Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Linkswende auf dem SPD-Parteitag: Vorwärts! Aber wohin?
> Wie es die SPD auf ihrem Parteitag fertiggebracht hat, einen neuen Kurs
> zu bestimmen und dennoch alle Fragen zur Koalition offenzulassen.
Bild: Schriftzug einer stolzen, alten Partei in Berlin: Bringt der Parteitag di…
Berlin taz | Und dann ertönt der Jubel. Am Samstagnachmittag stehen fast
alle Delegierten von ihren Plätzen auf und applaudieren, ein, zwei Minuten
lang, konservative Seeheimer wie linke Jusos. Standing Ovations sind ein
Ritual von Parteitagen, vor allem wenn die Vorsitzenden ihre Reden beendet
haben. Applaus ist ein Barometer, das anzeigt, wie bewölkt die Stimmung ist
und ob die Partei zur Führung steht.
Jetzt aber bejubeln die GenossInnen einen Antrag. Es ist einer der
mitreißenden Momente des Berliner SPD-Parteitags. Die Partei hat gerade
ohne Gegenstimme ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen. Der Staat soll
nicht mehr, wie zu Gerhard Schröders Zeiten, fordern und fördern, sondern
„empathisch, unterstützend und bürgernah“ werden.
Hartz IV soll fortan Bürgergeld heißen. Für zwei Jahre sollen Vermögen und
die Wohnungsgröße von Empfängern nicht mehr überprüft werden.
„Pflichtverletzungen dürfen nicht folgenlos“ bleiben, heißt es etwas vage.
Aber in jedem Fall muss das „sozioökonomische und soziokulturelle
Existenzminimum gesichert sein“. Diese Formulierung signalisiert, dass die
SPD Hartz-IV-Empfänger besser stellen will, als es das
Bundesverfassungsgericht erst kürzlich entschieden hat.
Wer früher Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher in Frage stellte, sagt die
Ex-Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel, sei in er Partei „total isoliert“
gewesen. „Eine Riesenauseinandersetzung“, so Drohsel, sei jetzt endlich
beendet.
Die SPD will nun eine Kindergrundsicherung von 250 Euro pro Kind und
„perspektivisch 12 Euro Mindestlohn“, um den Niedriglohnsektor zu
bekämpfen. Und sie will, dass Arbeitslose, die sich weiterbilden, bis zu
drei Jahre lang Arbeitslosengeld beziehen können.
## Die SPD steht nun für einen zugewandten Sozialstaat
All das zielt in eine ähnliche Richtung: Die Sozialdemokraten wollen einen
zugewandten Sozialstaat. Und sie wollen endlich das Agenda-2010-Gespenst,
das sie seit fünfzehn Jahren verfolgt, verbannen. Es ist nicht der erste
Versuch, Hartz IV zu bewältigen. Ein erfahrener SPD-Mann muss erst mal
nachzählen, ob das jetzt der dritte oder vierte große Anlauf ist. Aber es
soll der letzte sein.
Ist das jetzt die komplett nach links gewendete SPD? Eigentlich nicht.
[1][Das neue Führungsduo], Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, hat mit
dem Konzept für den neuen Sozialstaat wenig zu tun. Das Copyright gehört
Ex-Parteichefin Andrea Nahles. Es soll die SPD grundlegend verändern und
endlich mit sich selbst versöhnen.
[2][Kevin Kühnert] läuft kurz nach der Jubelszene über den Flur vor der
City-Cube-Halle, wo die Partei den Aufbruch „in die neue Zeit“ beschwört.
In roten und schwarzen Lettern. Er hat eine Brezel in der Hand, bricht sich
ein paar Stückchen ab und schiebt sie sich beim Reden in den Mund. Es gibt
wenige Orte, an denen man sich so ungesund ernährt wie auf Parteitagen.
Moment, jetzt muss er erst mal ein Selfie mit Delegierten machen. Kühnert
ist der neue Star der SPD, intellektuelles Kraftzentrum, Stratege und
Machtfaktor. „Das Sozialstaatspapier ist geeint“, sagt er. Es werde von
allen getragen. Seine Augen blitzen. Ein Erfolg. Er ist jetzt
stellvertretender Vorsitzender der SPD. Und ab jetzt verantwortlich für
Einigungen und Erfolge. Er muss die Partei jetzt repräsentieren, nicht mehr
kritisieren. Selten hatte ein 30-Jähriger so viel Einfluss in der SPD –
einer Partei, die zu mehr als der Hälfte aus über 60-Jährigen besteht.
