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# taz.de -- Lager für Geflüchtete in Griechenland: Vom Camp zum Wohnsitz
> Vor fünf Jahren errichtete Griechenland das provisorische Lager Ritsona.
> Heute ist für viele Geflüchtete klar: Von dort kommen sie nicht mehr weg.
Bild: Das Lager Ritsona wurde hastig auf den Resten eines griechischen Militär…
Eine Fahrstunde mit dem Auto von Athen entfernt im Industriegebiet von
Ritsona liegt das gleichnamige Flüchtlingscamp. Graue Fabrikgebäude
bestimmen die Szenerie, die Flächen dazwischen hat die Sommerhitze
ausgetrocknet. Etwa 3.000 Geflüchtete und Migranten leben im Camp von
Ritsona, überwiegend Familien aus Syrien und Afghanistan, die von den
überfüllten Camps auf den fünf griechischen Ägäisinseln Lesbos, Chios,
Samos, Kos und Leros aufs Festland gebracht wurden.
Die Bedingungen in Ritsona sind nicht zu vergleichen mit den katastrophalen
Umständen auf den Inseln, [1][etwa in Moria auf Lesbos] oder Vathy auf
Samos. Anders als dort, wo Tausende in Zelten oder selbstgebauten Hütten
ausharren, stundenlang für ihre Mahlzeiten Schlange stehen müssen und das
Wasser immer wieder abgestellt wird, sind die Familien im Camp von Ritsona
in Häusern und Wohncontainern untergebracht und kochen ihr Essen selbst.
Kennt man die Bilder aus Moria, dann wirkt Ritsona geradezu idyllisch:
Familien sitzen unter Pinienbäumen und picknicken, die Kinder rennen herum,
lachen, spielen. Doch auch hier kämpfen die Geflüchteten mit Problemen.
Parwana Amiri lebt seit sieben Monaten in Ritsona. Ich treffe sie im Park
am Eingang des Camps. Sie ist 17 Jahre alt, trägt ein minzfarbiges Shirt
und Jeanshose, ihre Haare hat sie mit einem dunkelblauen Kopftuch bedeckt.
Wie so viele hier war auch sie vorher in Moria: „Mit meinen Eltern, meinen
vier Geschwistern und einem unbegleiteten Jungen haben wir uns ein
Sommerzelt geteilt“, erzählt die junge Afghanin. „Drei Monate lang. Wir
haben den Winter darin verbracht, das war sehr schwierig.“ Nachts habe sie
nicht schlafen können, so windig und kalt sei es in Moria gewesen, und oft
habe es in Strömen geregnet. Nun ist die Familie in einem der Häuser des
Camps von Ritsona untergebracht.
Das Camp ist eine ehemalige Militärkaserne – wie viele griechische
Flüchtlingscamps, die die linke Syriza-Regierung, die zwischen 2015 und
2019 das Land regierte, zu Beginn der Flüchtlingskrise aus dem Boden
stampfen musste, um die damals ankommenden Flüchtlinge einigermaßen zu
beherbergen.
[2][Das Jahr 2015 habe Europa und Griechenland verändert], sagt Stella
Nanou, die Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Griechenland.
„Damals sind über eine Million Menschen über das Mittelmeer nach Europa
gekommen, 2016 ging es so weiter – bis zur Schließung der Balkanroute und
dem EU-Türkei-Deal. Danach erst sanken die Zahlen.“
Das Land sei nicht vorbereitet gewesen auf so viele Geflüchtete, gerade die
kleinen Kommunen auf den Ägäisinseln: „Dort gab es keinerlei
Infrastruktur, die Migranten übernachteten in Parks, am Hafen, an völlig
ungeeigneten Plätzen.“ Der Staat kam mit der neuen Situation nicht klar,
aber „es gab eine unglaubliche Welle der Solidarität von den einfachen
Menschen auf den Inseln und Hilfsorganisationen. Sogar Touristen packten
mit an, um diesen Menschen zu helfen“, sagt Nanou. Fischer bargen sie aus
dem Wasser auf ihre Boote und versorgten sie mit Decken und Essen.
