Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Arzt über das Lager Kara Tepe auf Lesbos: „Es ist ein Gefangenen…
> Der Arzt Martin Binder hat ehrenamtlich in Flüchtlingslagern auf Lesbos
> gearbeitet. Er berichtet von Verzweiflung und Machtlosigkeit.
Bild: Wäschewaschen im Lager Mavrovouni (bekannt als Kara Tepe) auf der griech…
Der Reutlinger Allgemeinmediziner Martin Binder wollte seinen Ruhestand
sinnvoll nutzen. Als seine Tochter und Frau begannen, sich ehrenamtlich in
der Geflüchtetenhilfe zu engagieren, meldete er sich als Freiwilliger bei
der NGO Medical Volunteers International.
Sein erster Einsatz auf Lesbos im vergangenen Jahr im mittlerweile
abgebrannten Lager Moria sollte eigentlich nur wenige Wochen dauern. Es
wurden drei Monate daraus. Nun war Binder erneut auf Lesbos. Von Februar
bis März versorgte er Menschen [1][in dem neuen Lager Kara Tepe]. Wir haben
ihn am Tag vor seiner Rückreise telefonisch interviewt.
taz: Herr Binder, wie viele Patienten haben Sie heute behandelt?
Martin Binder: Ich habe es nicht gezählt. Meine Schicht geht von morgens um
acht bis mittags um zwei. Die Patienten stehen oft schon ab morgens um fünf
Uhr Schlange. Unser Hausarztbereich ist in einem Container untergebracht in
zwei Räumen mit jeweils zwei Behandlungsplätzen. Wir fragen die Patienten
nach ihren Beschwerden und versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Unsere
Schicht können wir nicht überziehen, weil nachmittags eine andere NGO die
Räume benötigt. Dann kommt es leider schon vor, dass wir Patienten
heimschicken müssen. Ich bin jeden Tag aufs Neue hin- und hergerissen
zwischen dem Gefühl, schneller arbeiten zu müssen, weil noch so viele
Menschen draußen warten, und dem Anspruch, mir Zeit für jeden Einzelnen zu
nehmen. Denn wenn jemand mit Kopf- oder Rückenschmerzen zu uns kommt,
steckt meistens mehr dahinter.
Was steckt dahinter?
Die meisten unserer Patienten sind schwer traumatisiert und in der Hinsicht
kann ich ihnen wenig helfen. Ich kann ihnen weder eine Gesprächstherapie
anbieten noch die Aussicht auf eine Erleichterung der Lage. Ich kann ihnen
keine Hoffnung machen, was ihren Asylfall oder das Ende ihrer Odyssee
angeht. Der größte Mangel liegt im Bereich der psychologischen Betreuung.
Der psychologisch-psychiatrische Dienst der griechischen Behörden handelt
erst, wenn sie den Menschen vom Baum schneiden oder aus dem Wasser fischen.
Hilfe folgt erst dann, wenn der Suizidversuch schon erfolgt ist.
Selbstverletzung und das Äußern von Suizidgedanken gehören zur
Tagesordnung.
Wie reagiert die Lagerleitung auf Suizidversuche?
Man hat den Eindruck, dass es ihnen eher lästig ist. Die Suizidversuche
werden als Versuche abgetan, Aufmerksamkeit zu erregen und so die
Evakuierung aus dem Lager zu erreichen. Das ist absurd. Es handelt sich um
überzeugte Versuche, das eigene Leben zu beenden. Die Menschen versuchen,
sich an Bäumen zu erhängen, gehen ins Meer, um sich zu ertränken, oder
versuchen, sich durch Selbstverletzungen und Überdosen zu suizidieren.
Diesen Menschen wurde systematisch über Jahre die Chance genommen, ein
menschenwürdiges Leben zu führen. In diesem Kontext einen Suizidversuch
nicht ernst zu nehmen, kann man nur als menschenverachtend bezeichnen.
In den sozialen Medien kursieren Fotos überfluteter Zelte. Viele nennen das
Lager „Moria 2“ – ein passender Begriff?
Bei Kara Tepe handelt es sich um eine neue Dimension. Es ist mehr oder
weniger ein Gefangenenlager, weil die Menschen kaum freien Ausgang haben.
