# taz.de -- Radeln in Rom: Dem Verkehrschaos abgetrotzt | |
> Mit der Street-Art-Künstlerin Croma durch den Hinterhof der ewigen Stadt. | |
> Zeichnen ist ihre Berufung, Rad fahren ihre Passion. | |
Bild: Auf der Piazza Navona in Rom | |
Die Tür zum Garten ist verschlossen. Croma angelt einen Schlüssel aus der | |
Hosentasche. Hinter dem Zaun steht ein altes Schulgebäude, davor zwei | |
schiefe Bäume, zwischendrin Obstkisten zum Sitzen und ein paar volle | |
Aschenbecher auf zertretenem Wiesenboden. „Wir hatten hier gestern eine | |
Versammlung“, erklärt Claudia Romagnoli alias Croma. Hier, das ist das | |
autonom verwaltete Sozialzentrum „Centocelle Aperte“ und Cromas zweites | |
Zuhause. Der Name ist ein Wortspiel und bedeutet so viel wie „hundert | |
offene Zellen“. | |
Centocelle ist eines der vielen Vorstadtviertel Roms. Es liegt im Südosten, | |
zwischen Casilina und Prenestina – zwei der großen Einfallstraßen, die | |
sternlinienförmig zur Stadtmitte führen. Die zentrale Piazza delle | |
Gardenie ist fast acht Kilometer vom Kapitol entfernt, doch danach ist die | |
Stadt längst nicht zu Ende. Dahinter liegen die Borgate Torre Maura, Torre | |
Angela, Torre Gaia und Torvergata. | |
Die Borgate sind nach dem Zweiten Weltkrieg als Barackenviertel von | |
Zuwanderern, meist aus dem Süden Italiens, entstanden. Die Erzählungen von | |
Pier Paolo Pasolini haben sie zu literarischen Schauplätzen gemacht, an | |
denen Armut und Wohnungsnot nicht nur Verzweiflung und Gewalt, sondern auch | |
eine neue urbane Vitalität hervorbringen. Seitdem ziehen immer neue | |
Immigranten zu – aus Osteuropa, Pakistan, Bangladesch und Afrika. Eine | |
Stadtbahn, eine Tramtrasse und eine neue Metrostrecke verbinden heute den | |
Stadtrand, wo statt Baracken längst Mietsilos stehen, mit dem Zentrum der | |
Denkmäler und Kirchen. Doch die Distanz ist geblieben. | |
## Anarchist auf zwei Rädern | |
„Hier lebt man anders als in den Altstadtgassen oder den bürgerlichen | |
Wohnvierteln“, sagt Croma. Ihr gefällt das Leben in Centocelle, wo Wohnen | |
noch bezahlbar ist und wo über das Straßenpflaster noch keine | |
Touristentrolleys rattern. Die Entfernung vom Zentrum ist für sie kein | |
Problem. Ihre Verbindung zur Stadt und zum Rest der Welt ist das Rad. Ihren | |
Weg pflastern Zeichnungen, Mauerbilder oder Kritzeleien, wie sie selber | |
ihre Kunst nennt. Den Begriff „Street-Art“ verwendet sie selten. | |
Eigentlich fing alles in den Kellerräumen von Centocelle Aperte an. | |
Manchmal fiel ihr an langen Diskussionsabenden über Frauenberatung oder | |
politische Aktionen für Flüchtlinge zwischen den Rauchschwaden ein Gesicht | |
auf. Dann hat sie gezeichnet. „Das Kritzeln ist meine Meditation“, erklärt | |
sie. | |
Das ist bescheiden. Denn inzwischen werden ihre Wandmalereien, Zeichnungen | |
und Porträts bestellt und bezahlt – von Geschäften, Musikern und Verlagen. | |
Eines ihrer Bilder ziert die Hausfassade von Centocelle Aperte. Über dem | |
Eingang zur Radwerkstatt pedaliert ein schnauzbärtiger Mann mit Hut, vorbei | |
an Berglandschaften und Industrieschloten. Es ist der Globetrotter Luigi | |
Masetti, der Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Rad bis Chicago kam. Lange | |
Zeit von seinen Landsleuten vergessen, wird er heute als „Anarchist auf | |
zwei Rädern“ wiederentdeckt. | |
Croma hat sich schon vor Jahren auf seine Fährte gesetzt. Sie hat mit ihrem | |
Rad erst Italien, dann Südeuropa und am Ende auch Slowenien, Ungarn, | |
Griechenland und die Türkei durchquert. Allein, eine Frau. Angst habe sie | |
nie, obwohl sie sich schon in manch lästiger Lage befand. „Es ist eine | |
Freiheit, die man sich erradelt, ob auf einer türkischen Landstraße oder | |
hier in der Stadt“, sagt sie. | |
## Keine Lobby für das Rad | |
In Rom war Fahrrad fahren vor zehn Jahren, als sie als 32-Jährige vom | |
Motorroller auf ein altes Atala-Rad umstieg, noch eine Art Hobby für | |
