# taz.de -- Lager für Geflüchtete in Griechenland: Vom Camp zum Wohnsitz | |
> Vor fünf Jahren errichtete Griechenland das provisorische Lager Ritsona. | |
> Heute ist für viele Geflüchtete klar: Von dort kommen sie nicht mehr weg. | |
Bild: Das Lager Ritsona wurde hastig auf den Resten eines griechischen Militär… | |
Eine Fahrstunde mit dem Auto von Athen entfernt im Industriegebiet von | |
Ritsona liegt das gleichnamige Flüchtlingscamp. Graue Fabrikgebäude | |
bestimmen die Szenerie, die Flächen dazwischen hat die Sommerhitze | |
ausgetrocknet. Etwa 3.000 Geflüchtete und Migranten leben im Camp von | |
Ritsona, überwiegend Familien aus Syrien und Afghanistan, die von den | |
überfüllten Camps auf den fünf griechischen Ägäisinseln Lesbos, Chios, | |
Samos, Kos und Leros aufs Festland gebracht wurden. | |
Die Bedingungen in Ritsona sind nicht zu vergleichen mit den katastrophalen | |
Umständen auf den Inseln, [1][etwa in Moria auf Lesbos] oder Vathy auf | |
Samos. Anders als dort, wo Tausende in Zelten oder selbstgebauten Hütten | |
ausharren, stundenlang für ihre Mahlzeiten Schlange stehen müssen und das | |
Wasser immer wieder abgestellt wird, sind die Familien im Camp von Ritsona | |
in Häusern und Wohncontainern untergebracht und kochen ihr Essen selbst. | |
Kennt man die Bilder aus Moria, dann wirkt Ritsona geradezu idyllisch: | |
Familien sitzen unter Pinienbäumen und picknicken, die Kinder rennen herum, | |
lachen, spielen. Doch auch hier kämpfen die Geflüchteten mit Problemen. | |
Parwana Amiri lebt seit sieben Monaten in Ritsona. Ich treffe sie im Park | |
am Eingang des Camps. Sie ist 17 Jahre alt, trägt ein minzfarbiges Shirt | |
und Jeanshose, ihre Haare hat sie mit einem dunkelblauen Kopftuch bedeckt. | |
Wie so viele hier war auch sie vorher in Moria: „Mit meinen Eltern, meinen | |
vier Geschwistern und einem unbegleiteten Jungen haben wir uns ein | |
Sommerzelt geteilt“, erzählt die junge Afghanin. „Drei Monate lang. Wir | |
haben den Winter darin verbracht, das war sehr schwierig.“ Nachts habe sie | |
nicht schlafen können, so windig und kalt sei es in Moria gewesen, und oft | |
habe es in Strömen geregnet. Nun ist die Familie in einem der Häuser des | |
Camps von Ritsona untergebracht. | |
Das Camp ist eine ehemalige Militärkaserne – wie viele griechische | |
Flüchtlingscamps, die die linke Syriza-Regierung, die zwischen 2015 und | |
2019 das Land regierte, zu Beginn der Flüchtlingskrise aus dem Boden | |
stampfen musste, um die damals ankommenden Flüchtlinge einigermaßen zu | |
beherbergen. | |
[2][Das Jahr 2015 habe Europa und Griechenland verändert], sagt Stella | |
Nanou, die Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Griechenland. | |
„Damals sind über eine Million Menschen über das Mittelmeer nach Europa | |
gekommen, 2016 ging es so weiter – bis zur Schließung der Balkanroute und | |
dem EU-Türkei-Deal. Danach erst sanken die Zahlen.“ | |
Das Land sei nicht vorbereitet gewesen auf so viele Geflüchtete, gerade die | |
kleinen Kommunen auf den Ägäisinseln: „Dort gab es keinerlei | |
Infrastruktur, die Migranten übernachteten in Parks, am Hafen, an völlig | |
ungeeigneten Plätzen.“ Der Staat kam mit der neuen Situation nicht klar, | |
aber „es gab eine unglaubliche Welle der Solidarität von den einfachen | |
Menschen auf den Inseln und Hilfsorganisationen. Sogar Touristen packten | |
mit an, um diesen Menschen zu helfen“, sagt Nanou. Fischer bargen sie aus | |
dem Wasser auf ihre Boote und versorgten sie mit Decken und Essen. | |
Die meisten Geflüchteten blieben nur wenige Tage oder Wochen in | |