Ich führe viele Gespräche mit Patienten und habe noch niemanden erlebt, der
sagt, dass das neue Lager besser sei als Moria. Im Gegenteil. Das hängt
auch damit zusammen, dass die Menschen im Untergang des alten Lagers eine
Chance gesehen haben. Die Enttäuschung war umso stärker, als sich
herausgestellt hat, dass es nur noch schlimmer wird.
Moria hatte 22.000 Bewohner. Kara Tepe hat 7.000.
Das sieht nur auf den ersten Blick gut aus. So, als ob 15.000 Menschen
ihren Weg in die Freiheit gefunden hätten. Die Wahrheit ist aber, dass ihr
Leid nur verlagert wurde. Sie sind zwar von der Insel runter, aber ihre
Situation bleibt größtenteils aussichtslos. Entweder sind sie in
Großstädten gestrandet, ohne Obdach, ohne Hilfe, oder sie wurden in ein
anderes Lager verfrachtet. Gut versteckt und nicht öffentlich wahrnehmbar
in den Wäldern. Eine weitere Tragödie sehe ich in der Verzweiflung jener,
die einen positiven Asylbescheid erhielten, aber weiter im Lager
festsitzen.
Wie viele Menschen sind davon betroffen?
2.400 Menschen in Kara Tepe haben einen positiven Asylbescheid. Trotzdem
müssen sie im Lager bleiben. Es gibt einfach keine Möglichkeit, wo sie hin
könnten. Theoretisch dürften sie, wenn Sie das Geld und eine Arbeit hätten,
eine Unterkunft mieten. Aber ohne Unterkunft bekommen sie keine Arbeit. Es
ist eine aussichtslose Situation. Mit ihrer Anerkennung verlieren sie auch
das Recht auf materielle Unterstützung, die 70 Euro pro Monat fallen damit
weg. Alles, was sie bekommen, ist eine Grundverpflegung. Ein minderwertiges
Essen pro Tag, ansonsten vegetieren sie dahin. Leben von der Hand in den
Mund. 1.000 Menschen im Lager haben nun endgültig den Ablehnungsbescheid
ihres Asylantrags erhalten. Sobald der Lockdown fällt und die Türkei die
Aussetzung der [2][Übernahmevereinbarung mit der EU] beendet, werden sie in
die Türkei abgeschoben. Sie leben in ständiger Angst. Immer wieder
versuchen einige von ihnen, als blinde Passagiere auf die Fähre zu kommen
und so das Festland zu erreichen.
Sie sprechen von Kara Tepe als Gefangenenlager. Was meinen Sie damit?
Es ist ein großes Problem, dass sie nicht rausdürfen. Die Lagerleitung und
letztlich das Ministerium für Einwanderung haben entschieden, dass jeder
Bewohner pro Woche nur zweimal für je zwei Stunden rausdarf, aber immer nur
eine bestimmte Anzahl gleichzeitig. Diese Unterdrückung hat System.
Welchen Einfluss hat Corona auf Ihre Arbeit?
Im Lager gibt es ausreichend Masken und Desinfektionsmittel. Die
vergangenen acht Wochen hatten wir keinen einzigen positiven Fall, obwohl
Tausende getestet wurden. Im Umgang der Polizei und Behörden mit den
Geflüchteten spielt es jedoch eine große Rolle. Covid-19 muss dafür
herhalten, dass das Lager abgeriegelt wird, dass die Menschen eingesperrt
werden, isoliert. Vor einigen Tagen mussten wir einen bewusstlosen Mann
schnell ins Krankenhaus bringen. Es handelte sich um einen Suizidversuch.
Der Mann hatte eine Überdosis genommen. Bevor der Sauerstoff gemessen oder
eine Infusion gelegt wurde, hat der Mitarbeiter des griechischen
Gesundheitsdienstes ihm erst mal den Wattestab in die Nase gerammt. Vor
einem negativen Testergebnis rühren sie die Menschen gar nicht an.
Den NGOs vor Ort wurde ein Maulkorb verpasst. Von den [3][griechischen
Behörden wurde Ihnen verboten, über die Zustände im Lager zu berichten].
Warum haben Sie sich entschieden, trotzdem zu sprechen?
Wenn man ehrenamtlich in so einem System tätig ist, ist es immer eine
Gratwanderung. Man will den Menschen helfen, trägt aber dazu bei, das
System am Leben zu erhalten. Diesen Zwiespalt kann man nur auflösen, wenn
man ein Stück weit mitspielt, dabei aber immer Sand ins Getriebe streut.
