# taz.de -- Migrationsforscherin über EU-Türkei-Deal: „Es fehlt Solidaritä… | |
> Fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommne zieht Karoline Popp eine kritische | |
> Bilanz: Weniger Tote im Mittelmeer, aber katastrophale Zustände in | |
> Lagern. | |
Bild: Nach dem Brand in Moria wurde das provisorische Zeltlager „Kara Tepe“… | |
taz: Frau Popp, vor fünf Jahren hat die EU einen umstrittenen Deal | |
abgeschlossen: Sie zahlt Milliarden an die Türkei, damit diese Flüchtlinge | |
aus griechischen Lagern zurücknimmt. Wie fällt die Bilanz aus Ihrer Sicht | |
aus? | |
Karoline Popp: Bestenfalls gemischt. Die Rückführungen haben praktisch kaum | |
funktioniert. Seit 2016 sind 2.100 Menschen von den griechischen Inseln in | |
die Türkei zurückgebracht worden. Ebenso wenig hat der sogenannte | |
1:1-Mechanismus funktioniert, nach dem für jeden Syrer oder jede Syrerin, | |
die in die Türkei zurückgebracht wird, ein syrischer Flüchtling in die EU | |
aufgenommen werden sollte. | |
In der Erklärung geht es aber beispielsweise auch um Leistungen für die | |
heute [1][rund 4 Millionen Geflüchtete, die in der Türkei leben.] Die | |
EU-Zahlungen haben deren Situation verbessert. Außerdem hat sich die EU | |
bereit erklärt, über das Resettlementprogramm Syrer:innen aufzunehmen. | |
Das waren in den letzten fünf Jahren 27.000 Menschen, auch keine | |
unbedeutende Zahl. Ein Ziel wurde zumindest erreicht: Die Zahl der | |
Flüchtlingsboote, die die Ägäis überqueren, ist im Vergleich zu 2015 | |
deutlich gesunken, auch wenn das nicht allein auf die EU-Türkei-Erklärung | |
zurückzuführen ist. | |
In Ihrem aktuellen [2][Policy Brief] geben Sie dem Türkei-Deal aber eine | |
Mitschuld an den katastrophalen Zuständen in den Flüchtlingslagern auf den | |
griechischen Inseln. Warum? | |
Vor allem, weil Griechenland seine Asylgesetze nach der EU-Türkei-Erklärung | |
angepasst hat. Plötzlich durften die Geflüchteten die Inseln nicht mehr | |
verlassen. Vorher wurden sie auf den griechischen Inseln nur registriert | |
und dann auf dem Festland verteilt. Dieser Weg war den allermeisten | |
Geflüchteten nun versperrt. Dazu kommt, dass die Asylverfahren nur sehr | |
langsam bearbeitet wurden. Weil gleichzeitig die Rückführungen in die | |
Türkei nicht geklappt haben, waren die Lager sehr schnell überfüllt. | |
Mit verheerenden Folgen: Den Menschen in den Lagern wurden Grundrechte | |
verwehrt, Rechtsberatung fehlt. | |
Die griechischen Behörden waren von Beginn an mit der Aufgabe überfordert. | |
Bis 2011 hatte das Land ja noch nicht mal eine eigene Asylbehörde. Der EU | |
müsste klar gewesen sein, dass es denkbar riskant war, die Hotspots | |
ausgerechnet dort aufzubauen. Hinzu kommt, dass das EU-Büro EASO, das den | |
griechischen Behörden zur Hand gehen sollte, die Situation zum Teil sogar | |
komplizierter gemacht hat. Fakt ist: Der Zustand in den Lagern war über | |
Jahre unerträglich und ist es auch heute noch. Es fehlt an Essen, Wasser | |
zum Waschen, Privatsphäre. In den Hotspots wird die Menschenwürde mit Füßen | |
getreten. | |
Das Lager Moria ist vor sechs Monaten niedergebrannt. Die EU-Kommission hat | |
danach jede Mitverantwortung von sich gewiesen. Zwei minderjährige Afghanen | |
sind jetzt wegen Brandstiftung zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. | |
Für die Zustände in den Lagern sind sowohl die griechischen Behörden als | |