Griechenland, nach ihrer Registrierung fuhren sie weiter in Richtung Norden | |
bis nach Deutschland, in die Schweiz oder andere Länder. Doch mit der | |
Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal im Jahr 2016 änderte sich | |
die Situation. Die Flüchtlinge steckten in Griechenland fest – vor allem | |
auf den Inseln. | |
Das war ein Ergebnis des Deals: Neuankömmlinge müssen bis zum Asylbescheid | |
auf den Inseln bleiben; nur die Verletzlichsten, also etwa Familien mit | |
Kleinkindern, Schwangeren oder Kranken, kann die Überfahrt aufs Festland | |
erlaubt werden. Das führte dazu, dass die anfängliche Begeisterung, mit der | |
viele Griechinnen und Griechen den Geflüchteten halfen, bald in Frust | |
umschlug. | |
„Die Inselbewohner wurden sehr stark auf die Probe gestellt und fühlen sich | |
mit dem Problem allein gelassen. Mittlerweile gibt es auch klar xenophobe | |
Reaktionen.“ Die EU helfe Griechenland zwar seit Beginn der Krise | |
finanziell, aber um das Land wirklich zu entlasten, müsste sie auch | |
Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen, sagt Nanou. | |
So ein Relocation-Programm gab es ja bereits. 22.000 Geflüchtete aus | |
Griechenland wurden auf andere Länder verteilt. Vorgesehen waren einst | |
66.000, doch das Programm lief im November 2017 aus. Auf eine Fortführung | |
konnten sich die EU-Staaten bisher nicht einigen. | |
Heute leben nach UNHCR-Schätzungen 122.000 Geflüchtete und Migranten in | |
Griechenland. Darunter auch die 3.000 Menschen im Camp von Ritsona. Die | |
Zelte wurden hier schon im Winter 2016 durch Wohncontainer ersetzt, später | |
kamen auch die Häuschen dazu. | |
## Was macht Corona mit dem Leben im Camp? | |
In so einem Häuschen lebt nun auch Parwana Amiri mit ihrer Familie, doch | |
glücklich ist sie auch in Ritsona nicht. „Ich fühle mich hier wie eine | |
Gefangene. Wir befinden uns mitten im Nichts. Es gibt keine Busverbindung | |
oder andere Transportmöglichkeiten für uns, um das Camp verlassen zu | |
können.“ Wenn sie in die nächstgelegene Stadt, Chalkida, fahren möchte, | |
muss sie eine Stunde bis zur nächsten Bushaltestelle laufen. Die Buslinie, | |
die es mal gab, wurde nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie gestrichen. | |
Anfang April wurde eine Campbewohnerin, die gerade im Krankenhaus entbunden | |
hatte, positiv auf das Virus getestet. Daraufhin wurden stichprobenartige | |
Tests durchgeführt und insgesamt dreiunddreißig Coronafälle unter den | |
Geflüchteten von Ritsona bestätigt. Die Regierung stellte das Camp unter | |
eine vierzehntägige Quarantäne, die nochmals in die Verlängerung ging. | |
Amiri, die auch sonst aktivistisch unterwegs ist, schon zwei Bücher über | |
das Leben im Camp Moria geschrieben hat und für die Rechte der Flüchtlinge | |
kämpft, sah Handlungsbedarf. Zusammen mit anderen Geflüchteten zog sie von | |
Haus zu Haus, von Wohncontainer zu Wohncontainer und verteilte | |
Informationsbroschüren über das Virus. | |
Seit Monaten nun gibt es keine bestätigten Coronafälle im Camp, doch es | |
bleibt die Stigmatisierung. „Egal ob wir zur Polizei oder zur Asylbehörde | |
gehen – man behandelt uns so, als wären wir infiziert. Sie haben Angst vor | |
uns. Im Krankenhaus sagen uns die Ärzte, Patienten aus Ritsona würden nur | |
im absoluten Notfall behandelt“, sagt Amiri. | |
[3][Eine noch größere Belastung als für die Menschen in Ritsona ist die | |
Coronapandemie] für die Migranten in den überfüllten Camps auf den Inseln. | |