potenzielle Selbstmörder. „Wir waren eine Handvoll Leute und kannten uns | |
alle“, erzählt sie. Und dass es ihr bis heute Spaß macht, täglich neue Wege | |
im Blech- und Zementdschungel zu finden. Denn Radwege sind immer noch rar | |
in der Ewigen Stadt. Vor allem, je weiter man sich vom touristischen | |
Zentrum entfernt. „Die Stadtverwaltung tut nichts für Fahrradfahrer, aber | |
wir Radler fühlen uns als Teil einer politischen Veränderung“, sagt Croma. | |
Heute ist sie unterwegs zu einem Fahrradgeschäft im Zentrum, wo sie ein | |
Wandbild fertig malen möchte. In Centocelle, an der Piazzale delle Gardenie | |
– wo sich morgens Gruppen von Roma-Kindern sammeln, die in die Stadt zum | |
Betteln geschickt werden – könnte sie mit ihrem Rad in die U-Bahn | |
einsteigen. Das ist jetzt erlaubt. Doch sie bleibt lieber im Freien, trotz | |
der dicken Wolken. Die Piazza ist eingeschlossen von Wohnblöcken. Sie sind | |
nicht schön, aber auch nicht so hoch, dass man keinen Himmel mehr sieht wie | |
in anderen Vorstadtvierteln. | |
In Centocelle gibt es einen Militärflughafen. Deshalb durfte und darf dort | |
nicht hoch gebaut werden. Um das Flugareal herum entstanden zu Beginn des | |
20. Jahrhunderts für die Militärangehörigen Häuschen mit Garten. Wer heute | |
darin wohnt, kann sich glücklich schätzen. Das tut auch Charito Basa. Sie | |
ist vor 32 Jahren von den Philippinen gekommen und engagiert sich in der | |
internationalen Bewegung der Hausangestellten. Ihr Stück Boden hat sie in | |
ein kleines Tropenparadies verwandelt. „Das könnte ich mir sonst nirgends | |
in Rom leisten“, erklärt sie. | |
Auch für Croma sind die Grünflächen im Viertel ein besonderer Luxus. Der | |
sogenannte Parco Archeologico von Centocelle gehört zu den größten Parks | |
der Stadt. Unter den 120 Hektar Parkfläche und dem angrenzenden Areal | |
wurden sieben Villen aus altrömischer Zeit entdeckt, doch nur ein geringer | |
Teil wurde ausgegraben. „Wir hätten hier die zweiten Fori Imperiali, wenn | |
das alles ans Licht kommen würde“, erzählt sie und klingt dabei ein wenig | |
stolz. | |
## Linke politische Traditon | |
Auf dem Weg ins Zentrum macht sie heute einen Schlenker zum Tagesmarkt auf | |
der Piazza delle Iris. Sie radelt ein kurzes Stück auf der Via Tor de | |
Schiavi, die Pasolini in seinem Roman „Ragazzi di Vita“ zitiert, bevor sie | |
rechts auf der Via delle Acacie zum Markt abbiegt. Auch auf einer Wand der | |
Markthalle hat Croma ihre Spur hinterlassen. Auf dem Bild fährt eine Frau | |
davon auf dem Rad. „Nessuno mi prende“, „Niemand bekommt mich zu fassen�… | |
heißt es in roten Lettern, die eine Art Bildrahmen darstellen. Ein | |
Selbstporträt? „Ja, schon“, sagt Croma. Allerdings trägt die Radlerin auf | |
dem Bild eine Kapuze statt weißblonder Stoppelhaare. Doch die schwarze, | |
schmale Sonnenbrille – die Croma selten ablegt – verrät, wer unter der | |
Kapuze steckt. | |
Drinnen in der Markthalle bekommt man Obst und Gemüse aus der Region. Viele | |
Verkäufer sind noch Selbsterzeuger. Sie stehen seit vielen Jahr hier und | |
kennen ihre Kunden. „Es geht hier zu wie auf dem Dorf, wo ich aufgewachsen | |
bin“, sagt Croma. Auch sie sei eingewandert, wie fast alle hier. Sie kommt | |
aus Campobasso in der Region Molise. Zuerst hat sie an der Uni in Rom | |
Literatur, dann Erziehungswissenschaften studiert. Seit sie vor drei Jahren | |
ihren prekären Job als Lehrerin verloren hat, jobbt sie als Kellnerin – und | |
hat mehr Zeit für Kunst und Rad. | |
Dieses bugsiert sie jetzt in Richtung Casalina, auf ihrer Hauptrennstrecke | |
in Richtung Stadt. Sie radelt auf der Fahrbahn neben den Autos. Ihr Weg | |
führt durch das Viertel Tor Pignattara, absolutes Pflichtprogramm für | |
Street-Art-Touristen. Biegt man links von der Casilina ab in die Via | |
Filarete, stößt man nach wenigen Minuten auf die Via Galeazzo Alessi. | |