Indem man Menschen behandelt, von denen es die Behörden nicht wollen. Und
indem man an die Öffentlichkeit geht und von dem Leid berichtet. Was ich
beobachte, ist eine Schande für Europa. Die Geschichten der Geflüchteten
gehören ins öffentliche Bewusstsein.
Wie geht es Ihnen mit den Geschichten, die Ihnen erzählt werden?
Natürlich nehmen mich die Erzählungen der Geflüchteten mit. Ich empfinde es
aber auch als ein großes Geschenk, wenn Menschen, die so viel
Unaussprechliches erlebt haben, sich mir öffnen und ihre Geschichte
anvertrauen. Besonders berührt hat mich die Geschichte eines 20 Jahre alten
Mannes aus Angola. Von seinem 13. bis zu seinem 18. Lebensjahr saß er in
Angola im Gefängnis. Warum, weiß er selbst nicht. Fünf Jahre lang hat man
versucht, Informationen aus ihm rauszuprügeln. Auf dem Boden liegend wurde
ihm der Kiefer zertreten, er wurde vergewaltigt und gehänselt. Er hat
Unbeschreibliches erlitten. Seit einem Jahr ist er nun im Lager auf Lesbos.
Man muss sich die Strecke vorstellen, die er zurückgelegt hat. Er ist durch
drei Viertel Afrika gereist und auf irgendwelchen Wegen durch die Türkei.
Jetzt sitzt er in einem Lager, in dem niemand seine Sprache spricht, und
wird von Albträumen und Panikattacken heimgesucht. Er hat Suizidgedanken
und will nur eines: zu seinem Vater nach Frankreich.
Gibt es die Möglichkeit?
Ich habe für die Familienzusammenführung, um die sich eine NGO bemüht,
seinen körperlichen Zustand dokumentiert. Seine Verletzungen sind noch
immer deutlich sichtbar und doch sind die psychischen Wunden viel
schlimmer. Mit meinem Bericht wird es vielleicht gelingen, dass er seinen
Vater wieder sieht. Ich versuche mich an Lichtblicken wie diesem
festzuhalten. Sie geben mir das Gefühl, nicht vollkommen nutzlos zu sein.
16 Apr 2021
## LINKS
[1] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5747334
[2] /Migrationsforscherin-ueber-EU-Tuerkei-Deal/!5754908
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/zustaende-im-fluechtlingslager-kara-te…
## AUTOREN
Charlotte Köhler
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Lesbos
Flüchtlingslager
Migration
IG
Bildung
R2G Bremen
Geflüchtete
Schwerpunkt Flucht
Griechenland
Lesbos
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schulbildung für Flüchtlingskinder: Hungern nach Unterricht
Während Europas Schulkinder in der Pandemie Onlineunterricht hatten, gibt
es in griechischen Flüchtlingslagern oftmals nicht mal Papier. Etwa in
Moria.
Bremer Linke besucht Flüchtlingslager: „Ein Friedhof der Menschenrechte“
Sofia Leonidakis war im Lager Moria II auf Lesbos. Ein Gespräch über
katastrophale Bedingungen, hilflose Bundesländer und Politik der
Abschreckung.
Protest gegen humanitäre Katastrophe: Campen gegen Frontex
Auf dem Göttinger Marktplatz protestieren Aktivisten für die Evakuierung
der Flüchtlingslager an EU-Außengrenzen – und gegen alltäglichen Rassismus.
Migrationsforscherin über EU-Türkei-Deal: „Es fehlt Solidarität“
Fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommne zieht Karoline Popp eine kritische
Bilanz: Weniger Tote im Mittelmeer, aber katastrophale Zustände in Lagern.
Geflüchtete in Griechenland: Sturm, Hagel und feuchte Zeltwände
Auf Lesbos leben nach dem Brand des Lagers Moria noch immer Tausende
Menschen in einem provisorischem Camp. Winterfest ist es nicht.
Entwicklungsminister Gerd Müller: „Entsetzliche Zustände“ auf Lesbos
Das neue Lager Kara Tepe auf Lesbos habe die Lage der Geflüchteten dort
nicht verbessert, sagt Bundesminister Müller. Der Winter werde hart.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.