# taz.de -- Kevin Kühnert über Verantwortung: „Macht ist für mich keine Dr… | |
> Seit ein paar Tagen ist Kevin Kühnert Vizechef der SPD. Als | |
> Strippenzieher sieht er sich nicht. Politik betreibe er viel profaner. | |
Bild: Selfie-Time! Kevin Kühnert zwischen Tobias Pietsch (SPD) und Julie Rothe… | |
Montagnachmittag im Willy Brandt Haus. Ein kleiner Raum. Nichts | |
Repräsentatives. Kevin Kühnert kommt zwei Minuten zu spät und entschuldigt | |
sich. Dafür, dass er zwei Wochen politischen Ausnahmezustand hinter sich | |
hat, sieht er ganz frisch aus. | |
taz: Herr Kühnert, mit wem rede ich jetzt? Mit dem Juso-Chef und oder dem | |
stellvertretenden Vorsitzender der SPD? | |
Kevin Kühnert: Mit Kevin Kühnert, der beide Funktionen innehat. | |
Ist da kein Unterschied? | |
Diese Doppelfunktion gab es noch nie. Es gibt also keine Erfahrungen, auf | |
die ich zurückgreifen könnte. Ob der Anspruch der Jusos, ein eigenständiger | |
Verband zu sein, in dieser Konstruktion noch gewährleistet ist, kann ich | |
nur bedingt entscheiden. Ich bin da befangen und werde das Anfang 2020 | |
zusammen mit den Jusos bewerten. | |
Passen die beiden Rollen zusammen? | |
Ich bin ja erst seit wenigen Tagen SPD-Vize. Aber ich fühle mich nicht | |
schizophren. Der Spagat zwischen Jusos und der SPD ist schließlich nicht | |
mehr so groß, wie er noch vor einem Jahr war. Der Parteitag hat vieles | |
beschlossen, was zu uns Jusos passt. Als das Sozialstaatskonzept | |
verabschiedet war, gab es beim Parteitag echte Euphorie. Man konnte an den | |
Gesichtern ablesen, dass da die Last von 16 Jahren Hartz-IV-Debatte abfiel. | |
Wir sind in unserem Kernthema endlich wieder in der Offensive. | |
Die Hartz-Debatte wurde in der SPD in den letzten Jahren schon ein paar Mal | |
für beendet erklärt. | |
Sie wurde von Parteivorsitzenden per Medien für beendet erklärt. Diesmal | |
haben Vertreter unterschiedlicher Positionen – unter anderem Andrea Nahles, | |
Hubertus Heil, Manuela Schwesig und ich – eineinhalb Jahre lang an dem | |
Sozialstaatskonzept gearbeitet und einen gemeinsamen Weg gefunden. | |
Auch bei [1][Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger]? Manche Parteilinke halten | |
den SPD-Beschluss für das Ende der Sanktionen. Arbeitsminister Heil redet | |
von Konsequenzen, wenn Hartz-IV-Empfänger ihre Pflichten verletzen. Was | |
gilt? | |
Wir haben einen Kompromiss entwickelt. Der sieht vor, dass sogenannte | |
Teilhabevereinbarungen mit den Betroffenen geschlossen werden. Damit diese | |
verbindlich sind, soll es Mitwirkungspflichten geben. Werden diese | |
verletzt, dann kann es nach unserem Konzept zwar Konsequenzen geben, | |
ausgeschlossen sind dabei aber Sanktionen auf das Existenzminimum. Und das | |
Existenzminimum entspricht nach aktueller Rechtsprechung dem Hartz-IV-Satz. | |
Er bleibt unangetastet und das ist schon ein erheblicher Fortschritt. | |
Hat das Bundesverfassungsgericht das nicht ohnehin verfügt? | |
Nein, laut Verfassungsgericht sind bis zu 30 Prozent der Grundsicherung | |
kürzbar. Wir wollen darüber hinausgehen. | |
Und das wird Hubertus Heil als Gesetz vorlegen? | |
Ich erwarte nicht, dass er im Januar einen Gesetzentwurf vorlegt, in dem | |
alle Sanktionen abgeschafft werden. Das scheitert an der Union. Aber Heil | |
nutzt schon jetzt seine Spielräume, indem er beispielsweise die | |
Sondersanktionen für unter 25-Jährige aussetzen lässt, obwohl diese gar | |
nicht Teil des Urteils waren. Das ist gut. Wenn wir in einer anderen | |
Koalition regieren, wird mehr möglich sein. | |
Die SPD will nun mit der Union verhandeln. Was ist ihr Thema Nummer eins? | |
Beim Klimaschutz muss mehr gehen. In der Gesellschaft haben viele den | |
Eindruck, dass das Klimapaket nicht alles gewesen sein kann. Wir wollen | |
