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# taz.de -- Fahrradfahren in der Stadt: Dass ich überhaupt noch lebe!
> Der Verkehr in den Großstädten ist für Autos gemacht, nicht für
> Fahrräder. Wer trotzdem Fahrrad fährt, lebt in Angst.
Bild: Ghostbikes wie hier in Hannover markieren die Stellen, an denen Fahrradfa…
Bremen taz | Bisher hatte ich erst zwei schlimmere Fahrradunfälle: Der
erste ereignete sich, als ich vier Jahre alt und des Radfahrens bloß
mithilfe der damals bei Kinderrädern noch üblichen Stützräder mächtig war.
Ich wollte das sperrige Vierrad eine Stufe hoch wuchten, wobei sich eine
der Gummigriffe am Fahrradlenker verabschiedete, ich infolge dessen hinfiel
und mir dabei das nun freigelegte Stahlrohr ins Kinn rammte. Die Narbe ist
bis heute deutlich sichtbar.
Der zweite Unfall ereignete sich ungefähr 25 Jahre später: Ein rechts
abbiegendes Auto nahm mir die Vorfahrt und fuhr mich einfach um. Ich hatte
bis auf eine Vielzahl blauer Flecken und ein ramponiertes Rad riesiges
Glück. Aber ein Trauma ist geblieben.
Zumindest bilde ich mir ein, dass meine extrem hohe Aufmerksamkeit beim
Radfahren und mein prophylaktisches Schreien und Klingeln und Abbremsen
posttraumatische Verhaltensweisen sind. Andere RadfahrerInnen sagen mir
allerdings, mein Verhalten sei doch völlig normal – anders könne man sich
schließlich keine Aufmerksamkeit im Straßenverkehr verschaffen. Sie täten
es genauso wie ich.
Dabei lebe ich seit sieben Jahren in einer Stadt, in der RadfahrerInnen
tatsächlich gesehen und als VerkehrsteilnehmerInnen akzeptiert werden. Kein
Wunder, schließlich hat Bremen einen [1][Radverkehrsanteil von 25 Prozent],
das ist Platz eins unter den deutschen Städten mit mehr als 500.000
EinwohnerInnen. Wir sind einfach zu viele, wir können nicht übersehen
werden.
## Eine plötzlich sich öffnende Autotür
Mein täglicher Weg zur Arbeit ist dennoch alles andere als entspannt. Da
gibt es beispielsweise einen Radweg, der rechts gesäumt ist von parkenden
Autos und links von einer Bordsteinkante. Um nicht von einer sich plötzlich
öffnenden Autotür getroffen zu werden, müsste ich genügend Abstand halten
können. Kann ich aber nicht, weil ich sonst über den Bordstein auf die
Straße fahren beziehungsweise fallen würde.
Auf einem anderen Streckenabschnitt die gleiche Situation, bloß ohne
Bordstein: Hier kann ich den nötigen Abstand trotzdem nicht halten, weil
wiederum die fahrenden Autos auf der Straße ihren [2][vorgeschriebenen
Abstand von 1,50 Meter] zu mir nicht einhalten können – dafür ist ihre
Fahrspur zu eng. Sie müssten, und ja, sie müssen es per Gesetz tatsächlich,
eigentlich so lange hinter mir bleiben, bis die Gegenfahrbahn frei ist und
sie mich in angemessen großem Bogen überholen können. Bloß ist das nicht
möglich bei einer vielbefahrenen Gegenfahrbahn, die außer am Sonntag
niemals frei ist.
Auf meinem Weg zur Arbeit befahre ich außerdem zwei Radwege auf der linken
Fahrbahnseite. Die darf ich auch, das ist hochoffiziell ausgeschildert, in
der „falschen“ Richtung benutzen, weil es auf der anderen Straßenseite gar
keinen Radweg gibt.
Die Autos, die aus einer der Seitenstraßen kommen und abbiegen wollen,
scheinen das aber nicht zu wissen. Denn sie vergewissern sich bloß mit
einem Blick nach links, ob der Radweg frei ist und fahren dann einfach los.