Seit März herrschen Ausgangsbeschränkungen für die im Moment insgesamt etwa | |
30.000 Geflüchteten, die dort untergebracht sind: Sie dürfen nur in kleinen | |
Gruppen von weniger als zehn Personen das Camp verlassen – maximal | |
hundertfünfzig Personen die Stunde. | |
De facto heißt das beispielsweise in Moria auf Lesbos, mit den zurzeit etwa | |
17.000 Bewohnern, dass zahlreiche Menschen tagelang im Lager festsitzen. | |
Und immer wieder verlängert die Regierung diese Maßnahmen, obwohl es keinen | |
bestätigten Coronafall in den Insellagern gegeben hat. | |
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt vor den gesundheitlichen | |
Folgen, die die Ausgangsbeschränkungen für die Migratinnen und Migranten | |
hat. „Stellt euch vor, wie stressig es für uns war, als wir den Lockdown in | |
unseren Häusern verbringen mussten – und wie es für diese Menschen ist, die | |
so viele traumatische Erlebnisse hatten und nun Moria nicht entkommen | |
können“, sagt Christina Psarra, Sprecherin der Ärzte ohne Grenzen in | |
Griechenland. „Wir alle können uns wieder frei bewegen. Es kommen Touristen | |
ins Land. Unser Leben geht ganz normal weiter. Nur für die Flüchtlinge gibt | |
es noch diese Ausgangssperre.“ | |
Eine ernsthafte Politik kann Psarra dahinter nicht erkennen. „Wenn es der | |
Regierung wirklich um die Gesundheit der Geflüchteten geht, sollten als | |
Erstes die hygienischen Bedingungen in den Camps verbessert werden“, sagt | |
sie. „Wie kannst du den Menschen in diesen Camps sagen: Haltet Abstand, | |
wascht die Hände, bleibt gesund? In Camps wie Moria, wo eine Toilette für | |
200 Menschen ist, ist das einfach unrealistisch!“ | |
Parwana Amiri kann den psychischen Druck, dem die Migranten in den | |
Inselcamps ausgesetzt sind, bestätigen. Das zeige, dass sich die | |
griechische Regierung zwar für den Tourismus und die Wirtschaft des Landes | |
interessiere, aber die Flüchtlinge ihr egal seien. „Die Touristen | |
willkommen zu heißen und uns so zu behandeln, das ist nicht fair!“ | |
Und noch etwas macht ihr zu schaffen: Sie ist nun seit zehn Monaten in | |
Griechenland und kann immer noch keine staatliche Schule besuchen. „Ich | |
habe das Gefühl, ich komme hier keinen Schritt weiter.“ Nur eine | |
Unterrichtsstunde Griechisch bekommt sie pro Woche, sagt Parwana, „von der | |
Hilfsorganisation Solidarity Now, nicht vom Staat. Doch das ist definitiv | |
zu wenig! Man kann die Sprache so nicht lernen!“ | |
Die Flüchtlinge versuchen, selbst zu helfen, sie bringen sich gegenseitig | |
Englisch und andere Fremdsprachen bei, sagt Parwana. Die Campleitung hat | |
ihnen dafür einen Raum zur Verfügung gestellt. | |
Hilfsorganisationen bemängeln die Lage in Flüchtlingscamps wie dem von | |
Ritsona seit Längerem. Zum Beispiel der Griechische Rat für Flüchtlinge, | |
eine griechische NGO, die Flüchtlingen unter anderem kostenlose Rechtshilfe | |
im Asylprozess, psychologische Unterstützung und Integrationsangebote | |
bietet. | |
## Übergang oder doch Dauerlösung? | |
„Nach der anfänglichen Registrierung müsste versucht werden, diese Menschen | |
in ein urbanes Umfeld zu bringen. In Wohnungen oder Heimen, nicht in Camps, | |
wie es jetzt überwiegend der Fall ist. Und sie müssten Sprachunterricht | |
bekommen. Diese Menschen lange Zeit abgeschottet vom Rest der Gesellschaft | |
zu halten, nützt niemandem“, sagt Spyros-Vlad Oikonomou, der Sprecher der | |
Organisation. | |
Die Camps seien zur Bewältigung von Ausnahmesituationen, wie sie | |
Griechenland in den Jahren 2015 und 2016 erlebte, durchaus nötig gewesen, | |
