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# taz.de -- Berliner Mietmarkt: Mieten macht mächtig
> In Berlin sollen große Immobilienfirmen enteignet werden, so wollen es
> MietaktivistInnen. Sie initiieren ein Volksbegehren. Haben sie eine
> Chance?
Bild: Die Mehrheit der Berliner befürwortet eine Enteignung großer Immobilien…
Von der Frühlingssonne bekommt man an diesem Samstag im März im
Gemeindesaal der St.-Jacobi-Kirche in Kreuzberg nur mit, was durch die
Spitzengardinen auf angestaubte Topfpflanzen fällt. Holzfußboden,
beigefarbene Wände, auf einem Tisch im Nebenraum ein Buffet mit selbst
gebackenem Kuchen und geschnittenem Obst. In der Mitte steht ein Strauß
gelber Tulpen.
Auch wenn es nicht so aussieht, man könnte sagen: Hier wird heute
Nachmittag die Revolution geplant.
Rund 50 Menschen sitzen auf Holzstühlen im Kreis, einige sind jung, viele
haben das Rentenalter schon erreicht. Ganz vorn sitzt Ingrid Hoffmann, gut
zu erkennen an einem orangefarbenen Fleecepullover. Hoffmann, eine
zierliche Frau mit viel Energie, ist 69 Jahre alt, sie sieht jünger aus.
Sie ist Mitglied in einem Senioren-Inlineskatingverein und unternimmt gern
ausgedehnte Radtouren.
Seit ein paar Monaten hat die Rentnerin noch ein neues Hobby: Ingrid
Hoffmann will die Deutsche Wohnen enteignen, den größten Immobilienkonzern
auf dem Berliner Markt, und eine ganze Reihe anderer Unternehmen gleich
mit.
## Heizungsausfälle, Schimmel und Mieterhöhung
Hoffmann heißt anders. Aber weil sie selbst Mieterin der Deutschen Wohnen
ist, will sie nicht unter ihrem richtigen Namen in der Zeitung auftreten:
Sie fürchtet, dass sie sonst Probleme mit ihrer Wohnung bekommen könnte.
Die anderen Leute im Gemeindesaal sind sich mit Hoffmann weitgehend einig.
Und die Gruppe ist damit [1][in Berlin nicht allein]. Fast alle, die an
diesem Samstag hier sitzen, haben eins gemeinsam: Sie wohnen in einer der
rund 111.000 Wohnungen, die die Deutsche Wohnen mittlerweile in Berlin
besitzt. Viele sind Abgesandte ihrer Mieterinitiativen, die ebenso über die
ganze Stadt verteilt sind wie die Bestände der Deutschen Wohnen: An mehr
als zwanzig Orten haben sich Deutsche-Wohnen-Mieter zusammengetan. An
diesem Nachmittag findet ihr Vernetzungstreffen statt.
Fehlerhafte Betriebskostenabrechnungen, keine Ansprechpartner,
Heizungsausfälle, Schimmel. Monatelange Sanierungsarbeiten, deren Sinn sich
nicht erschließt, anschließend Mieterhöhung. Die Liste der Vorwürfe gegen
die Deutsche Wohnen ist lang.
In Kleingruppen soll in dem Gemeindesaal diskutiert werden, welche Ziele
man sich für die nächste Zeit vornimmt. Später stellen die Gruppen ihre
Ergebnisse vor, gelbe, grüne, blaue und rote Karten werden an die Wand
gehängt, eine Farbe pro Gruppe. 66 Karten sind es am Ende. Ein Ziel findet
sich in jeder Gruppe: Enteignung.
## Selbst unter FDP- und CDU-Anhängern gibt es Befürworter
Per Volksentscheid soll der Berliner Senat gezwungen werden, ein Gesetz zu
erarbeiten, mit dem alle Unternehmen enteignet werden, die in Berlin mehr
als 3.000 Wohnungen besitzen. Gegen Entschädigung zwar, aber danach sollen
die Wohnungen nicht mehr den Aktionären, sondern dem Land Berlin gehören,
für die Mieter sollen Mitbestimmungsrechte gelten.