## Die Momente, in denen ich schreie
Das sind die Momente, in denen ich schreie, denn meine Klingel wird von
Menschen in einem geschlossenen Fahrzeug oft nicht gehört. Ich tue das in
dieser Situation auch prophylaktisch; es genügt mir zu sehen, dass der
Autofahrer nicht in meine Richtung schaut. Viele reagieren freundlich
erschrocken, manche brüllen zurück. Das ist mir aber egal. Hauptsache, ich
werde nicht umgefahren.
Die restliche Strecke ist gesäumt von Seitenstraßen, die erst viel zu spät
den Blick auf die Querstraße freigeben. Schilder, Bäume, Laternen oder
parkende Autos stehen im Weg. Um zu erkennen, ob die Straße frei ist,
müssen AutofahrerInnen bis weit auf den Radweg fahren – und vergessen
dabei, dass sich hier bereits ein Weg für andere VerkehrsteilnehmerInnen
befindet. An diesen Stellen, das gebe ich zähneknirschend zu, bremse ich
meist ab. Ich müsste das nicht, denn ich habe eigentlich Vorfahrt, aber ich
tue es. Die Angst ist größer.
## Das Risiko, im toten Winkel zu landen
Auch wenn sich neben mir ein LKW befindet, der rechts abbiegen will, bremse
ich. Ich bleibe hinter ihm und lasse ihn fahren, obwohl er eigentlich
warten müsste, bis ich geradeaus an ihm vorbeigefahren bin. Das Risiko, in
seinem toten Winkel zu landen, ist mir zu groß. Die Zahl der auf diese
Weise getöteten RadfahrerInnen spricht für sich.
Meine Angst hindert mich auch daran, einfach auf der Straße zu fahren. Dass
ich das überall dort darf, wo der Radweg nicht mit einem entsprechenden
blauen Schild gekennzeichnet ist, wissen nämlich die meisten
AutofahrerInnen nicht. Und anstatt freundlich nachzufragen, pöbeln sie.
Oder hupen. Oder fahren, das habe ich auch schon erlebt, mit aufheulendem
Motor extra dicht auf.
Dabei sind viele der Radwege in Bremen in einem erbärmlichen Zustand. Sie
sind gern viel zu schmal und oft so kaputt, dass ich Angst habe, durch das
Fahren auf den Buckelpisten ein Schädel-Hirn-Trauma zu erleiden und/oder
direkt die nächste Fahrradwerkstatt ansteuern zu müssen. Im Herbst sind die
Wege gefährlich rutschig und im Winter oft nicht benutzbar, weil sie
wahlweise nicht gestreut oder vollgeschaufelt sind mit vom Bürgersteig oder
von der Straße geräumten Schnee.
Dennoch, man glaubt’s kaum, ist Bremen ein Paradies für RadfahrerInnen. Ich
weiß das, denn ich verbringe mehr als jedes zweite Wochenende in Osnabrück.
Und dort fahre ich mit dem Rad nicht bloß noch defensiver, sondern
verbotenerweise sogar manchmal auf dem Gehweg.
## Radwege, die fast glitzern
In Osnabrück gibt es allerlei neue Radwegabschnitte, die so schick sind,
dass sie fast glitzern, und die mit für BremerInnen völlig fremden
Elementen wie „protected bike lanes“ oder Blindenleitstreifen ausgestattet
sind. Sie sind allerdings erst der Beginn zahlreicher geplanter Maßnahmen,
die jahrzehntelange Versäumnisse in der Osnabrücker Radverkehrspolitik
wettmachen sollen.
Bis es soweit ist, werden noch viele, viele Jahre vergehen. Im
„Fahrradklima-Test“ des ADFC ist die Bewertung für Osnabrück seit 2012
kontinuierlich schlechter geworden; die TeilnehmerInnen erteilten der Stadt
vor zwei Jahren die [3][Note 4,2]. Das aktuelle Ergebnis wird im Frühjahr
veröffentlicht.