Kühnert hat eine funkelnde Bewerbungsrede für diesen Vizeposten gehalten.
Es ist der erste Begeisterungsmoment des Parteitags, mit wildem, spontanem
Beifall. Kühnert spannt weite Bögen, skizziert die Spannung zwischen
individualisierter Gesellschaft und Solidarität, attackiert Annegret
Kramp-Karrenbauer und spottet in einer leicht klamaukhaften, aber gut
kalkulierten Einlage über die Rote-Socken-Phobien der Konservativen. Am
Ende dreht er Helmut Schmidt, den Gottvater der SPD-Rechten, auf links.
Schmidt wollte einst Leute mit Visionen zum Arzt schicken. „Gehen wir zum
Arzt und überzeugen ihn von unseren Visionen“, ruft Kühnert in den tobenden
Saal.
Aber 158 Delegierte, fast ein Viertel, stimmen am Ende doch gegen den
Juso-Chef. Kühnert polarisiert. Ein alter Sozialdemokrat zischt am Rande,
die Rede sei demagogisch. Nein, das war sie nicht. Nur fesselnder,
effektvoller, auch kalkulierter als viele andere eher technokratische oder
appellhafte Reden. Kühnert ist der erste Juso-Chef, der je Vizechef der
Partei geworden ist.
Wie hart die Jusos sein können, bekommt am Samstag Ralf Stegner zu spüren.
Der Parteilinke war Vizevorsitzender der SPD. Auf dem Parteitag schafft es
der 60-Jährige noch nicht mal mehr in den 34-köpfigen Parteivorstand. Ein
nötiger Generationswechsel, heißt es dazu unterkühlt aus Juso-Kreisen.
Rodion Bakum hat eigentlich schon ausreichend politische Spektakel in den
vergangenen Wochen erlebt. Am Volkstrauertag stand auf der Gedenkschleife
seiner SPD in Mülheim an der Ruhr: „Den Opfern von Krieg und
Verschissmuss“. Bakum, Chef der Mülheimer GenossInnen, musste das Desaster
managen. Die SPD hatte der Floristin den Text für die Schleife telefonisch
durchgegeben. „Das machen wir demnächst nur noch schriftlich“, sagt Bakum
zerknirscht. Die Blumenverkäuferin hat gekündigt, der Laden ist
geschlossen. „Bedauerlich“, sagt er erschöpft.
Am Freitagmorgen wartet der Delegierte Bakum auf die Reden der Neuen,
Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. „Die werden auf jeden Fall
gewählt“, sagt der gebürtige Ukrainer mit Pottakzent.
## „Wohlstand für Millionen, nicht Millionäre“
Esken kommt im knallroten Kostüm auf die Bühne. Sie will „ihr ganzes
Herzblut“ der Austrocknung des Niedriglohnsektor widmen. „Der Markt alleine
regelt gar nichts.“ Die SPD müsse „Betriebsrat der digitalen Gesellschaft�…
sein. Norbert Walter-Borjans hält die Grundsatzrede. Frieden und soziale
Gerechtigkeit sind Signalworte. Und links zu sein. „Wohlstand für
Millionen, nicht Millionäre“, ruft er und fordert ein „Jahrzehnt der
öffentlichen Investitionen“. Zur Großen Koalition sagt Walter-Borjans
nicht viel.
Das Echo der Delegierten auf die beiden Newcomer ist freundlich, aber nicht
überschwänglich. Die Wahlergebnisse sind gut. [3][Walter Borjans bekommt
fast 90, Esken immerhin nahezu 76 Prozent]. Andrea Nahles, ihre
Vorgängerin, war 2018 mit nur 66 Prozent zur SPD-Chefin gewählt worden.
Kühnert ist sehr erleichtert. Er hat ja die Unterstützung für das Team
organisiert. Es ist auch sein Sieg. Auch der Mülheimer Genosse Bakum ist
„sehr zufrieden“. Dass Walter-Borjans so viel mehr Sympathie zufliegen
werde, sei klar gewesen. Er habe als ehemaliger NRW-Finanzminister einen
„Prominenzvorsprung“.