sagt Stella Nanou vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). | |
„Jetzt aber befinden wir uns im Jahr 2020. Es kommen weitaus weniger | |
Geflüchtete an. Wir müssten von der Unterbringung der Flüchtlinge und | |
Migranten in Camps loskommen.“ | |
Ein EU-finanziertes Wohnprogramm namens Estia arbeitet schon längst in | |
diese Richtung, doch es verfügt derzeit nur über etwa 25.000 Plätze – dabei | |
befinden sich viermal so viele Asylanträge in Bearbeitung. Das nach der | |
griechischen Göttin der Familie und des Hauses benannte Estia-Programm | |
wurde bisher durch das UNHCR in Kooperation mit den Kommunen und diversen | |
Organisationen umgesetzt. Im Juli ist es in die Verantwortung des | |
griechischen Migrations- und Asylministeriums übergegangen. | |
Stella Nanou zählt die Vorteile des Programms auf: „Dieses Wohnmodell | |
ermöglicht es den Menschen, die einen Platz im Programm bekommen, ihre | |
Kinder in die Schule zu schicken, sie können in den Geschäften der | |
Nachbarschaft einkaufen, sie haben Kontakt zu den Einheimischen. Sie | |
gliedern sich so in die Gesellschaft ein.“ | |
Auch wenn sein Ministerium das Wohnprojekt nun vom UNHCR übernommen hat: | |
die Integration von Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden, hat | |
für den griechischen Migrations- und Asylminister Notis Mitarakis keine | |
hohe Priorität. Sein Ministerium ist im modernisierten Gebäude einer alten | |
Zigarettenfabrik in der Nähe der Hafenstadt Piräus untergebracht. Von hier | |
steuert der aus der Insel Chios – einer der betroffenen Ägäisinseln – | |
stammende 47-Jährige die Migrationspolitik des Landes. | |
Mitarakis möchte im Großen und Ganzen beim Konzept der Camps bleiben – auch | |
wenn er die berüchtigten Insellager schließen und neue Lager bauen will. Er | |
argumentiert so: „In den Camps leben keine Flüchtlinge, sondern | |
Asylbewerber. Wir wissen nicht, ob sie sich überhaupt integrieren müssen. | |
Es ist auch eine moralische Frage, die sich stellt: Inwieweit sollten wir | |
versuchen, jemanden zu integrieren, den wir dann letzten Endes abschieben | |
werden?“ | |
Damit es schnellstmöglich Klarheit darüber gibt, wer bleiben darf und wer | |
nicht, setzt der Migrationsminister auf das neue beschleunigte griechische | |
Asylverfahren, das kurze Fristen und eine schnelle Anhörung der ankommenden | |
Migranten auf den Inseln vorsieht. Nach Angaben des Migrations- und | |
Asylministeriums wurden dank des neuen Verfahrens von Januar bis Juni 2020 | |
über 46.500 Asylbescheide in erster Instanz getroffen, eine Steigerung in | |
Höhe von 88 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. | |
Der Griechische Rat für Flüchtlinge aber kritisiert das neue Asylverfahren. | |
Es sei zwar richtig, dass die Asylanträge schnell geprüft würden, die | |
Beschleunigung dürfe aber nicht dazu führen, dass die Menschen durch das | |
Verfahren geschleust werden, ohne von ihren Rechten Gebrauch machen zu | |
können. „Im Moment kommen die Menschen beispielsweise am Montag an, werden | |
schnellstmöglich registriert und am Freitag kann schon das Interview bei | |
der Asylbehörde anstehen, ohne dass sie die Möglichkeit haben, vorher einen | |
Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen“, sagt Spyros-Vlad Oikonomou, der Sprecher | |
der Organisation. | |
Auch sei es jetzt oft unmöglich für die Geflüchteten, einen negativen | |
Bescheid anzufechten. „Dafür haben die Personen, deren Asylantrag abgelehnt | |
wurde, nur zehn Tage Zeit. Und sie müssen alles auf Griechisch verfassen | |