Die meisten Geflüchteten blieben nur wenige Tage oder Wochen in
Griechenland, nach ihrer Registrierung fuhren sie weiter in Richtung Norden
bis nach Deutschland, in die Schweiz oder andere Länder. Doch mit der
Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal im Jahr 2016 änderte sich
die Situation. Die Flüchtlinge steckten in Griechenland fest – vor allem
auf den Inseln.
Das war ein Ergebnis des Deals: Neuankömmlinge müssen bis zum Asylbescheid
auf den Inseln bleiben; nur die Verletzlichsten, also etwa Familien mit
Kleinkindern, Schwangeren oder Kranken, kann die Überfahrt aufs Festland
erlaubt werden. Das führte dazu, dass die anfängliche Begeisterung, mit der
viele Griechinnen und Griechen den Geflüchteten halfen, bald in Frust
umschlug.
„Die Inselbewohner wurden sehr stark auf die Probe gestellt und fühlen sich
mit dem Problem allein gelassen. Mittlerweile gibt es auch klar xenophobe
Reaktionen.“ Die EU helfe Griechenland zwar seit Beginn der Krise
finanziell, aber um das Land wirklich zu entlasten, müsste sie auch
Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen, sagt Nanou.
So ein Relocation-Programm gab es ja bereits. 22.000 Geflüchtete aus
Griechenland wurden auf andere Länder verteilt. Vorgesehen waren einst
66.000, doch das Programm lief im November 2017 aus. Auf eine Fortführung
konnten sich die EU-Staaten bisher nicht einigen.
Heute leben nach UNHCR-Schätzungen 122.000 Geflüchtete und Migranten in
Griechenland. Darunter auch die 3.000 Menschen im Camp von Ritsona. Die
Zelte wurden hier schon im Winter 2016 durch Wohncontainer ersetzt, später
kamen auch die Häuschen dazu.
## Was macht Corona mit dem Leben im Camp?
In so einem Häuschen lebt nun auch Parwana Amiri mit ihrer Familie, doch
glücklich ist sie auch in Ritsona nicht. „Ich fühle mich hier wie eine
Gefangene. Wir befinden uns mitten im Nichts. Es gibt keine Busverbindung
oder andere Transportmöglichkeiten für uns, um das Camp verlassen zu
können.“ Wenn sie in die nächstgelegene Stadt, Chalkida, fahren möchte,
muss sie eine Stunde bis zur nächsten Bushaltestelle laufen. Die Buslinie,
die es mal gab, wurde nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie gestrichen.
Anfang April wurde eine Campbewohnerin, die gerade im Krankenhaus entbunden
hatte, positiv auf das Virus getestet. Daraufhin wurden stichprobenartige
Tests durchgeführt und insgesamt dreiunddreißig Coronafälle unter den
Geflüchteten von Ritsona bestätigt. Die Regierung stellte das Camp unter
eine vierzehntägige Quarantäne, die nochmals in die Verlängerung ging.
Amiri, die auch sonst aktivistisch unterwegs ist, schon zwei Bücher über
das Leben im Camp Moria geschrieben hat und für die Rechte der Flüchtlinge
kämpft, sah Handlungsbedarf. Zusammen mit anderen Geflüchteten zog sie von
Haus zu Haus, von Wohncontainer zu Wohncontainer und verteilte
Informationsbroschüren über das Virus.
Seit Monaten nun gibt es keine bestätigten Coronafälle im Camp, doch es
bleibt die Stigmatisierung. „Egal ob wir zur Polizei oder zur Asylbehörde
gehen – man behandelt uns so, als wären wir infiziert. Sie haben Angst vor
uns. Im Krankenhaus sagen uns die Ärzte, Patienten aus Ritsona würden nur
im absoluten Notfall behandelt“, sagt Amiri.
[3][Eine noch größere Belastung als für die Menschen in Ritsona ist die
Coronapandemie] für die Migranten in den überfüllten Camps auf den Inseln.
