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# taz.de -- 5 Jahre EU-Türkei-Abkommen: Ein Deal mit vielen Kratzern
> 6 Milliarden Euro flossen von der EU an die Türkei, damit Geflüchtete
> nicht über die Grenzen kommen. Beide Seiten sehen Defizite bei der
> Umsetzung.
Bild: Kinder aus Syrien in Ankara. Damit sie da bleiben, fließen aus der EU Mi…
Istanbul taz | Die zwölfjährige Seyma Elcellud ist glücklich. Sie kann
wieder zur Schule gehen. Gegenüber der Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi
sagt sie, dass vor wenigen Tagen ihr Traum wahr geworden sei. Das syrische
Mädchen lebt als Geflüchtete im Südosten der Türkei. Vor sieben Jahren
wurde sie bei einem Bombenangriff auf das Haus ihrer Eltern in Deir ez-Sor,
einer Stadt am Euphrat im Osten Syriens, schwer verwundet und verlor ein
Bein. Ihr Vater brachte sie in die Türkei, wo sie seitdem mehrmals operiert
wurde und nun eine Prothese bekam, mit der sie endlich wieder allein laufen
kann.
Jetzt besucht sie eine Schule für syrische Kinder in Şırnak. Ohne die
Hilfe, die die EU seit nunmehr fünf Jahren für die Unterstützung syrischer
Flüchtlinge in der Türkei aufbringt, wäre Seyma jetzt wahrscheinlich weder
in der Schule, noch könnte sie wieder laufen. Zwar hat die Prothese eine
private Hilfsorganisation gespendet, doch die medizinische Versorgung der
Flüchtlinge aus Syrien und der Aufbau von Schulen für über 1,3 Millionen
syrischer Kinder wird von der EU stark unterstützt.
Insgesamt 6 Milliarden Euro hat die EU bislang im Rahmen des
EU-Türkei-Flüchtlingspaktes für die Unterstützung syrischer Flüchtlinge in
der Türkei aufgebracht.
Mit dem Geld wurden Kliniken gebaut, Schulen errichtet und lokale
Gesundheitszentren ermöglicht. Einer der wichtigsten Programmpunkte ist das
sogenannte Cash-Kartensystem, bei dem derzeit 1,8 Millionen Flüchtlinge
monatlich 15 Euro für den Kauf von Grundnahrungsmitteln überwiesen
bekommen.
## Abschottung und Milliarden
Während die 6 Milliarden entweder bereits ausgegeben wurden oder aber für
bestimmte Projekte fest zugesagt sind und deshalb jetzt erst einmal keine
neuen Projekte finanziert werden können, ist das Cash-Kartensystem bereits
bis 2022 verlängert worden. Es trägt der Situation Rechnung, dass von den
rund 3,6 Millionen offiziell registrierten syrischen Flüchtlingen nur noch
rund 1 Prozent in Lagern lebt, wo sie vom türkischen Roten Halbmond
versorgt werden. Alle anderen sind längst über das ganze Land verstreut.
Allein in Istanbul leben offiziell 500.000 Flüchtlinge, Hilfsorganisationen
gehen aber davon aus, dass tatsächlich schon rund 1 Million Syrer nach
Istanbul eingewandert sind.
Auch wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den letzten
Jahren immer wieder moniert hat, dass das Geld aus Brüssel viel zu langsam
komme und die projektgebundene Mittelvergabe viel zu restriktiv sei, haben
die bislang gezahlten Milliarden doch geholfen, die Situation der
Flüchtlinge zu stabilisieren. Neben der stärkeren Abschottung der EU an der
türkisch-griechischen und türkisch-bulgarischen Grenze hat das sicher einen
entscheidenden Anteil daran, dass die „illegale Einwanderung“ in die EU
über die Türkei sehr stark reduziert werden konnte.
Andere Punkte des am 18. März 2016 unterschriebenen
EU-Türkei-Flüchtlingspaktes wurden dagegen gar nicht umgesetzt. Eigentlich
sollten die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln, die keine Aussicht auf
Asyl haben, [1][umgehend in die Türkei zurück abgeschoben werden]. Für
jeden Flüchtling, den die Türkei aus Griechenland zurücknimmt, sollte dann
in einem ausgeklügelten Verfahren ein Flüchtling direkt aus der Türkei
legal in die EU kommen dürfen. Damit wollte man den Flüchtlingen
klarmachen, dass sie lieber in der Türkei warten sollten, als sich im
Schlauchboot auf den Weg zu den Inseln zu machen.
Dieses Verfahren hat nie funktioniert. Am Mittwoch forderte der griechische
Migrationsminister Notis Mitarachi die türkische Seite zur Rücknahme von
knapp 1.500 Migranten auf, als Zeichen der „Bereitschaft zur
Zusammenarbeit“ mit der EU. Abgesehen davon, dass die Türkei mit dem
Verweis auf die Coronapandemie derzeit sowieso keinen Flüchtling aus
Griechenland zurücknimmt, hat aber auch die griechische Justiz bei dem
ganzen Verfahren nicht mitgespielt, weshalb sich die Asylverfahren auf den
Inseln bis heute über Jahre hinziehen. Zum anderen waren auch die meisten
EU-Länder nicht bereit, direkt Flüchtlinge aus der Türkei einzufliegen.
Die EU hatte der Türkei außerdem in Aussicht gestellt, [2][dass türkische
Bürger visumfrei einreisen dürften]. Das ist bis heute nicht der Fall und
einer der Gründe, warum Erdoğan den Pakt neu aushandeln will. Der
Außenbeauftragte der EU, Joseph Borrell, hat erst am Dienstag erklärt, dass
die Kommission grundsätzlich bereit sei, den Flüchtlingspakt neu
aufzulegen, dafür müssten aber alle Mitgliedsländer zustimmen. Beim
EU-Gipfel am 23. März soll darüber diskutiert werden, wie die EU mit der
Türkei weiter verfahren will.
18 Mar 2021
## LINKS
[1] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5637854
[2] /Fluechtlingsdeal-mit-der-Tuerkei/!5323029
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
EU-Türkei-Deal
Schwerpunkt Flucht
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Tunesien
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