über den Ausbau der erneuerbaren Energien und auch den CO2-Preis sprechen. | |
Da mehr zu tun, würde allen dreien nutzen: Der Union, der SPD und dem | |
Klima. | |
Wo ist die Schmerzgrenze für die SPD? | |
Wir haben keine roten Linien gezogen. Wer mit „so oder gar nicht“ in | |
Verhandlungen geht, kann die sich eigentlich sparen. Wir haben aber klar | |
unsere Forderungen benannt – wie 12 Euro Mindestlohn. Das ist anders als | |
früher. Wir stecken nicht schon selbst vorab zurück und fordern nur 10 | |
Euro, weil die Union 12 Euro ja sowieso nicht akzeptiert. | |
Wer hat das Sagen bei den Verhandlung für die SPD? Die Parteiführung oder | |
die Minister? | |
Die Vorsitzenden verhandeln gemeinsam mit Vizekanzler und | |
Fraktionsvorsitzendem. Die Bewertung nimmt der Parteivorstand vor. | |
Muss Scholz tun, was Esken sagt? | |
Alle sind an unsere Beschlüsse gebunden. Die SPD ist in der Gretchenfrage – | |
wie halten wir es mit der Groko – im Detail nicht einer Meinung. Norbert | |
Walter-Borjans und Saskia Esken haben den Mitgliederentscheid der SPD auch | |
nicht mit 90 Prozent gewonnen, sondern mit 53 Prozent. Sie wollen und | |
werden nicht „durchregieren“. Die Parteispitze, zu der auch Hubertus Heil | |
gehört, spiegelt die Kräfteverhältnisse in der SPD aber genauer wieder als | |
früher. [2][Der Leitantrag musste ein Kompromiss sein]. Ich möchte nicht, | |
dass wir sinnvolle Kompromissfindungen verächtlich machen. | |
Da sprach der Vizeparteichef. | |
Das sagte ich als Juso bislang genauso. Wir Jusos haben die Große Koalition | |
nicht abgelehnt, weil wir gegen Kompromisse sind. Was uns gestört hat, war, | |
Kompromisse als großartige Siege zu verkaufen. Wir wollen auch eine | |
ehrlichere, authentischere Kommunikation. | |
Sie haben [3][vor einem Jahr der taz gesagt]: „Wir müssen die Groko dann | |
attackieren, wenn die Attacke angebracht und erfolgversprechend ist.“ Ist | |
das jetzt der Fall? | |
Die SPD-Basis hat im März 2018 zu meiner geringen Freude für die Groko | |
gestimmt. Das habe ich im Grundsatz zu akzeptieren. Der aktuelle | |
Mitgliederentscheid ging mit 53 zu 45 Prozent eng aus. Einen Angriff sollte | |
man starten, wenn die Truppe gut sortiert und ein gemeinsamer Schlachtplan | |
ausgearbeitet ist. Unangenehm, hier ins Militärische abzugleiten. | |
Ist die SPD in drei Monaten noch in der Regierung? | |
Offene Gespräche zeichnen sich dadurch aus, dass sie offen sind. Insofern: | |
keine Ahnung. | |
Braucht man in der Politik Härte? | |
Ja, vor allem gegen sich selbst. Man muss sich viel scharfe Kritik anhören. | |
Und begreifen, dass die vielfach nicht mir als Mensch gilt, sondern dem, | |
was ich politisch repräsentiere. Wenn man das klar hat, wird manches | |
leichter. | |
Sie lassen Kritik einfach cool an sich abperlen? | |
Ich habe kein Problem mit sachlicher Kritik. Andere versuche ich mir vom | |
Leib zu halten. Ich blocke auf Twitter konsequent, wer rassistisch oder | |
beleidigend auftritt. Ich bin eine öffentliche Person. Aber deshalb muss | |
ich mich nicht mit faulen Eiern bewerfen lassen. | |
Auf dem [4][Parteitag] haben Sie mit Ihrer Rede [5][spontane Begeisterung | |
entfacht]. Wie wichtig sind Gefühle in der Politik? | |
Politik ist nicht Emotion, aber Emotionen schaffen Zugänge zu Politik. Beim | |
Juso-Bundeskongress ist es leichter als auf einem SPD-Parteitag, | |
Begeisterung zu wecken. Dort habe ich eine ruhigere Rede gehalten, weil ich | |
zeigen wollte: Unsere Rolle als Jusos wandelt sich. Meiner Partei wollte | |
ich signalisieren: Begeistert euch an euch selbst. Seid selbstbewusst. Nach | |
sechs Monaten Suche nach einer Parteispitze sind viele unsicher. | |
Haben Sie bei Reden Vorbilder? | |
Nein. Aber ich bin fasziniert davon, dass wir Menschen mit Sprache, Mimik | |
und Gestik Botschaften unterstreichen können. Juso-Reden fangen | |