Seit März herrschen Ausgangsbeschränkungen für die im Moment insgesamt etwa
30.000 Geflüchteten, die dort untergebracht sind: Sie dürfen nur in kleinen
Gruppen von weniger als zehn Personen das Camp verlassen – maximal
hundertfünfzig Personen die Stunde.
De facto heißt das beispielsweise in Moria auf Lesbos, mit den zurzeit etwa
17.000 Bewohnern, dass zahlreiche Menschen tagelang im Lager festsitzen.
Und immer wieder verlängert die Regierung diese Maßnahmen, obwohl es keinen
bestätigten Coronafall in den Insellagern gegeben hat.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt vor den gesundheitlichen
Folgen, die die Ausgangsbeschränkungen für die Migratinnen und Migranten
hat. „Stellt euch vor, wie stressig es für uns war, als wir den Lockdown in
unseren Häusern verbringen mussten – und wie es für diese Menschen ist, die
so viele traumatische Erlebnisse hatten und nun Moria nicht entkommen
können“, sagt Christina Psarra, Sprecherin der Ärzte ohne Grenzen in
Griechenland. „Wir alle können uns wieder frei bewegen. Es kommen Touristen
ins Land. Unser Leben geht ganz normal weiter. Nur für die Flüchtlinge gibt
es noch diese Ausgangssperre.“
Eine ernsthafte Politik kann Psarra dahinter nicht erkennen. „Wenn es der
Regierung wirklich um die Gesundheit der Geflüchteten geht, sollten als
Erstes die hygienischen Bedingungen in den Camps verbessert werden“, sagt
sie. „Wie kannst du den Menschen in diesen Camps sagen: Haltet Abstand,
wascht die Hände, bleibt gesund? In Camps wie Moria, wo eine Toilette für
200 Menschen ist, ist das einfach unrealistisch!“
Parwana Amiri kann den psychischen Druck, dem die Migranten in den
Inselcamps ausgesetzt sind, bestätigen. Das zeige, dass sich die
griechische Regierung zwar für den Tourismus und die Wirtschaft des Landes
interessiere, aber die Flüchtlinge ihr egal seien. „Die Touristen
willkommen zu heißen und uns so zu behandeln, das ist nicht fair!“
Und noch etwas macht ihr zu schaffen: Sie ist nun seit zehn Monaten in
Griechenland und kann immer noch keine staatliche Schule besuchen. „Ich
habe das Gefühl, ich komme hier keinen Schritt weiter.“ Nur eine
Unterrichtsstunde Griechisch bekommt sie pro Woche, sagt Parwana, „von der
Hilfsorganisation Solidarity Now, nicht vom Staat. Doch das ist definitiv
zu wenig! Man kann die Sprache so nicht lernen!“
Die Flüchtlinge versuchen, selbst zu helfen, sie bringen sich gegenseitig
Englisch und andere Fremdsprachen bei, sagt Parwana. Die Campleitung hat
ihnen dafür einen Raum zur Verfügung gestellt.
Hilfsorganisationen bemängeln die Lage in Flüchtlingscamps wie dem von
Ritsona seit Längerem. Zum Beispiel der Griechische Rat für Flüchtlinge,
eine griechische NGO, die Flüchtlingen unter anderem kostenlose Rechtshilfe
im Asylprozess, psychologische Unterstützung und Integrationsangebote
bietet.
## Übergang oder doch Dauerlösung?
„Nach der anfänglichen Registrierung müsste versucht werden, diese Menschen
in ein urbanes Umfeld zu bringen. In Wohnungen oder Heimen, nicht in Camps,
wie es jetzt überwiegend der Fall ist. Und sie müssten Sprachunterricht
bekommen. Diese Menschen lange Zeit abgeschottet vom Rest der Gesellschaft
zu halten, nützt niemandem“, sagt Spyros-Vlad Oikonomou, der Sprecher der
Organisation.