Um mehr als 200.000 Wohnungen geht es insgesamt. „Deutsche Wohnen & Co
enteignen“ heißt dieses Vorhaben. Deutsche Wohnen, dieser Name hat in
Berlin mittlerweile einen so schlechten Klang, dass sich das Bündnis etwas
davon verspricht, gerade dieses Unternehmen im Titel zu benennen.
Wäre es nur eine Hand voll Leute, die diese Forderung aufstellten, die
Deutsche Wohnen hätte wenig zu befürchten. Aber das Vorhaben ist nicht nur
seit Monaten Stadtgespräch – noch bevor die Initiative mit dem Sammeln der
erforderlichen Unterschriften überhaupt begonnen hat. Die Linke, eine der
drei Berliner Regierungsparteien, hat auch ganz offiziell ihre
Unterstützung für das Volksbegehren beschlossen. Und laut Umfragen
unterstützt eine Mehrheit der Berliner das Anliegen, selbst unter FDP- und
CDU-Anhängern finden es mehr als ein Drittel richtig.
Dass ein eigentlich so verpönter Begriff wie Enteignung so viel Anklang
findet, sagt einiges über den Berliner Wohnungsmarkt. Und die Fragen, um
die es hier geht, betreffen längst nicht nur die Hauptstadt. Wie wird das
Menschenrecht auf angemessenen Wohnraum durchgesetzt? Sind
Immobilienkonzerne verpflichtet, zur Verwirklichung dieses Rechts
beizutragen, auch wenn das ihre Renditeerwartung schmälert? Können
privatwirtschaftliche Unternehmen das überhaupt? Oder darf Wohnraum erst
gar nicht zur Ware werden?
## Die Hürden sind hoch, aber das Vorhaben nicht unmöglich
Damit es überhaupt zu einem Volksentscheid kommt, muss das Bündnis in zwei
Stufen fast 200.000 Unterschriften sammeln. Bei der eigentlichen Abstimmung
muss dann eine Mehrheit und zugleich mindestens ein Viertel der
wahlberechtigten Berliner für den Vorschlag stimmen. Diese Hürden sind
hoch. Dass das Bündnis sie nimmt, ist nicht ausgemacht. Aber unmöglich ist
es auch nicht.
An diesem Samstag beginnt die Unterschriftensammlung. Nicht zufällig, denn
unter dem Titel #Mietenwahnsinn findet ein europaweiter Aktionstag statt.
In Berlin ist eine [2][Großdemo geplant]. Es kann sein, dass viele der
20.000 in der ersten Stufe erforderlichen Unterschriften [3][schon hier
zusammenkommen].
„Ding-Dong“, sagt Ingrid Hoffmann, als im Stuhlkreis alle durcheinander
reden, und sofort wird es still. Die zierliche Frau moderiert das Treffen;
freundlich, aber bestimmt leitet sie die Diskussion, behält den Überblick.
Seit 2001 wohnt Hoffmann in einem DDR-Plattenbau genau an der Grenze
zwischen Mitte und Prenzlauer Berg. Als sie einzog, gehörte das Gebäude
einer Genossenschaft, die Schwierigkeiten hatte, die Wohnungen zu
vermieten. Denn von ihrem Balkon aus schaut Hoffmann zwar auf den
Fernsehturm, darunter kreuzen sich aber auch zwei Hauptverkehrsstraßen plus
Straßenbahnlinien. Wenn sie die Balkontür öffnet, hört man, was das
bedeutet.
## Plötzlich zahlt Hoffmann 115 Euro mehr im Monat
Um die Wohnungen vermietet zu bekommen, bot die Genossenschaft damals an,
die Grundrisse nach Wünschen der Mieter zu verändern. Hoffmann ließ die
Wohnung also umgestalten. 65 Quadratmeter, 480 Euro warm kostete sie bei
Einzug, es war damit die teuerste im ganzen Haus, sagt Hoffmann. Aber es
fühlte sich an wie ihre Wohnung: „Hier gehe ich nie wieder weg, habe ich
mir gesagt.“ Auf ihrer Küchenanrichte steht ein Strauß Blumen, über dem
Sofa hängt ein modernes, sehr buntes Gemälde.
Drei Jahre nach Hoffmanns Einzug ging die Genossenschaft pleite. Die Häuser
kamen in den Besitz der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft GSW. Diese
wurde kurz darauf privatisiert, ausgerechnet unter einer rot-roten
Landesregierung. 2013 schließlich landeten die Wohnungen bei der Deutsche
Wohnen.