Auf der Wand des Hauses Nummer 215 hat Nicola Verlato eines der | |
berühmtesten Murales Roms in der Technik der alten italienischen Meister | |
gemalt. Deshalb wird es auch die „Sixtinische Kapelle von Tor Pignattara“ | |
genannt. Das Bild zeigt eine Allegorie des Todes von Pasolini, der kopfüber | |
in die Tiefe fällt. | |
Der Dichter kannte die Straßen hier im Borgo Certosa gut. Er beschrieb sie | |
als „Schanghai der Gemüsegärten, Gassen, Metallzäune, Hütten, Häuserlüc… | |
und Wasserlachen“. Aus den unkontrolliert gebauten Baracken der | |
Nachkriegszeit sind heute bunte Häuschen geworden, die der angrenzenden Via | |
Savorgnan einen gewissen Schrebergartencharme verleihen. In Kneipen wie dem | |
Chourmo trifft sich die Szene der Stadt mit Leuten aus dem Viertel. | |
Die Bewohner von Certosa halten viel auf ihre linke politische Tradition | |
und die Integration von neuen Zuwanderern, die hier leichter Unterkunft | |
finden als anderswo in Rom. Jedes Jahr Anfang Mai feiert der Borgo seinen | |
Helden Ciro Principessa, der ebenfalls als enormes Mauerbild auf einem Haus | |
am Largo Savorgnan verewigt wurde. | |
Er war ein junger Einwanderer aus dem Süden, der hier in der Bibliothek der | |
KPI arbeitete. 1979, in der bleiernen Zeit der italienischen Politik, wurde | |
er von einem Faschisten erstochen, als er ein gestohlenes Buch | |
zurückverlangte. Croma und ihre Freundinnen und Freunde von Centocelle | |
Aperte feiern den Helden von Certosa jedes Jahr mit. | |
Die Gentrifizierung – also Verstädterung bei steigenden Mieten und neuen | |
kommerziellen Aktivitäten wie Bars und Szeneläden – hält sich in Tor | |
Pignattara noch in Grenzen. Im Viertel Pigneto, auf der anderen Seite der | |
Casilina, ist sie hingegen in vollem Gang. Aus der zentralen Via del | |
Pigneto ist eine Vergnügungsmeile gewordene. Auch der Drogenhandel | |
floriert, die Handlanger der Mafiaorganisationen rekrutieren vor allem | |
junge, afrikanische Immigranten als Dealer. Wie andere Denkmäler und Plätze | |
in Rom, wo Massenandrang herrscht, wird die Kneipenstraße am Wochende von | |
bewaffneten Soldaten abgesperrt und kontrolliert. | |
Im Pigneto macht die Radlerin Croma in dem Lokal Lo Yeti einen | |
Zwischenstopp. Hier kann man an lauen Sommerabenden unter Weinreben sitzen | |
und zu allen Jahreszeiten in einer Leseecke im dazugehörenden Buchladen. | |
Doch heute muss es schnell gehen. Sie tauscht nur ein kurzes „Ciao, come | |
stai?“ mit Wirt Maurizio aus, der selten seine Schürze ablegt und sich mal | |
wieder über die Militärs am Ende der Straße ärgert. Croma bringt ihm ein | |
paar Exemplare des Buchs „Un marziano a Roma“ („Ein Marsmensch in Rom“) | |
vorbei, für das auch sie eine Bildergeschichte gezeichnet hat. | |
Viel Zeit hat sie jetzt nicht mehr. In einer Viertelstunde muss sie fast | |
bis zum Kolosseum radeln. Das schafft sie nur, wenn sie über die Via | |
Prenestina fährt und an der Porta Maggiore durch die Stadtmauer fährt. | |
Hier staut sich der Verkehr von allen Seiten. Jetzt muss sie fest in die | |
Pedale treten. Die letzte Touretappe führt direkt in den Bauch der Stadt: | |
vorbei an den Aposteln des Laterans und am Suk der Piazza Vittorio. | |
Nahe dem Bahnhof Termini biegt sie ein in die breite Via Cavour und von | |
dort rechts in die Via Urbana, wo der Radhändler und ein unfertiges | |
Wandbild auf sie warten. Aus dem Viertel Monti, der einstigen Subura der | |
Tagelöhner und Kleinkriminellen, ist heute ein In-Viertel mit Lounge-Bars | |
und Vintageläden geworden. Touristengruppen drücken sich durch die Straße. | |
Croma muss absteigen und das Rad bis zum Geschäft schieben. „Hier bin ich | |
der Marsmensch aus Centocelle“, sagt sie und zwinkert. Dann fällt die | |
Ladentür hinter ihr zu. | |
13 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Michaela Namuth | |
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