Aber das Ergebnis zeigt vor allem, was die Partei jetzt will: ein bisschen
Frieden. Auch die Wahlen für die Parteivizes verlaufen harmonisch. Neben
Kühnert wird Arbeitsminister Hubertus Heil gewählt. Eigentlich hatten Esken
und Walter-Borjans keine Minister als Vizechefs befürwortet. Die Partei
sollte endlich frei von Regierungszwängen sein. Die SPD-Pragmatiker fanden
genau das gefährlich. Die Partei dürfe kein frei drehendes Radikal werden,
heißt es. Esken und Walter-Borjans geben nach, um eine Konfrontation
zwischen Heil und Kühnert zu vermeiden. Die Zahl der Stellverteter wird von
drei auf fünf erhöht.
In der insgesamt zehnköpfigen Parteispitze gehören fünf eher zur Linken,
fünf, darunter die neuen Vizes Klara Geywitz und Anke Rehlinger, zu den
Pragmatikern, die kein Groko-Aus wollen. Die Macht hat sich mit Esken,
Walter-Borjans und Kühnert natürlich nach links verschoben – aber nicht
radikal, sondern austariert. Es gibt keinen Durchmarsch der Linken. Die SPD
ist eine Kompromissmaschine.
Auch Johannes Kahrs, Chef des Seeheimer Kreises, will den neuen Frieden
nicht gefährden. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, dessen Agenda-Politik
auf dem Berliner Parteitag endgültig beerdigt wird, hatte vorab sein
Missvergnügen über die neue Führung kundgetan. Kahrs kantet zurück.
Schröder habe sich früher „jede Kritik von der Seitenlinie verbeten“ und
solle sich jetzt lieber zurückhalten. „Wir Seeheimer unterstützen immer die
Führung“, sagt Kahrs. So klingt es, wenn Versöhnung intoniert wird.
Franziska Drohsel stört die diffuse Ansage in Sachen Groko. Die frühere
Juso-Chefin will die Groko lieber „sofort beenden“. Kühnert und die Jusos
finden einen Anti-Groko-Antrag aber eher unpassend. Der gefährde die
Kompromisslinie. Drohsel bringt den Antrag auf dem Parteitag ein – und
bekommt für „Raus aus der Groko“ ungefähr 10 Prozent.
## Was wird aus der Großen Koalition?
Viel Frieden, ein paar rechtzeitig ausgetretene Schwelbrände. Und wie geht
es weiter? Anke Rehlinger, die neue SPD-Vizevorsitzende, sagt: „Der
Leitantrag ist eine klare Handlungsempfehlung für die nächste Zeit.“ Nun,
genau das ist er nicht und sollte es auch gar nicht sein. Denn das Papier
lässt offen, was für die SPD ein ausreichender Erfolg ist, um diese
Koalition weiterzuführen – und was der Grund, um den Platz am
Kabinettstisch zu räumen. Ein paar Details beim Klimapaket, das sowieso
noch nachgebessert wird? Ein paar neue Investitionen, die ja DGB und
Arbeitgeber auch verlangen? Oder muss es etwas ganz Deutliches, Großes
sein? Der Parteitag hat eigentlich nichts geklärt – nicht einmal einen
vagen Zeitpunkt, wann die SPD eigentlich entscheiden wird, ob sie weiter
regieren will. Das Schlimmste, sagt einer, wäre, „wenn wir uns jetzt
monatelang fragen, ob wir nun drin bleiben oder nicht.“
Achim Post ist Chef der NRW-Landesgruppe in der Bundestagsfraktion,
Vizefraktionschef und Seeheimer. Er lobt den „Parteitag der
Zusammenarbeit“. Und: „Es ist gut, dass in dem Leitantrag kein Zeitpunkt
fixiert worden ist.“ Damit hätte man sich selbst Fesseln angelegt. Eine
Fixierung auf klare Ziele und Zeitpunkte stört. Denn die SPD-MinisterInnen
und fast die gesamte Bundestagsfraktion wollen die Koalition fortführen.
Bei Gesprächen sollten, so Posts Warnung, beide Seiten, die Union und die
neue SPD-Führung, jetzt nicht „danach suchen, wie man aus der Regierung
aussteigen kann“.
Es gibt jetzt zwei Machtzentren in der Sozialdemokratie, die
unterschiedliche Agenden verfolgen. Fraktion und MinisterInnen wollen
weiterregieren. Esken und Walter-Borjans stehen bei ihren Anhängern im
Wort, besser, erfolgreicher verhandeln zu können. Oder eben die Regierung
zu verlassen.