„Sofort im ersten Jahr hat die Deutsche Wohnen die kalten Betriebskosten
verdoppelt“, erzählt sie und breitet die entsprechenden Papiere vor sich
auf dem Holztisch aus. Bis November 2017 machte sie sich dennoch wenig
Sorgen. Dann, im November 2017, kam die Mieterhöhung. Die Nettokaltmiete
wurde um 41 Euro erhöht, zusammen mit den gestiegenen Betriebskosten zahlt
Hoffmann jetzt 115 Euro mehr im Monat.
„Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum. Das Land fördert die
Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum, insbesondere für
Menschen mit geringem Einkommen.“ So steht es in der Berliner Verfassung,
Artikel 28.
## Goldene Zeiten für die Immobilienbranche
Binnen eines Jahrzehnts haben sich die Mieten in Berlin mehr als
verdoppelt. 2008 kostete der Quadratmeter im Durchschnitt 5,60 Euro pro
Quadratmeter. Jetzt sind es fast 11 Euro. 46 Prozent ihres Einkommens geben
die Berliner heute laut Studie von Immoscout im Schnitt für ihre Miete aus.
Nur noch drei Prozent der Wohnungen werden für weniger als sechs Euro pro
Quadratmeter vermietet.
Seit 2006 ist die Deutsche Wohnen an der Börse notiert, genauso wie die
anderen großen privaten Wohnungsunternehmen auf dem Berliner Markt. Für die
Aktionäre ist die Mietenexplosion eine gute Nachricht: „Erst steigen die
Mieten, dann die Dividenden“, brachte es vor wenigen Tagen ein
Branchenblatt auf den Punkt. Goldene Zeiten für die Immobilienbranche.
1,9 Milliarden Euro Gewinn hat etwa die Deutsche Wohnen 2018 gemacht, sechs
Prozent mehr als im Vorjahr. Der Vorstandsvorsitzende heißt Michael Zahn,
ein eher unscheinbarer, freundlich aussehender Mann mit Halbglatze und
eckiger Brille. 4,3 Millionen Euro hat er im letzten Jahr verdient. Zahn
sagt von sich selbst, er sei kein Mann der Bühne. Doch seit das
Enteignungs-Bündnis so viel Wirbel verursacht, scheint er keine Wahl mehr
zu haben: Er gibt jetzt Interviews, und für nächste Woche ist bei einer
Podiumsdiskussion das erste öffentliche Aufeinandertreffen zwischen ihm und
Verfechtern der Enteignungs-Idee geplant.
Michael Zahn sagt, er verstehe nicht, was diese Enteignungspläne sollen:
„Ich kann auch bei viel Fantasie keinen Grund für Enteignungen sehen bei
einem Unternehmen, dessen Wohnungen im Schnitt 60 Quadratmeter groß sind
und für 580 Euro warm vermietet werden.“
In ziemlich genau so einer Wohnung wohnt Ingrid Hoffmann. 595 Euro warm für
65 Quadratmeter – man kann in Berlin auch deutlich mehr zahlen. Hoffmann,
die 1.100 Euro Rente bekommt, nützt das wenig. „Als die Erhöhung kam, habe
ich mir sofort einen Minijob gesucht und zum Glück auch gefunden“, sagt
sie. Für die Post tippt sie seitdem handschriftlich ausgefüllte
Überweisungsformulare ab, 12 Stunden die Woche, zum Mindestlohn.
In der DDR machte Hoffmann Karreiere als Übersetzerin. Nach der Wende wurde
sie arbeitslos, schlug sich mit Jobs durch. Als sie 2015 in Rente ging, war
sie froh, dass das vorbei war. Jetzt also der Minijob bei der Post –
vorgestellt habe sie sich ihre Rente so nicht, aber noch sei die Situation
tragbar, sagt sie. Das eigentliche Problem ist die Angst: „Was mache ich
denn, wenn die nächste Erhöhung kommt?“, sagt sie.
Bei der Mieterversammlung im Kreuzberger Gemeindesaal ein paar Tage zuvor
sitzt auch Rouzbeh Taheri im Stuhlkreis. Zumindest die ersten zwei Stunden,
dann muss er los. Taheri ist einer der Sprecher des
Enteigungs-Volksbegehrens, ein Job, der in den letzten Wochen zur
unbezahlten Vollzeitstelle geworden ist, wie er später in einem Kreuzberger
Café erzählt.