In Osnabrück traue ich mich an vielen Stellen nicht einmal, den Radweg zu
benutzen. Entweder brausen in einem Abstand von vielleicht gerade einmal 50
Zentimetern nicht nur Autos, sondern auch haufenweise riesenhafte LKW an
mir vorbei, oder der Radweg wird urplötzlich mitten auf die Straße geführt.
Ich nehme dann lieber den Bürgersteig und überquere die Fußgängerampel,
statt todesmutig den linken Arm auszustrecken und mehrere dicht befahrene
PKW-Spuren zu überqueren. Das ist mir zu gefährlich.
## Ausweichen auf den Bürgersteig
Zu gefährlich ist mir auch die Fahrt über jene Hauptstraße, die zwar vor
wenigen Jahren erst saniert wurde und wunderbar breite Gehwege bekam, aber
leider keine Radwege. Dort darf man nicht nur auf der Straße fahren,
sondern man muss. Und wenn’s gut läuft, überholt einen dort jedes 15. Auto
mit dem gebotenen Sicherheitsabstand. Wenn’s schlecht läuft, weiche ich auf
den Bürgersteig aus. Meine Nerven machen das sonst nicht mit.
Dass Radfahrer in Osnabrück gehasst werden, liegt aber nicht daran – wer
nicht gerade rücksichtslos rast, stößt bei vielen FußgängerInnen sogar auf
Verständnis –, sondern an einer „Freie Fahrt für freie Bürger“-Mentali…
die dort trotz aller Bemühungen noch lange nicht Geschichte ist.
So fuhr Oberbürgermeister Wolfgang Griesert (CDU) zur Eröffnung des Radwegs
„Haseuferweg“ fast schon demonstrativ mit dem Auto vor. Und im Rat sitzt
mit dem „Bund Osnabrücker Bürger“ (BOB) eine Fraktion, deren einziger
Auftrag darin zu bestehen scheint, den Niedergang des armen motorisierten
Individualverkehrs und die unkontrollierte Invasion terroristischer
Radfahrer zu beklagen.
## Ein Ghostbike an jeder Kreuzung
Wer in Osnabrück die Fahrradklingel betätigt, wird angepöbelt. Wer nicht
freiwillig auf seine Vorfahrt verzichtet, ebenfalls. Oder er wird
überfahren: Es gibt kaum eine Kreuzung in Osnabrück, an der kein
[4][Ghostbike] steht, also eines jener weißen Fahrräder, die an den
Verkehrstod eines Radfahrers erinnern. Und während andernorts mit
Betroffenheit auf den Tod eines Radfahrers reagiert wird, sagen die
Osnabrücker Autofreunde: „Naja, der hat ja auch bestimmt keinen Helm
getragen!“
Ich habe kein Auto. Ich halte den Besitz eines Autos für einen
alleinstehenden Menschen, der in einer Stadt mit kurzen Wegen, einem oder
mehreren Bahnhöfen und öffentlichem Personennahverkehr lebt, für
überflüssig.
Benutze ich doch mal eines, fällt mir aber auf, dass ich es ungleich
entspannter fahre als mein Rad. Und das, obwohl ich sehr selten Auto, aber
tagtäglich Rad fahre. Da läuft doch irgendetwas gehörig schief.
Mehr zum Leiden der Fahrradfahrer*innen und was man dagegen tun könnte
lesen Sie in der gedruckten taz am wochenende oder [5][hier].
8 Feb 2019
## LINKS
[1] https://www.bauumwelt.bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen213.c.22053.de
[2] http://www.spiegel.de/auto/aktuell/sicherheitsabstand-autofahrer-duerfen-ra…
[3] https://www.fahrradklima-test.de/karte
[4] http://itstartedwithafight.de/2017/10/22/ghost-bike-6/
[5] /!114771/
## AUTOREN
Simone Schnase
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