Die Camps seien zur Bewältigung von Ausnahmesituationen, wie sie
Griechenland in den Jahren 2015 und 2016 erlebte, durchaus nötig gewesen,
sagt Stella Nanou vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR).
„Jetzt aber befinden wir uns im Jahr 2020. Es kommen weitaus weniger
Geflüchtete an. Wir müssten von der Unterbringung der Flüchtlinge und
Migranten in Camps loskommen.“
Ein EU-finanziertes Wohnprogramm namens Estia arbeitet schon längst in
diese Richtung, doch es verfügt derzeit nur über etwa 25.000 Plätze – dabei
befinden sich viermal so viele Asylanträge in Bearbeitung. Das nach der
griechischen Göttin der Familie und des Hauses benannte Estia-Programm
wurde bisher durch das UNHCR in Kooperation mit den Kommunen und diversen
Organisationen umgesetzt. Im Juli ist es in die Verantwortung des
griechischen Migrations- und Asylministeriums übergegangen.
Stella Nanou zählt die Vorteile des Programms auf: „Dieses Wohnmodell
ermöglicht es den Menschen, die einen Platz im Programm bekommen, ihre
Kinder in die Schule zu schicken, sie können in den Geschäften der
Nachbarschaft einkaufen, sie haben Kontakt zu den Einheimischen. Sie
gliedern sich so in die Gesellschaft ein.“
Auch wenn sein Ministerium das Wohnprojekt nun vom UNHCR übernommen hat:
die Integration von Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden, hat
für den griechischen Migrations- und Asylminister Notis Mitarakis keine
hohe Priorität. Sein Ministerium ist im modernisierten Gebäude einer alten
Zigarettenfabrik in der Nähe der Hafenstadt Piräus untergebracht. Von hier
steuert der aus der Insel Chios – einer der betroffenen Ägäisinseln –
stammende 47-Jährige die Migrationspolitik des Landes.
Mitarakis möchte im Großen und Ganzen beim Konzept der Camps bleiben – auch
wenn er die berüchtigten Insellager schließen und neue Lager bauen will. Er
argumentiert so: „In den Camps leben keine Flüchtlinge, sondern
Asylbewerber. Wir wissen nicht, ob sie sich überhaupt integrieren müssen.
Es ist auch eine moralische Frage, die sich stellt: Inwieweit sollten wir
versuchen, jemanden zu integrieren, den wir dann letzten Endes abschieben
werden?“
Damit es schnellstmöglich Klarheit darüber gibt, wer bleiben darf und wer
nicht, setzt der Migrationsminister auf das neue beschleunigte griechische
Asylverfahren, das kurze Fristen und eine schnelle Anhörung der ankommenden
Migranten auf den Inseln vorsieht. Nach Angaben des Migrations- und
Asylministeriums wurden dank des neuen Verfahrens von Januar bis Juni 2020
über 46.500 Asylbescheide in erster Instanz getroffen, eine Steigerung in
Höhe von 88 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Der Griechische Rat für Flüchtlinge aber kritisiert das neue Asylverfahren.
Es sei zwar richtig, dass die Asylanträge schnell geprüft würden, die
Beschleunigung dürfe aber nicht dazu führen, dass die Menschen durch das
Verfahren geschleust werden, ohne von ihren Rechten Gebrauch machen zu
können. „Im Moment kommen die Menschen beispielsweise am Montag an, werden
schnellstmöglich registriert und am Freitag kann schon das Interview bei
der Asylbehörde anstehen, ohne dass sie die Möglichkeit haben, vorher einen
Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen“, sagt Spyros-Vlad Oikonomou, der Sprecher
der Organisation.