„‚Deutsche Wohnen enteignen‘, das war am Anfang eine Demoparole, ein
knackiger Spruch auf Transparenten, den niemand wörtlich genommen hat“,
sagt Taheri. „Aber wir haben dann angefangen zu überlegen: Könnte das
wirklich gehen?“ Die Aktivisten hätten Gesetzestexte gewälzt und seien
schließlich auf Artikel 15 des Grundgesetzes gestoßen: „Grund und Boden,
Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung
durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in
Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt
werden.“
## Es begann mit Kotti&Co.
„Da wussten wir, die Idee kann viel mehr sein als nur eine Parole“, sagt
Taheri. Politisch umtriebig ist er seit seiner Jugend, auch bei
verschiedenen Berliner Volksbegehren hat er schon mitgemischt. 2011 bekommt
er für seine eigene Wohnung eine Modernisierungsankündigung, er sagt, das
sei der Auslöser für ihn gewesen, sich mit Wohnungspolitik zu beschäftigen.
Es ist die Zeit, in der die stadtpolitische Bewegung in Berlin langsam an
Fahrt aufnimmt. 2012 gründen Mieter des ehemaligen sozialen Wohnungsbaus am
Kottbusser Tor die Initiative Kotti&Co, die zum Vorbild für weitere
Mieterinitiativen wird. Ein erstes Mietenvolksbegehren, das 2015 vor allem
auf die landeseigenen Wohnungsunternehmen zielt, endet mit einer Einigung
mit dem Senat, bevor es zum Volksentscheid kommt. Ein erster Erfolg, doch
schon damals ist klar: Die Mieterbewegung plant ein weiteres Volksbegehren,
und dieses Mal wird es um die privaten Unternehmen gehen.
In der Zeitung las Ingrid Hoffmann vor einem Jahr von einem Treffen einer
Kreuzberger Deutsche-Wohnen-Mieterinitiative. Aus Neugier ging sie hin,
nicht als Delegierte einer Initiative, sondern allein. „Bei mir im Haus
gibt es viel Fluktuation, das macht es schwieriger, sich gemeinsam zu
organisieren“, sagt sie.
Auf dem Treffen erfuhr sie von der berlinweiten Mietervernetzung, ging auch
dorthin. Als nach zwei Treffen eine Moderatorin für das nächste gesucht
wurde, meldete sie sich. Seitdem ist das ihre feste Aufgabe, der Rest will
das so.
## Die Wut richtet sich gegen viele
Außerdem ist sie Mitglied der Arbeitsgruppe Starthilfe, die
Mieterinitiativen Hilfestellung gibt. Dort seien außer ihr vor allem junge
Leute, sagt Hoffmann. „Das ist toll, da lerne ich sogar ganz neue Wörter“,
sagt sie und kichert: „Laberflash, das hatte ich früher noch nie gehört.“
Auch wenn kein anderes Unternehmen so im Fokus steht: Die Wut der Berliner
Mieter richtet sich längst nicht nur gegen die Deutsche Wohnen. Am Tag nach
dem Mietertreffen im Gemeindesaal gibt es einen Kilometer entfernt am
Kottbusser Tor eine ganz ähnliche Veranstaltung, nur dass es hier Mieter
des schwedischen Akelius-Konzerns sind, die sich austauschen.
Ingrid Hoffmann sitzt auch bei diesem Treffen wieder mit im Stuhlkreis. Als
die Runde der persönlichen Schilderungen vorbei ist, stellt sie das
Enteignungs-Volksbegehren vor. „Als ich das erste Mal davon gehört habe,
war ich auch skeptisch“, sagt sie. Es habe damals heftige Diskussionen
gegeben, auch unter den Mietern. „Wir haben ja auch einige bei uns aus dem
Südwesten, aus Steglitz und Zehlendorf, die sahen natürlich gleich den
Kommunismus heranrobben“, sagt sie.