und über juristisches Wissen verfügen“, sagt Oikonomou. Kostenlosen | |
staatlichen Rechtsbeistand gibt es meistens nicht und auch | |
Hilfsorganisationen wie seine sind hoffnungslos überfordert. Ein Blick auf | |
die Bürotür der Organisation in der Athener Solomoustraße macht das | |
deutlich: Sie ist zugepflastert mit DIN-A4-Blättern, auf denen in mehreren | |
Sprachen steht, dass bis Mitte September keine neuen Fälle angenommen | |
werden können. | |
Dass das neue griechische Asylsystem Menschen davon abhalte, von ihren | |
Rechten Gebrauch zu machen, stimme nicht, hält der griechische Migrations- | |
und Asylminister Mitarakis dagegen. Das würden auch die Zahlen zeigen: 44 | |
Prozent der Asylbescheide, die in letzter Zeit erlassen wurden, seien | |
positiv. Das entspreche dem EU-Durchschnitt, sagt der Minister. Außerdem | |
würde Griechenland durch schnellere Verfahren der EU Geld sparen: „Solange | |
die Asylverfahren andauern, wird der Aufenthalt und die Verpflegung dieser | |
Menschen durch EU-Gelder finanziert. Davon, dass das Verfahren schnell zu | |
Ende geht, haben nicht nur die Migranten etwas, sondern auch Griechenland | |
und die EU.“ | |
Und wer keinen Anspruch auf Asyl habe, der müsse schnellstmöglich | |
abgeschoben werden, sagt Mitarakis. Damit das klappt, fordert er die | |
Unterstützung seiner EU-Partner: „Wir brauchen einen EU-weiten | |
Abschiebemechanismus, damit der Erfolg oder Misserfolg der Rückführungen | |
nicht von den bilateralen Beziehungen jedes einzelnen Mitgliedslands – in | |
dem Falle Griechenlands – zu den Herkunftsländern der Migranten abhängt.“ | |
Das sei im Interesse aller EU-Länder. | |
Gleichzeitig hält der Minister an einer strengen Grenzschutzpolitik fest. | |
Die habe dazu geführt, dass die Zahlen der ankommenden Migranten in den | |
letzten Monaten enorm zurückgegangen sind: Auf Lesbos sind zwischen April | |
und Juni nach Angaben des Migrationsministeriums insgesamt 511 Migranten | |
registriert worden, auf Chios, Samos, Leros und Kos kein einziger. | |
Ist die griechische Küstenwache, die im Jahr 2015 unermüdlich in Seenot | |
geratene Geflüchtete rettete, nun in die Rolle derjenigen geschlüpft, die | |
illegal Migranten zurückdrängt? | |
Während sich glaubwürdige Augenzeugen- und Medienberichte über illegale | |
Pushbacks – im Meer wie auch an Land – häufen, weist der griechische | |
Migrationsminister alle Vorwürfe zurück: „Griechenland respektiert das | |
nationale und internationale Recht. Wer Beweise hat, sollte diese den | |
griechischen Behörden vorlegen, damit sie denen nachgehen.“ | |
Dass zurzeit kaum Migranten auf den Inseln ankommen, sei vielmehr ein | |
Beweis, dass die griechische Grenzpolitik Früchte trägt: „Wir schützen | |
unsere Grenze mit mehr Patrouillen, mehr Beobachtungssystemen an Land, mit | |
mehr Möglichkeiten, schneller die Boote ausfindig zu machen, sodass sie | |
durch die Präsenz unserer Küstenwache erst gar nicht in griechische | |
Gewässer gelangen.“ | |
Diese Abschreckungstaktik gehe nicht nur auf, sie habe sogar dazu geführt, | |
dass es weitaus weniger Tote in der Ägäis gebe, sagt der Minister: „Dieses | |
Jahr hatten wir nur einen Unfall: einen Toten im Vergleich zu den vielen | |
Toten der vergangenen Jahre. Je weniger Boote von der Türkei losfahren, | |
weil sie wissen, dass die Grenze beschützt wird, desto weniger Tote gibt es | |
und desto weniger Menschen fallen den Schleppern, die vom menschlichen Leid | |
profitieren wollen, zum Opfer.“ | |
Mitarakis mag sich dabei auf den einen offiziell registrierten Toten in | |