Auch sei es jetzt oft unmöglich für die Geflüchteten, einen negativen
Bescheid anzufechten. „Dafür haben die Personen, deren Asylantrag abgelehnt
wurde, nur zehn Tage Zeit. Und sie müssen alles auf Griechisch verfassen
und über juristisches Wissen verfügen“, sagt Oikonomou. Kostenlosen
staatlichen Rechtsbeistand gibt es meistens nicht und auch
Hilfsorganisationen wie seine sind hoffnungslos überfordert. Ein Blick auf
die Bürotür der Organisation in der Athener Solomoustraße macht das
deutlich: Sie ist zugepflastert mit DIN-A4-Blättern, auf denen in mehreren
Sprachen steht, dass bis Mitte September keine neuen Fälle angenommen
werden können.
Dass das neue griechische Asylsystem Menschen davon abhalte, von ihren
Rechten Gebrauch zu machen, stimme nicht, hält der griechische Migrations-
und Asylminister Mitarakis dagegen. Das würden auch die Zahlen zeigen: 44
Prozent der Asylbescheide, die in letzter Zeit erlassen wurden, seien
positiv. Das entspreche dem EU-Durchschnitt, sagt der Minister. Außerdem
würde Griechenland durch schnellere Verfahren der EU Geld sparen: „Solange
die Asylverfahren andauern, wird der Aufenthalt und die Verpflegung dieser
Menschen durch EU-Gelder finanziert. Davon, dass das Verfahren schnell zu
Ende geht, haben nicht nur die Migranten etwas, sondern auch Griechenland
und die EU.“
Und wer keinen Anspruch auf Asyl habe, der müsse schnellstmöglich
abgeschoben werden, sagt Mitarakis. Damit das klappt, fordert er die
Unterstützung seiner EU-Partner: „Wir brauchen einen EU-weiten
Abschiebemechanismus, damit der Erfolg oder Misserfolg der Rückführungen
nicht von den bilateralen Beziehungen jedes einzelnen Mitgliedslands – in
dem Falle Griechenlands – zu den Herkunftsländern der Migranten abhängt.“
Das sei im Interesse aller EU-Länder.
Gleichzeitig hält der Minister an einer strengen Grenzschutzpolitik fest.
Die habe dazu geführt, dass die Zahlen der ankommenden Migranten in den
letzten Monaten enorm zurückgegangen sind: Auf Lesbos sind zwischen April
und Juni nach Angaben des Migrationsministeriums insgesamt 511 Migranten
registriert worden, auf Chios, Samos, Leros und Kos kein einziger.
Ist die griechische Küstenwache, die im Jahr 2015 unermüdlich in Seenot
geratene Geflüchtete rettete, nun in die Rolle derjenigen geschlüpft, die
illegal Migranten zurückdrängt?
Während sich glaubwürdige Augenzeugen- und Medienberichte über illegale
Pushbacks – im Meer wie auch an Land – häufen, weist der griechische
Migrationsminister alle Vorwürfe zurück: „Griechenland respektiert das
nationale und internationale Recht. Wer Beweise hat, sollte diese den
griechischen Behörden vorlegen, damit sie denen nachgehen.“
Dass zurzeit kaum Migranten auf den Inseln ankommen, sei vielmehr ein
Beweis, dass die griechische Grenzpolitik Früchte trägt: „Wir schützen
unsere Grenze mit mehr Patrouillen, mehr Beobachtungssystemen an Land, mit
mehr Möglichkeiten, schneller die Boote ausfindig zu machen, sodass sie
durch die Präsenz unserer Küstenwache erst gar nicht in griechische
Gewässer gelangen.“
Diese Abschreckungstaktik gehe nicht nur auf, sie habe sogar dazu geführt,
dass es weitaus weniger Tote in der Ägäis gebe, sagt der Minister: „Dieses
Jahr hatten wir nur einen Unfall: einen Toten im Vergleich zu den vielen
Toten der vergangenen Jahre. Je weniger Boote von der Türkei losfahren,
weil sie wissen, dass die Grenze beschützt wird, desto weniger Tote gibt es
und desto weniger Menschen fallen den Schleppern, die vom menschlichen Leid
profitieren wollen, zum Opfer.“
Mitarakis mag sich dabei auf den einen offiziell registrierten Toten in
griechischen Gewässern beziehen, doch die Zahlen der Internationalen
Organisation für Migration (IOM) für das östliche Mittelmeer sagen etwas
anderes: Mehr als 70 Migranten sind demnach seit Beginn des Jahres im
östlichen Mittelmeer ums Leben gekommen.