Obwohl die Unterschriftensammlung für das Volksbegehren erst an diesem
Samstag beginnt, kommt die rot-rot-grüne Berliner Landesregierung an dem
Thema nicht mehr vorbei. Die Linke beschloss auf einem Parteitag im
Dezember ihre [4][Unterstützung für das Anliegen]. Die Grünen können
bislang zu keiner einheitlichen Haltung finden. Berlins Regierender
Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat sich gegen Enteignungen
ausgesprochen, doch längst nicht alle in seiner Partei finden das richtig.
Auf einem Landesparteitag am letzten Wochenende wurde die Entscheidung dazu
nach kontroverser Debatte vorsichtshalber auf November verschoben.
## Die Deutsche Wohnen fühlt sich ungerecht behandelt
SPD und Linke haben mit der Ausverkaufspolitik ihrer gemeinsamen
Regierungszeit von 2002 bis 2011 gehörig zur enormen Verschärfung auf dem
Berliner Wohnungsmarkt beigetragen. Fast 200.000 Wohnungen ehemals
kommunaler Wohnungsbaugesellschaften wurden bis Mitte der nuller Jahre in
Berlin verkauft. Viele davon gehören heute Unternehmen wie der Deutschen
Wohnen. Die ungewöhnliche Situation, dass eine Regierungspartei ihre
Unterstützung für ein Volksbegehren beschließt, hat viel damit zu tun, dass
gerade die Reputation der Linkspartei durch diesen Ausverkauf in der Stadt
gelitten hat.
„Wirtschaftsfeindlich“, nennt das Michael Zahn. Der rot-rot-grüne Senat
habe von Anfang an so getan, als brauche die Stadt die Privatwirtschaft
nicht, sagt er der taz. Überhaupt hat er für die Mietenpolitik, auch die
des Bundes, keine positiven Worte übrig. „Die Mietpreisbremse war ein
Fehler, und überhaupt ist es ein Fehler, dass wir Unternehmen an der
Entwicklung dieser Regelungen überhaupt nicht beteiligt werden. Es wird
immer nur über uns hinweg entschieden.“ Dass es bislang so viel Zuspruch
für die Enteignungspläne gibt, ist aus seiner Sicht mit einer Kampagne zu
erklären, die seit Monaten gegen sein Unternehmen gefahren werde: „Wir
werden systematisch dämonisiert.“ Wer Zahn länger zuhört, bekommt den
Eindruck: Da fühlt sich jemand zutiefst ungerecht behandelt – von den
Mietern, von den Medien, von der Politik, eigentlich von allen.
Aber ist es rechtlich überhaupt möglich, diese Unternehmen gegen ihren
Willen zu enteignen? Um diese Frage wird heftig gestritten. Denn während
Enteignungen nach Artikel 14 des Grundgesetzes häufiger vorkommen – etwa,
wenn Häuser für eine Autobahn weichen müssen oder einen neuen
Braunkohletagebau – wurde Artikel 15, also die Enteignung „zum Zwecke der
Vergesellschaftung“ in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie
angewendet. Es gibt also auch keine Urteile dazu, auf die sich Juristen
beziehen könnten.
## Als müssten hier Schuljungen zusammengefaltet werden
In Raum 4 des Bundespresseamts am Spreeufer in Berlin-Mitte ist es voll an
diesem Mittwochvormittag. Der Verband der Berliner und Brandenburger
Wohnungsunternehmen (BBU) hat zur Pressekonferenz geladen, die Tische
reichen nicht für alle Journalisten aus. Der BBU präsentiert ein Gutachten,
das der Verfassungsrechtler Helge Sodan für den Verband erarbeitet hat. Es
geht um die Frage, ob das Volksbegehren verfassungskonform ist.
Sodan beginnt seine Ausführungen mit einer langen Vorrede. Einer
Medienschelte, um genau zu sein. Dazu muss man wissen: Obwohl im BBU auch
die kommunalen und genossenschaftlichen Unternehmen Mitglied sind, tritt
der Verband hauptsächlich als Interessensvertreter der privaten Konzerne
auf. Von einem „Gefälligkeitsgutachten“ war deswegen schon im Vorfeld in
Berliner Medien die Rede, Sodan wurde als „branchennah“ bezeichnet.
Eine Charakterisierung, die der frühere Präsident des
Verfassungsgerichtshofs nun minutenlang zurückweist. Maren Kern,
Vorsitzende des BBU, schaut dabei über ihre randlose Brille so streng in
den Raum, als müssten hier gerade Schuljungen zusammengefaltet werden.