gelegentlich mit einer langen Analyse an, bestenfalls mit einer | |
marxistischen Herleitung der folgenden Forderungen. Man kann spannende | |
politische Reden halten, ohne dass der Inhalt leidet. Das müssen wir viel | |
mehr tun. Nicht nur Linke, alle Demokraten sind da viel zu bräsig. YouTube | |
ist voll mit rechten Videos. Die Rechten haben diesen Resonanzraum viel | |
besser verstanden. Das bringt mich gelegentlich zur Verzweiflung. | |
Was ist Macht für Sie? | |
Ein Mittel zum Zweck, um politische Vorstellungen durchzusetzen. Nach | |
demokratischen Spielregeln. | |
Und für Sie persönlich? Kein Thrill? | |
Macht ist für mich keine Droge, nichts, das euphorisiert. Das klingt jetzt | |
billig – aber Macht bringt Verantwortung mit sich. Man kann sie | |
missbrauchen. Ich reflektiere das bewusst für mich. | |
Macht ist nichts, was Sie unbedingt wollen? | |
Macht klingt für mich nach – auf den Tisch hauen. Nach Gerhard Schröder, | |
der an den Gitterstäben des Kanzleramtes rüttelt und sagt: Ich will da | |
rein. Nach: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Führung. Es klingt nicht | |
nach: „Hey, lass uns zusammen Demokratie machen und nach den besten | |
Lösungen suchen.“ Ich habe ein anderes Verhältnis zur Macht. | |
[6][Gesine Schwan hat in einem Interview gesagt], dass Sie „ohne allzu viel | |
Rücksicht vorgehen, wenn es sich um Macht handelt“. | |
Ich habe den Eindruck, dass ich im letzten halben Jahr für Gesine Schwan zu | |
einer Art politikwissenschaftlichem Beobachtungsobjekt geworden bin, an dem | |
sie Thesen ausprobiert. Ich nehme ihr das nicht übel. Aber meistens | |
diskutiert das Objekt der Beobachtung nicht mit seinem Beobachter. Insofern | |
lasse ich das jetzt. | |
Sie gelten als Strippenzieher. Sehen Sie sich auch so? | |
Wir Jusos haben zweifelsohne einen Anteil an der Wahl von Esken und | |
Walter-Borjans. Aber Strippenzieher ist ein übles Wort. Ich bin kein | |
Marionettenspieler, der andere tanzen lässt oder indoktriniert. Meine | |
politische Arbeit läuft viel profaner ab, als viele denken. Überhaupt ist | |
Politik nicht im Ansatz so durchtrieben, wie viele glauben. | |
Manche Juso-Chefs, wie Andrea Nahles oder Gerhard Schröder, haben sich | |
politisch sehr gewandelt. Erleben Sie diese Verwandlung nun im | |
Schnelldurchlauf? | |
Der wesentliche Unterschied zu vielen Juso-Generationen vor uns ist, dass | |
wir in diesen zwei Jahren echte Verantwortung hatten – nicht nur für uns | |
selbst. Die Verantwortung, die ich jetzt qua Amt als Vize habe, hatte ich | |
in Teilen informell vorher schon. Ich habe beim Sozialstaatskonzept | |
mitgewirkt, und wenn ich in Talkshows auftrat, war das auch anders, als vor | |
20 Jusos zu reden. | |
Sie sind schon vorher wie ein Vizevorsitzender aufgetreten? | |
Nein, man kann so ein Amt nicht imitieren. Aber mir war immer klar: Es geht | |
um die SPD als Ganzes. Wir hantieren mit Porzellan. Wir haben eine schöne | |
alte Porzellanvase in der Hand und wir streiten uns darum, wo die im | |
Wohnzimmer stehen soll. Das ist notwendig. Aber wenn wir uns prügeln, geht | |
die Vase kaputt. Das ist mir sehr bewusst. | |
Bekommen Sie als SPD-Vize-Geld? | |
Nicht dass ich wüsste. | |
Als Juso-Chef? | |
Eine Aufwandsentschädigung. | |
Wovon leben Sie? | |
Ich brauche nicht viel. Mein Einkommen liegt deutlich unter dem | |
Durchschnittslohn. Materielles oder Statussymbole interessieren mich nicht | |
sonderlich. Ich hatte zig Angebote, ein politisches Buch zu schreiben. Das | |
hätte sich wahrscheinlich gut verkauft. Aber das reizt mich nicht. Mich | |
begeistert politische Arbeit. Es ist ein Privileg, so gestalten zu können | |
wie im Moment. Es wäre töricht, das nicht zu nutzen. Ich weiß ja nicht, wie | |
lange das so bleibt. | |
10 Dec 2019 | |
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