griechischen Gewässern beziehen, doch die Zahlen der Internationalen | |
Organisation für Migration (IOM) für das östliche Mittelmeer sagen etwas | |
anderes: Mehr als 70 Migranten sind demnach seit Beginn des Jahres im | |
östlichen Mittelmeer ums Leben gekommen. | |
Und was passiert mit denjenigen, die es schon längst ins Land geschafft | |
haben und einen positiven Asylbescheid bekommen? Seit Kurzem lässt ihnen | |
die Regierung dafür nur noch dreißig Tage Zeit, danach müssen sie die Camps | |
räumen. Das von der EU zur Verfügung gestellte Geld sei schließlich für | |
Personen im Asylverfahren, nicht für anerkannte Flüchtlinge, so lautet die | |
Erklärung des Ministers. Ganz auf sich selbst gestellt seien anerkannte | |
Flüchtlinge trotzdem nicht, sagt Mitarakis. | |
Sie hätten genauso Zugang zu Sozialhilfe und Wohngeld wie alle legal in | |
Griechenland lebenden Personen. Zusätzlich gebe es für anerkannte | |
Flüchtlinge das EU-geförderte Integrationsprogramm Helios, das die | |
Internationale Organisation für Migration in Zusammenarbeit mit dem | |
griechischen Migrationsministerium umsetzt. Das helfe ihnen, die erste Zeit | |
zu überbrücken; Helios übernimmt einen Teil ihrer Miete, es gibt | |
Integrationskurse für sie und Hilfe bei der Arbeitssuche. | |
„Helios ist Teil der Lösung, aber nicht die Lösung“, sagt Stella Nanou vom | |
UNHCR. Auch dieses Programm habe eine begrenzte Aufnahmekapazität und | |
lasse viele Flüchtlinge außen vor. Außerdem würden bürokratische Hürden | |
viele Flüchtlinge daran hindern, auch die anderen Sozialhilfen in Anspruch | |
zu nehmen: „Oft fehlen ihnen nötige Unterlagen, sie haben keine | |
Steuernummer, obwohl sie benötigt wird, oder sie können nur schwer ein | |
Bankkonto eröffnen. Theoretisch haben sie also Zugang zu diesen Hilfen, in | |
der Praxis aber nicht.“ | |
Eine Steuernummer oder eine Sozialversicherungsnummer könne jeder | |
beantragen, so der griechische Migrationsminister. Und jeder könne ein | |
Konto eröffnen. Und solange sie im Camp sind, haben die Flüchtlinge auch | |
einen permanenten Wohnsitz. „Deshalb geben wir ihnen ja auch 30 Tage Zeit, | |
damit sie sich um diese Dinge kümmern, solange sie noch im Camp sind.“ | |
Auch im Camp von Ritsona wurden Familien aufgefordert, ihre Häuser und | |
Wohncontainer zu verlassen: „Zweiundfünfzig Familien“, sagt Amiri und | |
schüttelt den Kopf. „Sie wussten nicht wohin. Wir haben protestiert und | |
haben gefordert, dass sie zumindest bleiben können, bis sie eine Wohnung | |
finden, damit sie nicht auf der Straße landen.“ Die Proteste hatten Erfolg. | |
Die Entscheidung sei vorübergehend aufgehoben worden. | |
Amiri und ihre Familie sind noch nicht so weit. Sie stecken noch mitten in | |
ihrem Asylverfahren. Und dann? „Ich würde sehr gern studieren: | |
Politikwissenschaften“, sagt sie. „Aber wenn es so schwer ist, die Schule | |
zu besuchen, wie soll ich es schaffen, an die Uni zu gehen?“ | |
Von einem Transitland für Flüchtlinge im Jahr 2015 ist Griechenland seit | |
der Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal im Jahre 2016 zu | |
einem Land geworden, in dem Flüchtlinge langfristig bleiben werden. Doch | |
eine flächendeckende Integrationspolitik gibt es im Moment genauso wenig | |
wie einen Aufteilungsmechanismus, der alle EU-Länder verpflichten würde, | |
Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Dabei wäre das – darin sind sich | |
Ministerium, UNHCR und Hilfsorganisationen einig – ein Beweis europäischer | |
Solidarität. | |
10 Aug 2020 | |
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