Noch interessanter ist aber, wie sich beide inhaltlich in Bezug auf das
Volksbegehren äußern. Das Vorhaben berühre „die Grundlagen unseres
Eigentumsrechts, das sich über Jahrzehnte bestens bewährt hat“, sagt Kern.
Sollte es erfolgreich sein und Schule machen, „dann haben wir ein anderes
Wirtschaftssystem als das, was 70 Jahre lang für Wohlstand in der
Bundesrepublik gesorgt hat.“
## Zwei Juristen, zwei Meinungen
Die Gegner des Volksbegehrens machen den Konflikt damit selbst zur ganz
großen Frage: Hört man ihnen zu, könnte man meinen, es gehe um die
Abschaffung des Kapitalismus. Unter den Befürwortern wird es einige geben,
denen diese Interpretation so unrecht nicht ist.
Aber hat die Idee denn juristisch gesehen überhaupt eine Chance? Nein, sagt
Helge Sodan: In Artikel 15 sei von „Grund und Boden“ die Rede, nicht von
Immobilien. Und vor allem: In der Berliner Verfassung fehle die Möglichkeit
von Enteignungen zum Zweck der Vergesellschaftung.
An einem großen Tisch im Erdgeschoss eines stattlichen Hauses im Stadtteil
Dahlem sitzt Verfassungsrechtler Christian Pestalozza, ein zierlicher Mann
in dunkelblauem Jackett mit blütenweißem Einstecktuch. Hier, im
Gründungsgebäude der Freien Universität, ist heute die juristische Fakultät
untergebracht. Helge Sodan hat sein Büro im selben Haus wie der 1938
geborene emeritierte Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, der vor
allem als Grundrechtsexperte bekannt ist.
Über eine Stunde führt Pestalozza aus, warum er anderer Meinung ist als
Sodan. Nur weil die Berliner Verfassung den Grundgesetz-Artikel nicht
wiederhole, könne man nicht argumentieren, dass dieser hier nicht gelte,
und untrennbar mit Grund und Boden verbundene Immobilien würden sehr wohl
mitenteignet werden können, sagt er unter anderem. Er kommt damit zu
ähnlichen Schlüssen wie ein vom Senat beauftragtes Kurzgutachten.
## „Schließlich gilt: Eigentum verpflichtet“
Pestalozza erklärt auch, was es mit diesem mysteriösen Artikel 15 auf sich
hat und warum der damals überhaupt ins Grundgesetz geschrieben wurde:
„Heute ist das kaum mehr vorstellbar, aber damals war es fast
selbstverständlich, dass man eine Handhabe dafür schaffen wollte, dass der
Staat auf diese wichtigen Bereiche zugreifen kann, wenn das nötig ist.“ Der
Sozialisierungsgedanke sei zwar eine sozialdemokratische Idee gewesen, für
die sich damals aber auch die CDU habe erwärmen können.
Und was soll das bedeuten, „zum Zwecke der Vergesellschaftung“? Dem Staat
sei damit die Möglichkeit gegeben zu handeln, wenn ein privater Eigentümer
seinen Pflichten gegenüber der Allgemeinheit nicht nachkomme. „Schließlich
gilt: Eigentum verpflichtet“, sagt Pestalozza und gerät kurz ins Schwärmen:
„Dieser Satz begeistert mich immer wieder. Eine Rechtsnorm, die mit nur
zwei Wörtern auskommt!“
Der Staat müsse „überindividuelle Interessen“ im Blick haben und könne, …
für deren Wahrung zu sorgen, eben auch etwas „aus dem individuellen
Eigentum herauslösen“. Angesichts der Berliner Wohnungskrise sei schwer zu
argumentieren, warum die Interessen der Aktionäre schwerer wiegen sollen
als die der Berliner Mieter.
Pestalozza ist überzeugt, dass das Vorhaben des Bündnisses einer
rechtlichen Prüfung grundsätzlich Stand halten würde. Aber selbst wenn –
würde die Enteignung nicht viel zu teuer?