auch das europäische Asylsystem als Ganzes verantwortlich. Das kann man | |
nicht den Einzelnen, die dort leben, anlasten. Ich will nicht die | |
griechische Rechtsprechung kommentieren. Klar ist aber: In Moria lebten | |
vorübergehend fast 20.000 Menschen, obwohl das Lager ursprünglich für etwa | |
3.000 gedacht war. Dass es nicht schon vor dem Brand zu schweren | |
Ausschreitungen gekommen ist, ist eigentlich ein Wunder. | |
Drohen griechische Verhältnisse auch auf Malta, Sizilien oder den Kanaren? | |
Wenn die EU sich auf das einigt, was die EU-Kommission in ihrem Asyl- und | |
Migrationspaket vorschlägt, dann muss man das leider befürchten. Dann | |
werden Migrant:innen künftig verstärkt an den Außengrenzen aufgehalten, | |
um dort die Asylverfahren und gegebenenfalls gleich die Rückführung | |
durchzuführen. Wenn die EU nicht aus den Fehlern auf Lesbos und den anderen | |
griechischen Inseln lernt, droht sich das Elend an anderer Stelle zu | |
wiederholen. Momentan deutet sich das [3][an der bosnisch-kroatischen | |
Grenze] oder auf den Kanaren an. | |
Was müsste geschehen, damit das europäische Asylsystem fair und | |
menschenwürdig würde? | |
Das Kernproblem der europäischen Migrationspolitik ist das Fehlen von | |
Solidarität und Verantwortungsteilung innerhalb der Mitgliedsstaaten. In | |
der Frage sind die Fronten so verhärtet, dass eine Lösung nicht in Sicht | |
ist. Kurzfristig könnte helfen, dass das EU-Asylbüro wie geplant in eine | |
eigene Behörde verwandelt wird. Damit könnte die EU die Qualität der | |
Asylverfahren stärker überwachen. Darüber hinaus sollte die EU sichere, | |
legale Wege schaffen, um Schutz bekommen zu können. Zum Beispiel über | |
größere Resettlementprogramme. | |
Am Freitag haben die EU-Innenminister:innen beraten, wie sie die Zahl der | |
Abschiebungen erhöhen können. Über solidarische Verteilung von Geflüchteten | |
redet niemand. | |
Rückführungen und Grenzschutz sind die Themen, auf die sich die | |
Mitgliedsstaaten noch am ehesten einigen können. Ich vermute, dass es in | |
der Verteilungsfrage vorerst bei einer Koalition der Willigen bleibt. | |
Die Bundesregierung lobt sich dafür, dass sie seit April 2020 mehr als | |
2.000 Menschen aus griechischen Lagern freiwillig aufgenommen hat … | |
Im Vergleich zu den anderen zwölf europäischen Ländern, die auch Menschen | |
aufgenommen haben, ist das viel, aber natürlich ginge da noch mehr. Die | |
Frage ist, wie sich die aktuelle Situation in den Lagern verbessern lässt. | |
Die freiwilligen Aufnahmen sind begrüßenswert, aber wenn es bei | |
sporadischen Aktionen bleibt, sicher keine nachhaltige Lösung. | |
Nach dem Brand in Moria haben sich 200 deutsche Kommunen bereit erklärt, | |
Menschen aufzunehmen. Und durften nicht. | |
Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie eine europäische Lösung sucht. | |
Vielleicht will sie nicht anderen Ländern signalisieren, dass Deutschland | |
die Aufnahme von Geflüchteten im Alleingang angeht. | |
18 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Tuerkischer-Einfluss-im-Nachbarland/!5754332 | |
[2] https://www.svr-migration.de/publikationen/hotspots/ | |
[3] /Gefluechtete-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5738056 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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