals, und in Memmingen sowieso. Anders | |
in jeder Hinsicht. Es war auch die Zeit, als man Utz Benkel wegen eines | |
kirchenkritischen Artikels in der Stadtinfo vors Gericht zerrte. „Treten | |
wir aus der Kirche aus und kämpfen wir gegen diesen gefährlichen | |
Hokuspokus“, hatte er geschrieben – und der Richter ihn im Prozess gefragt: | |
„Es gibt doch atheistische Staaten, warum gehen Sie nicht dahin?“ | |
Es wird so vier oder fünf Uhr in der Früh gewesen sein, als die Besetzer | |
kamen. Kurz darauf hing dann das Transparent aus den oberen Fenstern. Ein | |
Bettlaken war es. „Dieses Haus ist besetzt!“ hat der Utz in roter Schrift | |
darauf geschrieben. „1. demonstrative Hausbesetzung in Memmingen!! Für 2 | |
Wochen“. Das Transparent hat er aufgehoben. Jetzt, 40 Jahre später, hat er | |
es noch einmal mit nach Memmingen gebracht. | |
„Demonstrativ“, das war ein Schlüsselwort. Denn die 20 bis 30 Besetzer | |
wollten zwar schon auf die Wohnungsmisere in Memmingen aufmerksam machen, | |
aber es ging ihnen nicht in erster Linie um Wohnraum für sich selbst. Sie | |
hatten vielmehr ein anderes konkretes Ziel: Sie wollten ein Haus für ein | |
Projekt, das die drei Säulen Wohnen, Arbeiten und Freizeit unter einem Dach | |
verwirklichen sollte. Selbstverwaltet, mit Kneipe, Werkstätten, | |
Ausstellungsräumen und so was. Mehr ein Traum als ein Konzept. | |
## Unglaubliche Geschehnisse | |
Doch die Stadt wollte ihnen keines ihrer leerstehenden Häuser vermieten; | |
die jungen Leute hatten den Eindruck, man wolle sie am ausgestreckten Arm | |
verhungern lassen. „Wir hatten ja eine Liste mit allen leerstehenden | |
Häusern. Aber überall haben sie uns abblitzen lassen“, erzählt Utz Benkel. | |
„Da haben wir uns gesagt: Wir müssen jetzt ein bisschen Druck machen.“ Für | |
den Druck wählten sie das alte Mesnerhaus. | |
Ein Hausmeister der evangelischen Pfarrgemeinde war einer der ersten Zeugen | |
des Häuserkampfs, informierte sofort den Dekan, Hans Braun. Schließlich | |
gehörte das leerstehende Gebäude der Kirche. Der Kirchenvorstand kam | |
umgehend zusammen, beriet, was zu tun sei. | |
Unten am Rathaus kam indes gerade Oberbürgermeister Ivo Holzinger von einer | |
Dienstreise aus München zurück, wurde informiert, was sich da in der Nacht | |
für unglaubliche Dinge mitten in seinem beschaulichen Memmingen zugetragen | |
hatten. | |
Im Rückblick sieht er die Sache sehr gelassen. Es sei doch schön, dass | |
Memmingen in so vieler Hinsicht einer Großstadt gleiche. Neben einem | |
eigenen Landestheater gehöre da eben auch dazu, dass man mal eine | |
Hausbesetzung gehabt habe. | |
Von der Martinskirche hört man das sonntägliche Glockengeläut. Holzinger | |
ist zum Treffpunkt am Brunnen vor dem Rathaus gekommen. Ein freundlicher, | |
älterer Herr mit Krawatte. Und ein Rekordhalter. [4][36 Jahre lang war er | |
Oberbürgermeister] – solange wie keiner sonst in Deutschland. | |
## Die Besetzer lagen in der Sonne | |
Damals natürlich war Holzinger weniger erfreut, dachte nicht an das | |
großstädtische Flair, das eine Hausbesetzung mit sich brachte. Eher schon | |
an die möglichen Schlagzeilen, wenn die Sache eskaliert. Der OB war damals | |
33 Jahre alt, gerade mal ein paar Monate im Amt. Altersmäßig stand der | |
Sozialdemokrat den Hausbesetzern weit näher als dem durchschnittlichen | |
bayerischen Stadtoberhaupt. Und in manch anderer Hinsicht vielleicht auch. | |
Begeistert erzählt er von seinem Jahr in Tübingen, 1968 hat er dort | |
studiert. „Da war der Teufel los, das war toll. Den Bloch habe ich da | |
gehört. Im vollbesetzten Audimax, 1.200 Leute waren da drin.“ 1972 dann ist | |
Holzinger wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten. | |
„Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass es zu einer Zwangsräumung | |
kommt“, erzählt er. Er habe sich sofort mit dem Dekan in Verbindung | |
gesetzt, war froh, dass auch dieser keinen Strafantrag stellen wollte. Mit | |
nur einer Stimme Mehrheit entschied der Kirchenvorstand, die Hausbesetzer | |
in Ruhe zu lassen – abzuwarten, bis sie wieder abzögen. | |
Es war eine schöne, friedliche Zeit rund um das besetzte Haus. Die Besetzer | |
boten ein volles Programm: Handwerkermarkt, Müsliverkauf, Bardenfest und | |
natürlich Diskussionen ohne Ende. Auch die taz berichtete. Dachzeile des | |