Und was passiert mit denjenigen, die es schon längst ins Land geschafft
haben und einen positiven Asylbescheid bekommen? Seit Kurzem lässt ihnen
die Regierung dafür nur noch dreißig Tage Zeit, danach müssen sie die Camps
räumen. Das von der EU zur Verfügung gestellte Geld sei schließlich für
Personen im Asylverfahren, nicht für anerkannte Flüchtlinge, so lautet die
Erklärung des Ministers. Ganz auf sich selbst gestellt seien anerkannte
Flüchtlinge trotzdem nicht, sagt Mitarakis.
Sie hätten genauso Zugang zu Sozialhilfe und Wohngeld wie alle legal in
Griechenland lebenden Personen. Zusätzlich gebe es für anerkannte
Flüchtlinge das EU-geförderte Integrationsprogramm Helios, das die
Internationale Organisation für Migration in Zusammenarbeit mit dem
griechischen Migrationsministerium umsetzt. Das helfe ihnen, die erste Zeit
zu überbrücken; Helios übernimmt einen Teil ihrer Miete, es gibt
Integrationskurse für sie und Hilfe bei der Arbeitssuche.
„Helios ist Teil der Lösung, aber nicht die Lösung“, sagt Stella Nanou vom
UNHCR. Auch dieses Programm habe eine begrenzte Aufnahmekapazität und
lasse viele Flüchtlinge außen vor. Außerdem würden bürokratische Hürden
viele Flüchtlinge daran hindern, auch die anderen Sozialhilfen in Anspruch
zu nehmen: „Oft fehlen ihnen nötige Unterlagen, sie haben keine
Steuernummer, obwohl sie benötigt wird, oder sie können nur schwer ein
Bankkonto eröffnen. Theoretisch haben sie also Zugang zu diesen Hilfen, in
der Praxis aber nicht.“
Eine Steuernummer oder eine Sozialversicherungsnummer könne jeder
beantragen, so der griechische Migrationsminister. Und jeder könne ein
Konto eröffnen. Und solange sie im Camp sind, haben die Flüchtlinge auch
einen permanenten Wohnsitz. „Deshalb geben wir ihnen ja auch 30 Tage Zeit,
damit sie sich um diese Dinge kümmern, solange sie noch im Camp sind.“
Auch im Camp von Ritsona wurden Familien aufgefordert, ihre Häuser und
Wohncontainer zu verlassen: „Zweiundfünfzig Familien“, sagt Amiri und
schüttelt den Kopf. „Sie wussten nicht wohin. Wir haben protestiert und
haben gefordert, dass sie zumindest bleiben können, bis sie eine Wohnung
finden, damit sie nicht auf der Straße landen.“ Die Proteste hatten Erfolg.
Die Entscheidung sei vorübergehend aufgehoben worden.
Amiri und ihre Familie sind noch nicht so weit. Sie stecken noch mitten in
ihrem Asylverfahren. Und dann? „Ich würde sehr gern studieren:
Politikwissenschaften“, sagt sie. „Aber wenn es so schwer ist, die Schule
zu besuchen, wie soll ich es schaffen, an die Uni zu gehen?“
Von einem Transitland für Flüchtlinge im Jahr 2015 ist Griechenland seit
der Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal im Jahre 2016 zu
einem Land geworden, in dem Flüchtlinge langfristig bleiben werden. Doch
eine flächendeckende Integrationspolitik gibt es im Moment genauso wenig
wie einen Aufteilungsmechanismus, der alle EU-Länder verpflichten würde,
Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Dabei wäre das – darin sind sich
Ministerium, UNHCR und Hilfsorganisationen einig – ein Beweis europäischer
Solidarität.
10 Aug 2020
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## AUTOREN
Rodothea Seralidou
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Griechenland
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