| # taz.de -- 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini: Vorliebe für Unpoliertes | |
| > Am 5. März wäre Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt geworden. Heute | |
| > befremdet der italienische Filmemacher noch mehr als zu Lebzeiten. | |
| Bild: Enttäuschte gern nach allen Seiten hin: Pier Paolo Pasolini an seinem Sc… | |
| Man könnte sicher ein Wettspiel daraus machen: Wie lange braucht ein | |
| Jubiläumsartikel, um zur obligatorischen Erklärung zu gelangen, der oder | |
| die Jubilarin sei „immer noch aktuell“, oder, vielleicht noch besser: | |
| „aktuell wie nie“? In unseren aktuellen, stets den streitbaren Take | |
| bevorzugenden Zeiten besteht das noch größere Lob oft darin zu behaupten, | |
| dass er oder sie heute bestimmt gecancelt würde. | |
| Über Pier Paolo Pasolini lässt sich beides mit verdächtiger Leichtigkeit | |
| sagen: Ja, es findet sich in seinen Schriften und Filmen ungeheuer viel, an | |
| das man anknüpfen kann, von der Kritik am Konsumismus bis zu seinem | |
| Interesse am Unverbrauchten und Archaischen. Und genauso findet sich | |
| einiges, an dem man Anstoß nehmen würde, angefangen bei der Frage, ob | |
| seinem Blick auf dieses Archaische nicht doch auch etwas Ausbeuterisches | |
| anhaftet. Von den schwierigeren und spekulativeren Fragen nach seinem | |
| Umgang mit den jungen Männern des Strichermilieus, in dem er 1975 ermordet | |
| wurde, ganz zu schwiegen. | |
| Man nehme seine [1][Bibelverfilmung „Il vangelo secondo Matteo“ (1964)]. | |
| Der Film hält sich eng an den Text des Evangeliums. Weder gibt es hier | |
| kunstvolle Rekonstruktionen alter Gemäuer noch einen besonderen | |
| Kameratrick, der die alte Geschichte unseren Sehgewohnheiten anpasst. | |
| Stattdessen fand Pasolini in den kargen Agrarlandschaften und den | |
| heruntergekommenen Dörfern Süditaliens Schauplätze und Gesichter, die die | |
| Jesusgeschichte historisch stimmig erscheinen lassen. | |
| Sie wirken nicht nur deshalb authentisch, weil sie in unsere moderne | |
| Vorstellung des besagten Archaischen passen. In ihrer Randständigkeit und | |
| Verwahrlosung bilden Orte und Laiendarsteller eine Gesellschaft ab, in der | |
| die kulturrevolutionären Thesen Christi auch nach 2.000 Jahren auf fast | |
| gefährliche Weise widerhallen. | |
| Pasolinis Vorliebe für die unpolierte Schönheit von Laiengesichtern | |
| verleiht dem Film gar eine eigene Spiritualität: Da ist das Leuchten in den | |
| Augen von Josef, das tiefe Leid in denen der älteren Maria (gespielt von | |
| Pasolinis eigener Mutter Susanna), der strenge Stolz Johannes des Täufers – | |
| ihre Gesichter füllen die Leinwand und beleben die Überlieferung mit der | |
| kollektiven Kraft eines Passionsspiels. | |
| ## Weltweiter Einfluss | |
| Diese Art der direkten Volkstümlichkeit findet sich in vielen | |
| Pasolini-Filmen; in ihren stärksten Momenten erfüllen sie das Ideal einer | |
| „populären Kunst“, die sich nicht von oben herab anbiedert, sondern aus dem | |
| Gegensatz von volkstümlicher und Hochkultur Bilder von erhabener Schönheit | |
| und zugleich ätzender Kritik am Bestehenden schafft. | |
| Diese populäre Ästhetik Pasolinis hatte Einfluss weit über Italien hinaus. | |
| So lassen sich in den auf der Straße herumlungernden, scherzenden | |
| Kleinkriminellen aus „Accattone“ (1961) unschwer die Vorbilder der | |
| großmäulig-kleinmütigen Helden von Martin Scorseses Filmen erkennen. | |
| Statt Pasolinis fortdauernde Aktualität zu behaupten, ist es vielleicht | |
| besser, darauf hinzuweisen, dass seine Filme heute oft noch mehr befremden, | |
| als sie es zu ihrer Zeit schon taten. Jede Etikettierung oder Einordnung, | |
| sei es als „Arthouse“ oder Neorealismus, verdeckt mehr, als sie auf den | |
| Punkt bringt. Brachte doch Pasolini Realismus und Poesie, Volkstümlichkeit | |
| und Intellektualität ganz mühelos zusammen. | |
| ## Undogmatischer Kommunist | |
| Gleichzeitig enttäuschte er gern nach allen Seiten hin: Für einen | |
| Kommunisten war er zu undogmatisch, für einen Poeten irritierend sachlich, | |
| und für einen so explizit politisch denkenden Menschen für viele zu wenig | |
| aktivistisch. | |
| [2][Zentral für Pasolinis Kritik an Kapitalismus und Konsumgesellschaft war | |
| die Klage über das Verschwinden des Besonderen und Widerständigen], von dem | |
| er glaubte, es habe sich bei den Armen, Marginalisierten und Entrechteten | |
| länger bewahrt als in der homogenisierten Mittelklasse. Während die Kritik | |
| als solche gerne zitiert wird, hat der zweite Schritt, Pasolinis zur | |
| Überhöhung neigende Verehrung des „Subproletariats“, in der Gegenwart an | |
| Popularität deutlich verloren. | |
| Ähnliches gilt auch für seine Reflexionen über Liebe und Leidenschaft, wie | |
| sie sich in Filmen wie „Medea“, „Il Decamerone“, „Teorema“ oder auc… | |
| Dokumentarfilm „Comizi d’amore“ niedergeschlagen haben. Zur Entstehungsze… | |
| sah man sie als Kritik am katholischen Gebot der Erbsünde und feierte sie | |
| als Befreiung aus dem Korsett einer bigotten, konservativen Moral. Über 50 | |
| Jahre später sind uns die Bereiche Sex, Lust und Begehren auf eine Weise | |
| verdächtig geworden, für die Pasolini noch sichtlich kein Auge hat – was | |
| die Filme aber umso faszinierender macht. | |
| Das Etikett des Unzeitgemäßen, wenn nicht gar Querliegenden hätte sich | |
| Pasolini selbst sicher lieber angeheftet als das des Zeitlos-Aktuellen. Er | |
| hatte ein durchaus positives Verhältnis zum Skandal: Ihn auszulösen sei ein | |
| Recht, ihn zu erleben eine Lust und wer ihn ablehne, sei ein Moralist – so | |
| ungefähr lautet eines seiner beliebtesten Zitate. In diesem Sinne liegt die | |
| größere Gefahr darin, Pasolinis Werke als abgehobene Kunst-Heiligtümer zu | |
| betrachten. Besser ist es, in ihnen weiter den Skandal zu suchen. | |
| 4 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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