Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schulbildung für Flüchtlingskinder: Hungern nach Unterricht
> Während Europas Schulkinder in der Pandemie Onlineunterricht hatten, gibt
> es in griechischen Flüchtlingslagern oftmals nicht mal Papier. Etwa in
> Moria.
Bild: Recht auf Bildung? Nicht für die Kinder in Flüchtlingslagern wie Kara T…
Pushbacks im Mittelmeer, für die EU-Abgeordnete versuchen, die Frontex zur
Rechenschaft zu ziehen. Das macht Schlagzeilen, und das ist gut so. Worüber
sich hingegen niemand aufregt, ist die seit Jahren stattfindende
Bildungskatastrophe in den Flüchtlingslagern der griechischen EU-Hotspots.
„Die meisten Kinder von Geflüchteten sind in Griechenland vom
Bildungssystem ausgeschlossen“, warnte Pro Asyl Ende April.
Kein Unterricht für Kinder auf der Flucht – oft bis zu einem Jahr und
länger – das hat massive Konsequenzen und führt bisweilen zu irreparablen
kognitiven und sozialen Schäden. Die Corona-Pandemie verschärft ihre Lage
zusätzlich. Weil die informelle Bildung in den Lagern nicht vorankommt,
drohen Tausende Kinder Analphabeten zu bleiben oder doch schwere
Lerndefizite zu haben. Die EU darf hier nicht erneut wegschauen und die
Genfer Konvention verletzen.
Nach drei Monaten sieht das griechische Gesetz für Flüchtlingskinder
eigentlich einen Platz in der Schule vor. Dazu kommt es meist nie. Das
Leben der Flüchtlinge ist von Warten bestimmt. Bis zum Erstinterview
vergehen Monate, bis zum Asylentscheid sind es oft ein bis zwei Jahre. Im
Lager [1][Kara Tepe], dem Provisorium nach dem Brand in Moria, ist von
derzeit gut 6.000 Menschen jede/r Dritte ein Kind oder Jugendlicher, die
meisten davon im schulpflichtigen Alter. Wer aber kümmert sich um das Recht
auf Schule und Unterricht dieser jungen Menschen?
Artikel 22 der Genfer Flüchtlingskonvention garantiert Flüchtlingen
öffentliche Erziehung, Zugang zu gleichen Schulen und Studienmöglichkeiten
wie Einheimischen. Zwar haben Griechenland und die Unicef ein Programm für
formelle Bildung an griechischen Schulen für Flüchtlinge unterzeichnet.
Aber die Not ist jetzt am größten, deshalb ist schnelle Hilfe angesagt.
Stattdessen verschlechtern sich die Bedingungen seit 2015 stetig, wie der
[2][Fall Moria] zeigt. Unsicherheit, Kriminalität und Gewalt breiteten sich
aus. In der Brandnacht vom 8. September kulminierte die aufgestaute
Aggression. Die mutmaßlichen Brandstifter wurden dafür jüngst verurteilt.
Die wahren Verantwortlichen aber sind die EU und ihre Mitgliedstaaten.
Zusammen mit Griechenland, den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen
haben sie die Verantwortung für die Flüchtlinge über Jahre so lange hin-
und hergeschoben, bis sich am Ende niemand mehr zuständig fühlte.
So wie die Pushbacks gehören auch Moria, Kara Tepe und die Bildungsnot der
Fluchtkinder vor einen EU-Ausschuss. Systematisches Wegschauen darf nicht
ungestraft bleiben.
Während Menschen in der Pandemie weltweit digital lernen, haben
Flüchtlingskinder auf Lesbos keine derartigen Möglichkeiten. In Moria waren
drei Stunden Strom am Tag oft das Höchste der Gefühle. Tafeln, Stifte,
Papier – alles, was Unterricht ausmacht, gibt es nur als Mangelerscheinung
in den Lagern und oft bereitgestellt von Hilfsorganisationen. Bis auf
wenige Ausnahmen fehlt es an Internet-Zugängen. Obwohl technisch möglich,
schafft es Europa nicht, den Schutzsuchenden auf Lesbos flächendeckendes
WLAN zur Verfügung zu stellen. Dabei besitzen Menschen im Lager ein Recht
auf adäquate Kommunikationsmittel.
Hier ist Kreativität gefragt: Die Hilfsorganisation Stand by Me Lesbos hat
mit einer Partnerorganisation in Kara Tepe zwei ausrangierte Busse zu
mobilen Unterrichtsräumen umgebaut: Steuer und Sitzbänke wurden entfernt,
eine Trennwand in der Mitte der Busse eingezogen. Klappstühle geben bis zu
neun Teilnehmern:innen Platz in der Pandemie. Die umgebauten Fahrzeuge
bilden einen der wenigen Internet-Hotspots im Lager.