## Keine Verstaatlichung, sondern Vergesellschaftung
Auch um die erwarteten Kosten wird heftig gestritten. Auf 7 bis 13
Milliarden beziffert das Volksbegehren-Bündnis die Kosten für die
Enteignung der mehr als 200.000 Wohnungen. Das Bündnis argumentiert, die
Entschädigung müsse nicht zum Marktwert geschehen, sondern könne auch weit
darunter liegen. Der Senat kommt in seiner amtlichen Kostenschätzung, in
der er von 243.000 betroffenen Wohnungen ausgeht, zwar zu einem ähnlichen
Ergebnis, geht aber davon aus, dass sich die Gesamtkosten auch bei einer
unter dem Marktwert angesetzten Entschädigung auf rund 28 Milliarden Euro
belaufen würden.
Christian Pestalozza findet die Initiative begrüßenswert: „Das ist nicht
nur Anti, da ist Gestaltungswille da, und da steckt Idealismus dahinter“,
sagt er. Und: „Das zeugt doch von einem unglaublichen Vertrauen in den
Staat, darin sollte man den Bürger bestärken.“
Auf dem Treffen der Akelius-Mieter wird genau dieses Vertrauen auch
kritisiert: „Warum soll es denn besser werden, wenn das Land jetzt wieder
die Wohnungen bekommt, die sie damals verscherbelt haben?“, fragt ein Mann,
woraufhin eine hitzige Debatte entsteht: „Genau deswegen wollen wir keine
reine Verstaatlichung, sondern eine Vergesellschaftung mit starken
Mitbestimmungsrechten für die Mieter“, sagt Ingrid Hoffmann. Einem anderen
Mann geht das nicht weit genug: „Es sollen überhaupt nur die Mieter
bestimmen können, sonst niemand.“
Sowohl Hoffmann als auch Taheri stellen sich darauf ein, dass der Wind
gegen die Enteignungspläne umso schärfer wehen wird, je mehr Erfolg sie zu
haben versprechen. „Hinter den Unternehmen, um die es hier geht, ist so
viel Geld, die haben unglaubliche Möglichkeiten zur Beeinflussung der
öffentlichen Meinungen“, sagt Taheri. „Manchmal sitze ich schon kurz da und
denke: Mit wem legen wir uns da eigentlich an?“, sagt Hoffmann.
Schon in den letzten Wochen ist der Ton deutlich rauher geworden. Der
BBU-Sprecher David Eberhart schreckte in einem vor zwei Wochen
ausgestrahlten TV-Interview selbst vor einem Nazi-Vergleich nicht zurück:
„Das muss man schon ernst nehmen, weil diese Stimmungen, wie man schon im
Dritten Reich gesehen hat, sehr schnell dann umschlagen können in reale
politische Handlungen“, sagt er dort mit Blick auf das Volksbegehren. Die
Ratingagentur Moody's drohte gar damit, die Kreditwürdigkeit Berlins herab
zu stufen, sollte das Volksbegehren Erfolg haben. Eine weitere Sorge
einiger Kritiker: Private Investoren würden abgeschreckt.
Als beim Mietertreffen im Gemeindesaal jemand das Ziel „Private Investoren
werden vom Berliner Markt zurück gedrängt“ von einer grünen Karte abliest,
brechen die Anwesenden in spontanen Jubel aus.
Bei aller Sympathie, die den Enteignungsplänen entgegen schlägt, ist auch
klar: Die Mieter werden einen langen Atem brauchen. Die konträren
Positionen zur rechtlichen Machbarkeit und zur Kostenfrage, die gespaltene
Berliner Landespolitik und die mächtigen Unternehmen, die hier attackiert
werden: All das deutet auf eine zähe Auseinandersetzung hin. Sollte es zum
Volksentscheid kommen, wird das Ergebnis wohl knapp ausfallen, und selbst
bei einem Erfolg wäre es noch ein weiter Weg bis zu einer Enteignung.
„Lebensaufgabe wäre vielleicht zu viel gesagt, aber ich gehe schon davon
aus, dass mich diese Pläne eine lange Lebensphase lang beschäftigen
werden“, sagt Taheri. „Natürlich weiß ich, dass mir das für meine eigene
Wohnung vielleicht gar nichts nützen wird“, sagt Hoffmann. „Aber ich habe
jetzt endlich das Gefühl, nicht mehr wie das Kaninchen vor der Schlange zu
sitzen, deswegen mache ich das.“
5 Apr 2019
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Malene Gürgen
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