Artikels: „Glückliches Allgäu“. Äußerlich erinnere zwischen der gotisch… | |
Pfarrkirche und dem mittelalterlichen Antoniterkloster bis auf das | |
Transparent am Martin-Luther-Platz 15 nichts an Aktionen wie in Freiburg | |
oder Göttingen: „Polizei ist nicht anzutreffen. Die Tür des Mesnerhauses | |
steht weit offen, im Garten haben sich die Besetzer auf Decken in der Sonne | |
niedergelassen. Sie gehen die durchweg wohlwollenden Artikel in der | |
Lokalpresse durch, lesen Dürrenmatt und Ödön von Horváth.“ | |
Während es einer Handvoll Besetzer um Utz und Micha wirklich ernst war – | |
„Ich fühlte mich schon ein bisschen wie im Kriegszustand“, erzählt Utz – | |
machten die meisten anderen wohl eher zur Gaudi mit. Einfach mal zwei | |
Wochen Woodstock-Feeling, was will man mehr? „Danach sind die doch wieder | |
zurück zu ihrer Lehrstelle in der Bank gegangen“, schimpft Micha. | |
## Erfolgreich, und doch glorios gescheitert | |
Dass es überhaupt zwei Wochen wurden, hat natürlich mit dem Wohlwollen der | |
evangelischen Kirche zu tun. „Da sind junge Menschen, die haben Wünsche; | |
Wünsche und Vorstellungen, die sicher nicht verwerflich sind, die zum Teil | |
notwendig, zum Teil für uns ungewohnt sind“, schrieb Dekan Braun, damals in | |
einer Kirchenzeitung. „Da kommt eine ganz neue Kultur, eine ganz neue | |
Lebensweise auf uns zu. Da sind Menschen, die es einmal anders versuchen | |
wollen. Und sie wollen nun durch einen Akt, der beachtet wird, ihr Anliegen | |
deutlich machen.“ Und schließlich: „Das scheint nur dadurch zu gehen, dass | |
man sich außerhalb der Legalität stellt, denn alles andere hört | |
der,Normalbürger' von heute kaum noch.“ | |
Wer solche Feinde hat, braucht freilich keine Freunde mehr. Und so wurde | |
die Aktion schließlich die einzige erfolgreiche Hausbesetzung in der | |
Geschichte des Freistaats. | |
Gut, das mit dem Erfolg ist natürlich relativ. Als erfolgreich bezeichnen | |
die Besetzer von damals ihre Aktion, weil sie zwei Wochen durchhielten. Und | |
das bei einer CSU-Regierung, deren Devise bis heute lautet: Keine | |
Hausbesetzung in Bayern darf länger als 24 Stunden dauern. In München, hieß | |
es damals, hätten sie schon eine Hundertschaft zusammengezogen, mit der sie | |
die Besetzer aus dem Haus geknüppelt hätten, sobald ein Strafantrag | |
gestellt worden wäre. | |
Wenn man freilich als Maßstab für den Erfolg das Erreichen des eigenen | |
Ziels nimmt, sind Micha, Utz und die anderen glorios gescheitert. Das | |
gewünschte Haus bekamen die jungen Leute nicht. Ihre Pläne seien doch viel | |
zu unkonkret, befand der Oberbürgermeister, und sein Handlungsspielraum | |
viel zu klein. Stattdessen sichtete die Stadt eilends ihren | |
Immobilienbestand und machte sich daran, die leerstehenden Häuser wieder zu | |
nutzen – oder abzureißen, um keine weiteren Besetzungen zu riskieren. Auch | |
die evangelische Kirche ließ das alte Mesnerhaus schnell sanieren. | |
## Beste Lage | |
„Was macht ihr da mit unserem Haus?“ fragt Christoph Schieder und lacht. | |
Vor dem alten Mesnerhaus stehen zwei ältere Herren und falten ein Bettlaken | |
auseinander. Es sind Utz und Micha, die noch einmal mit dem Transparent von | |
damals zum Tatort gezogen sind. Schieder ist inzwischen hier Dekan, ein | |
Nachfolger von Hans Braun. Er ist erst vor ein paar Jahren nach Memmingen | |
gezogen. Sie erzählen ihm, wie das damals war, wo sie die Räuberleiter | |
gemacht, ins Haus eingestiegen sind. Die Tür von damals ist nicht mehr da, | |
die Fenster sind anders. | |
Und in dem Moment kommen auch noch die Mieter des Hauses. Eine ideale | |
Wohnung sei es, schwärmen sie, beste Lage. Aber abgesehen davon sei das | |
Thema heute aktueller denn je: In Memmingen stünden jede Menge Häuser leer. | |
Und dann lassen sie die beiden Altrevolutionäre noch einmal ins Haus. Ein | |
paar Minuten später hängt ein Transparent aus den Dachfenstern: „Dieses | |
Haus ist besetzt …“ Verschtehscht? | |
15 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://utz-benkel.de/utz-benkel | |
[2] /Zum-Tode-von-Elmar-Altvater/!5502641 | |
[3] https://utz-benkel.de/mohr-of-memmingen | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ivo_Holzinger | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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