Asyl-Politik muss aber mehr als nur WLAN-fähig sein. Als Griechenland Mitte
Mai die strengen Abriegelungsmaßnahmen für Touristen lockerte, wurden die
Menschen in den Flüchtlingslagern weiter unter Verschluss gehalten. Das ist
unverhältnismäßig. So werden neue Aggressionen provoziert, von denen es im
EU-Diskurs ohnehin schon zu viele gibt.
Zwischen Herbst 2019 bis zum Brand in Moria bauten die visionärsten unter
den Entwürdigten in Moria ein halbes Dutzend unabhängiger „Schulen“.
Stress, Depression und Gewalt wurden so zeitweilig an einigen Stellen
zurückgedrängt. Dazu kommt, dass Bildung bei den Eltern der
Flüchtlingskinder oberste Priorität genießt. Diese sollen später in Europa
eine gute Arbeit finden, um die in der Heimat lebenden Angehörigen zu
unterstützen. Unterrichtsausfall ist für sie daher ebenfalls eine
Katastrophe. Einige der Lehrkräfte im Lager sind selbst [3][Flüchtlinge].
Sie können sich so – endlich – nützlich machen. Denn als Empfänger unser…
Spenden sind sie als Schutzsuchende bislang zur Passivität verdammt. Dies
kann tödlich sein, wie durch vielfache Suizid-Versuche bekannt ist. Deshalb
braucht es unsere Hilfe zu mehr Eigeninitiative der Schutzsuchenden, um aus
dem Teufelskreis der Hilfe im Lager zu entkommen.
Konzepte für Integration und Inklusion gibt es auf Lesbos. Der aktuellen
Regierung sind sie allerdings politisch fremd. Griechenland sollte keine
Flüchtlinge integrieren müssen, erklärte der griechische Minister für
Migration und Asyl, Notis Mitarachi, jüngst zur ausbleibenden Solidarität
der EU gegenüber Athen. Im Frühjahr protestierten griechische Eltern gegen
die Integration von Flüchtlingskindern in öffentliche Schulen. Umgekehrt
verteidigen griechische Lehrer die Rechte der Flüchtlingskinder. Ihre
Eltern und Großeltern sind oft selbst aus der Türkei vertrieben worden im
Zuge der ethnischen Säuberungen 1922.
Will sich Deutschland solidarisch zeigen, muss Berlin Athen jetzt endlich
angemessen zur Seite stehen und mehr als nur kleine Kontingente von
Menschen als Notopfer aufnehmen.
Das neue mehrere Millionen Euro teure Flüchtlingslager auf Lesbos soll tief
im Inneren der Insel entstehen. Mit rekordverdächtigen
Sicherheitsvorkehrungen und abseits jeder Zivilisation, so befürchten
Aktivisten. Werden die Kinder dann überhaupt eine Schule besuchen können?
Selten waren die Widersprüche und das Scheitern Europas offensichtlicher:
Während Deutschland über verbesserten Schulunterricht in Pandemie-Zeiten
streitet, hungern Tausende Kinder in Kara Tepe nach Bildung.
27 Jun 2021
## LINKS
[1] /Arzt-ueber-das-Lager-Kara-Tepe-auf-Lesbos/!5760664
[2] /Brand-im-griechischen-Lager-Moria/!5774758
[3] /Migrationsforscherin-ueber-EU-Tuerkei-Deal/!5754908
## AUTOREN
Martin Gerner
## TAGS
Bildung
Lager
Moria
EU-Grenzpolitik
GNS
UNHCR
Lesbos
Weltflüchtlingstag
Frontex
Schwerpunkt Flucht
## ARTIKEL ZUM THEMA
70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention: UNHCR-Chef alarmiert über Verstöße
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Grundpfeiler humanitärer
Zusammenarbeit. Zum 70. Jahrestag äußert UN-Hochkommissar Grandi Kritik an
vielen Ländern.
Pfarrerin Gniewoß über Flüchtlingshilfe: „Lasst uns Menschen in Not helfen…
Ute Gniewoß hat sich zwei Jahre vorfristig in den Ruhestand versetzen
lassen. Damit sie mehr Zeit hat, sich einem Projekt auf Lesbos widmen zu
können.
Pro Asyl zum Weltflüchtlingstag: Weniger Asylanträge in der EU
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl warnt davor, die Genfer
Flüchtlingskonvention auszuhöhlen. Am Mittwoch startet die zweite
Libyen-Konferenz.
Kontrollgremium für Frontex: Doppeltes Spiel an der Grenze
Boris Pistorius will die europäische Grenzpolizei Frontex parlamentarisch
stärker kontrollieren. Und will trotzdem mitspielen.
Arzt über das Lager Kara Tepe auf Lesbos: „Es ist ein Gefangenenlager“
Der Arzt Martin Binder hat ehrenamtlich in Flüchtlingslagern auf Lesbos
gearbeitet. Er berichtet von Verzweiflung und Machtlosigkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.