Das war, als sie um den SPD-Vorsitz kämpften, ein schlagkräftiges Argument
für die beiden. Nun führen die beiden die SPD. Und es klingt wie eine sehr
kühne Ankündigung.
8 Dec 2019
## LINKS
[1] /Neue-SPD-Chefs-auf-dem-Parteitag/!5648014
[2] /Neuer-Vizechef-in-der-SPD/!5648114
[3] /Neue-SPD-Chefs-auf-dem-Parteitag/!5648014
## AUTOREN
Dorian Baganz
Stefan Reinecke
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Norbert Walter-Borjans
Saskia Esken
SPD
Ralf Stegner
Erbschaftssteuer
Saskia Esken
Schwerpunkt Angela Merkel
Klimapaket
Kevin Kühnert
Mindestlohn
Amira Mohamed Ali
SPD
AKK
SPD-Parteitag
Michael Müller
SPD
Kevin Kühnert
## ARTIKEL ZUM THEMA
Stegner will nach Berlin: Kraftzentrum Pinneberg
Nachdem sein Versuch, SPD-Chef zu werden, krachend scheiterte, strebt Ralf
Stegner, derzeit Chef der Kieler Landtagsfraktion, in den Bundestag.
Soziale Ungleichheit: Enterbt uns doch endlich!
Es ist an der Zeit zu fragen, ob Erben überhaupt noch legitim ist. Wir
müssen darüber reden – und eine gerechte Erbschaftssteuer erheben.
Kurs der neuen SPD-Vorsitzenden: Die gezähmten Tiger
Die SPD-Spitze muss der Union beim Mindestlohn mehr Druck machen. Sonst
entsteht der Eindruck, dass sie sich das Fell über die Ohren ziehen lässt.
Die Zukunft der Groko: Zäher als gedacht
Es ist eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung: Ein schnelles Ende der großen
Koalition würde im Moment nur den Grünen nützen.
Klimakompromiss der GroKo: Öko doch möglich
Weder Kohleausstieg noch ökologische Verkehrswende sind in Sicht. Doch der
Klimakompromiss ist ein Anfang.
Kevin Kühnert über Verantwortung: „Macht ist für mich keine Droge“
Seit ein paar Tagen ist Kevin Kühnert Vizechef der SPD. Als Strippenzieher
sieht er sich nicht. Politik betreibe er viel profaner.
Mindestlohn-Forderung der SPD: Zurück in die Zukunft
Die SPD feiert sich dafür, einen Mindestlohn von 12 Euro zu fordern:
„Perspektivisch“. Aber warum nicht sofort?
Anhaltender Flügelkampf in der Partei: Die Linke muss nachsitzen
Dienstag steht die zweite Vorstands-Wahlrunde in der Linken-Fraktion an.
Dass es diesen neuen Anlauf braucht, zeigt, wie zerrissen die Partei ist.
Große Koalition nach dem SPD-Parteitag: Viele Wege zum 12-Euro-Lohn
Der SPD-Parteitag hat gefordert, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen.
Erste Reaktionen der Union klangen ablehnend, aber Bewegung ist möglich.
Wie geht es weiter mit der Groko?: Im Gespräch bleiben
Nach dem SPD-Parteitag versucht die Union, ihr Gesicht zu wahren – und
gleichzeitig die Sozialdemokraten nicht zu deutlich zu brüskieren.
„Internationale“ beim SPD-Parteitag: Rechter Kontertenor
Da stimmt SPD die „Internationale“ an. Das heißt aber nicht, dass gleich
das Abendland untergeht, sondern nur, dass grad viele Jusos im Saal waren.
Wahlschlappe von Michael Müller: Franziska Giffey liegt vorn
Beim Bundesparteitag der SPD fiel der Regierende Bürgermeister bei der Wahl
zum Bundesvorstand durch. Die Familienministerin wurde gewählt.
Reaktionen auf den SPD-Parteitag: Kein klares Signal
Einen sofortigen Ausstieg aus der Koalition hat der SPD-Parteitag
abgelehnt. Für Union und Grüne war das Signal trotzdem nicht eindeutig
genug.
SPD-Parteitag und Große Koalition: Spiel mit hohem Risiko
Der Linksschwenk beim Parteitag der SPD klingt zunächst gut. Aber was folgt
daraus genau? In Sachen Groko gilt: Der Vorhang ist zu und alle Fragen
offen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.